Mit seinem Buch über die Folgen des Ersten Weltkriegs für Europa wurde John Maynard Keynes über Nacht ein berühmter Mann. Niemand hat prophetischer analysiert, warum der Vertrag von Versailles einen neuen Krieg und bis heute schwelende politische Konflikte auslösen konnte. Keynes' glänzend geschriebene Polemik, von Joachim Kalka neu übersetzt, enthält die Darstellung der nie wieder erlangten Höhe von Europas Reichtum vor 1914 und den Ausblick auf die wenig hoffnungsvolle Nachkriegszeit. Kein anderer hat so anschaulich und mit analytischem Spott beschrieben, wie 1919 der Frieden verspielt und Europa unabsehbarer Schaden zugefügt wurde. »Die sprichwörtliche Rede, wonach es leicht sei, einen Krieg zu beginnen, aber schwierig, einen gerechten Frieden zu stiften, bewahrheitet sich an wenigen Friedensschlüssen so wie am Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919. Seit fast hundert Jahren ist Keynes' Kommentar dazu von ungebrochener Aktualität.« Rudolf Walther, Süddeutsche Zeitung »Keynes ist nicht nur ein grandioser Ökonom und ein spannender Zeitzeuge gewesen, sondern auch ein großartiger Schriftsteller.« Caspar Dohmen, Deutschlandfunk
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014Wie Europas Fundament beschädigt wurde
In Schulden verstrickt: John Maynard Keynes' berühmte Schrift über den Versailler Vertrag liegt in einer unvollständigen Neuausgabe vor. Die Lektüre dieses Klassikers lohnt sich trotzdem.
Von Werner Plumpe
Im vorliegenden Band findet sich eine Auswahl von Kapiteln aus John Maynard Keynes' lange Zeit berühmtester Schrift, der 1919 verfassten Betrachtung über die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages, an dessen Zustandekommen Keynes selbst einige Zeit als Angehöriger der britischen Delegation beteiligt war. Das Buch wurde rasch in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bereits 1920 lag eine deutsche Ausgabe vor, deren Druck Keynes selbst finanziert hatte.
Dies entsprach keiner besonderen Neigung zum Land des Kriegsgegners, wie sich die Herausgeberin Dorothea Hauser beeilt zu erklären; Keynes finanzierte weitere nichtenglische Ausgaben aus eigener Tasche. Auch wenn der Text in Deutschland geradezu euphorisch aufgenommen wurde, war es in der Tat nicht Keynes' Absicht, die deutsche Seite zu rehabilitieren, sondern darauf hinzuweisen, dass die Regelungen des Vertrages einen friedlichen und wirtschaftlich erfolgreichen Wiederaufbau Europas ausschlossen.
Um diesen aber ging es Keynes, dessen Studie daher auch viel mehr ist als nur eine zornige Kritik an den Verhandlungen und den Rigiditäten der Verhandlungspartner, wie der Übersetzer Joachim Kalka in seiner Notiz insinuiert. Hier schreibt keineswegs ein von "Trockenheit und unruhigem Zorn" geprägter beziehungsweise "vor Ungeduld vergehender Mann" ein "Pamphlet"; Keynes betrachtet vielmehr die ökonomische Realität der europäischen Welt der Zeit nach dem Weltkrieg und beurteilt einerseits die Wirkung eines von politischem Zerstörungswillen bestimmten Vertragswerkes und diskutiert andererseits die Möglichkeit eines friedlichen Wiederaufbaus, der nur in einer Revision des Versailler Diktates bestehen konnte.
Sollte es zu dieser Revision nicht kommen, sieht Keynes für die europäische Wirtschaft und in der Folge für die politische Situation in Europa schwarz. Eine kluge Voraussicht, die noch dadurch an Überzeugungskraft gewinnt, dass Keynes' Alternativvorschläge im Kern jene Bestimmungen vorwegnehmen, die nach 1945 den erfolgreichen Wiederaufbau zumindest des westlichen Teils des Kontinents ermöglichten. Im Zentrums des Problems 1918/19 stand nach Keynes' Wahrnehmung die Unfähigkeit der alliierten Regierungen, namentlich des Rates der vier (Minister-)Präsidenten von Frankreich, Großbritannien, Italien und den Vereinigten Staaten, eine Friedenslösung zu erreichen, wie sie auf der Basis der Wilsonschen vierzehn Punkte der deutschen Seite als Voraussetzung und Bedingung dafür, dass sie die Waffen niederlegte, zugesagt worden war. Im Bruch der eigentlichen Basis der Waffenstillstandsregelung sieht Keynes den Kardinalfehler der Nachkriegsregelungen.
Dieser Bruch war zwar aus französischer Sicht angesichts der potentiellen Gefahr aus dem Osten nachvollziehbar, doch war Clemenceaus Wille zur Durchsetzung eines kathargischen Friedens eben alles andere als vielversprechend. Lloyd George ließ sich darauf ein, weil er im Überschwang des Sieges für den Winter 1918 Parlamentswahlen angesetzt hatte und nun zum Getriebenen der antideutschen Stimmung in der englischen Öffentlichkeit wurde, was Keynes mit erkennbarem Widerwillen schildert. Woodrow Wilson hingegen findet nicht einmal die Gnade derartiger Kritik; ihn hält Keynes für einen überforderten Moralisten.
