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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Viel Wissenswertes über das ehemalige Jugoslawien - und eine alte falsche Legende
Seit mehr als drei Jahrzehnten befasst sich der in Graz lebende Publizist Norbert Mappes-Niediek mit Südosteuropa. In seinem neuesten Buch rekonstruiert er Ursachen und Verlauf der jugoslawischen Zerfallskriege in den Neunzigerjahren. Das gelingt ihm souverän, wenn auch nicht immer widerspruchsfrei. Interessant ist dieses Buch nicht nur für Fachleute, sondern auch für ein allgemeines Publikum. Mappes-Niediek schreibt unaufgeregt und schnörkellos. Er will sein großes Wissen vermitteln, nicht damit protzen. Dass seine Kenntnisse nicht nur angelesen sind, sondern auch auf Augenzeugenschaft beruhen, merkt man dem Text immer wieder an. So gelingt es Mappes-Niediek in deskriptiven Miniaturen, Stimmungen und Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Zur Atmosphäre im späten, kurz vor dem Zerfall stehenden Jugoslawien etwa schreibt er: "Alle hatten Angst voreinander. Wenngleich die meisten ihre Zugehörigkeit zu dieser oder jener Volksgruppe nicht wichtig nahmen, fürchteten sie sich doch - und nicht ohne Grund - vor den Extremisten der je anderen Gruppe." Zum serbischen Autokraten Slobodan Milosevic zitiert der Autor den treffenden Ausspruch eines Belgrader Kommentators: "Sein Geheimnis war, den Nationalisten das Gefühl zu geben, er sei im Grunde kein richtiger Kommunist. Zugleich hat er die Kommunisten erfolgreich glauben gemacht, er sei nicht wirklich ein Nationalist." In einem klugen, sich über drei Seiten ziehenden Milosevic-Porträt dieses Buches steckt im Grunde der Keim für ein weiteres, denn eine gute Biographie dieses serbischen Gewaltherrschers gibt es noch nicht.
Kleinere sachliche Fehler fallen wohl nur deshalb auf, weil sie dem Autor so selten unterlaufen. Dass Jugoslawiens letzter Verteidigungsminister Veljko Kadijevic ein Spanienkämpfer gewesen sei, dürfte kaum zutreffen, denn er war 13 Jahre jung, als der spanische Bürgerkrieg endete. Es gibt noch einige weitere kleine Ungenauigkeiten, aber es wäre beckmesserisch, sie hier aufzuzählen, denn keiner davon stellt die Stimmigkeit des großen Bildes in Frage, das Mappes-Niediek zeichnet.
Einen Aspekt in diesem Buch gibt es aber, der zu grundsätzlichem Widerspruch reizt. Leider bedient auch Mappes-Niediek zumindest indirekt die Legende, Deutschland trage durch die Führungsrolle bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens 1991 eine Mitschuld, wenn nicht am Zerfall Jugoslawiens, so zumindest am Übergreifen des Krieges auf Bosnien. Zumindest lässt sich seine Deutung so lesen. Das Kapitel "Die Anerkennung: Ein ratloser Kontinent, ein wild entschlossenes Deutschland" gibt die Tendenz schon im Titel vor. Wenn es dort heißt, "das offizielle Bonn" sei lange "stumm geblieben", während die damalige Europäische Gemeinschaft "ihre Appelle an die Jugoslawen richtete, doch bitte zusammenzubleiben", wird das dem sonst hohen Niveau des Buches nicht gerecht. Viele öffentliche Aussagen und Appelle Genschers aus dieser Zeit belegen das Gegenteil ebenso wie interne Korrespondenz aus dem Auswärtigen Amt. Mappes-Niediek behauptet dagegen, "hinter den Kulissen" sei in Bonn anders geredet worden. Er führt als Beleg ein Dokument des Planungsstabs an, in dem schon im Mai 1991 argumentiert wurde, Deutschland solle sich Grenzveränderungen im östlichen Europa "nicht kategorisch entgegenstellen", da Jugoslawien ohnehin nicht bestehen bleiben werde. Abgesehen davon, dass die Annahme von Jugoslawiens drohendem Zerfall 1991 nicht nur in Bonn kursierte und eher eine Zustandsbeschreibung als die Formulierung eines politischen Auftrags gewesen sein dürfte, unterläuft der Autor an dieser Stelle seine eigene Argumentation. Nicht nur hebt er zutreffend hervor, dass der Planungsstab des Auswärtigen Amts eine "hausinterne Denkfabrik" ist, eine Institution also, in der bewusst losgelöst von den Zwängen der Tagesarbeit unkonventionell gedacht werden soll, ohne dass sich daraus tagespolitische Handlungsanleitungen ableiten ließen. Wichtiger ist, dass Mappes-Niediek treffend schreibt, es handele sich bei seinem vermeintlichen Beweismittel um ein "skurriles Dreizehn-Seiten-Papier", das nie veröffentlicht wurde. Skurril - also sonderbar, absonderlich oder auf befremdende Weise eigenwillig - wirkt das Papier im Vergleich zu vielen anderen amtsinternen Schriftstücken im Archiv des Auswärtigen Amtes aus der gleichen Zeit tatsächlich. Denn eine Fülle von dort verwahrten Akten belegt, dass die Bundesregierung in der ersten Jahreshälfte 1991 noch strikt am Erhalt Jugoslawiens festhielt und auch danach nur sehr vorsichtig und abwägend den Kurs änderte, obschon Deutschland gegen Jahresende dann tatsächlich die treibende Kraft hinter der internationalen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens war.
Zu diesem Zeitpunkt wurde der Angriff auf Bosnien von serbischer Seite längst vorbereitet. Das belegen zahlreiche Zeugenaussagen und andere Dokumente im Archiv des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien. Ist also die Annahme plausibel, es wäre nicht zu einem Krieg in Bosnien gekommen, wäre die unvermeidliche Anerkennung Kroatiens und Sloweniens um zwei, fünf oder noch einige Monate mehr aufgeschoben worden? Hätten Männer wie Milosevic oder die späteren Kriegsverbrecher Radovan Karadzic oder Ratko Mladic ihre Pläne aufgegeben, hätte man Slowenien und Kroatien die Unabhängigkeit noch für eine Weile verwehrt? Hätte die Staatengemeinschaft, die dem Blutvergießen in Bosnien bis 1995 über Jahre hinweg ohne ein maßgebliches Eingreifen zuschaute, entschiedener interveniert, wenn die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens 1991 aufgeschoben worden wäre, beispielsweise auf Mitte oder Ende 1992? Mappes-Niediek gibt die Antwort selbst: "Am 9. Januar 1992 erklärte das 'Parlament des serbischen Volkes' seinerseits seine Unabhängigkeit von Bosnien. Für den Krieg war schon alles vorbereitet." Widerspruchsfrei ist dieses Buch nicht, aber lesenswert allemal. MICHAEL MARTENS
Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent.
Rowohlt Verlag, Berlin 2022. 400 S., 32,- Euro.
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