Keynes ist dabei weit davon entfernt, die harte deutsche Kriegsführung als Ursache der Probleme zu vergessen. Ihm geht es allein darum zu begreifen, warum Argumente ökonomischer Vernunft in Versailles keine Chance hatten. Denn sein eigentliches Argument besagt, dass die Beschlüsse in Versailles, die auf eine harte Behandlung Deutschlands und eine unbegrenzten Reparationspflicht hinausliefen, das ökonomische Fundament Europas, das gerade in seiner engen Verflochtenheit und Arbeitsteilung bestand, so beschädigten, dass an einen erfolgreichen Wiederaufbau nicht zu denken war.
Stattdessen gab es nun eine Vielzahl hasserfüllt ineinander verkämpfter Staaten, deren Schuldverpflichtungen einen friedlichen Ausgleich ausschlossen. Da die amerikanische Seite auf der Bezahlung der von ihr kreditierten Lieferungen an die Alliierten bestand, war das Problem der Reparationen Deutschlands mit dem der interalliierten Schulden in einer Weise verknüpft, dass Staaten wie Frankreich und Italien, wollten sie nicht in die Zahlungsunfähigkeit rutschen, auf hohen Reparationen bestehen mussten, die Deutschland angesichts unzugänglicher Weltmärkte aber nur bei drastischer Verarmung hätte aufbringen können. Allein amerikanische Großzügigkeit und die Bereitschaft der europäischen Staaten zu weitreichender Kooperation hätten einen Ausweg geboten. Stattdessen kam es zu einer politisch verminten Verschuldungskonstellation, die schließlich maßgeblich zum Zusammenbruch der Weltfinanzbeziehungen in der Krise nach 1929 beitrug.
Beim vorliegenden Band handelt es sich nur sehr beschränkt um eine Neuausgabe. Schon 2006 erschien eine von Dorothea Hauser herausgegebene identische Auswahl. Dass die Herausgeberin sich nun auf die markantesten Textstellen konzentriert und längere Sacherläuterungen von Keynes gekürzt hat, ist angesichts der Tatsache, dass der vollständige Text leicht zu bekommen ist, hinnehmbar. Warum eine Neuübersetzung sein musste, ist hingegen nicht ersichtlich.
Die Einleitung selbst ist zwischen der Faszination durch den hellsichtigen Text und der Tatsache, dass er hart mit der alliierten Politik ins Gericht geht, hin- und hergerissen. Ist es der Herausgeberin doch ein Anliegen, Frankreich in einem milderen Licht darzustellen, und den Eindruck, Deutschlands Kritik am Vertrag könnte möglicherweise gerechtfertigt erscheinen, zurückzuweisen. Das mag man so sehen, doch ist der Text selbst eindeutig: Der Versailler Vertrag war deshalb ein Fehler, weil er die Grundlagen der ökonomischen Kooperation missachtete und stattdessen ein Schuldennetz wob, in dem sich die Akteure schließlich heillos verstrickten. Das gibt auch für die Gegenwart zu denken.
John Maynard Keynes: "Krieg und Frieden". Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrages von Versailles. Aus dem Englischen von Joachim Kalka; Hrsg. von Dorothea Hauser. Berenberg Verlag, Berlin 2014. 159 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Schulden verstrickt: John Maynard Keynes' berühmte Schrift über den Versailler Vertrag liegt in einer unvollständigen Neuausgabe vor. Die Lektüre dieses Klassikers lohnt sich trotzdem.
Von Werner Plumpe
Im vorliegenden Band findet sich eine Auswahl von Kapiteln aus John Maynard Keynes' lange Zeit berühmtester Schrift, der 1919 verfassten Betrachtung über die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages, an dessen Zustandekommen Keynes selbst einige Zeit als Angehöriger der britischen Delegation beteiligt war. Das Buch wurde rasch in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bereits 1920 lag eine deutsche Ausgabe vor, deren Druck Keynes selbst finanziert hatte.
Dies entsprach keiner besonderen Neigung zum Land des Kriegsgegners, wie sich die Herausgeberin Dorothea Hauser beeilt zu erklären; Keynes finanzierte weitere nichtenglische Ausgaben aus eigener Tasche. Auch wenn der Text in Deutschland geradezu euphorisch aufgenommen wurde, war es in der Tat nicht Keynes' Absicht, die deutsche Seite zu rehabilitieren, sondern darauf hinzuweisen, dass die Regelungen des Vertrages einen friedlichen und wirtschaftlich erfolgreichen Wiederaufbau Europas ausschlossen.
Um diesen aber ging es Keynes, dessen Studie daher auch viel mehr ist als nur eine zornige Kritik an den Verhandlungen und den Rigiditäten der Verhandlungspartner, wie der Übersetzer Joachim Kalka in seiner Notiz insinuiert. Hier schreibt keineswegs ein von "Trockenheit und unruhigem Zorn" geprägter beziehungsweise "vor Ungeduld vergehender Mann" ein "Pamphlet"; Keynes betrachtet vielmehr die ökonomische Realität der europäischen Welt der Zeit nach dem Weltkrieg und beurteilt einerseits die Wirkung eines von politischem Zerstörungswillen bestimmten Vertragswerkes und diskutiert andererseits die Möglichkeit eines friedlichen Wiederaufbaus, der nur in einer Revision des Versailler Diktates bestehen konnte.
Sollte es zu dieser Revision nicht kommen, sieht Keynes für die europäische Wirtschaft und in der Folge für die politische Situation in Europa schwarz. Eine kluge Voraussicht, die noch dadurch an Überzeugungskraft gewinnt, dass Keynes' Alternativvorschläge im Kern jene Bestimmungen vorwegnehmen, die nach 1945 den erfolgreichen Wiederaufbau zumindest des westlichen Teils des Kontinents ermöglichten. Im Zentrums des Problems 1918/19 stand nach Keynes' Wahrnehmung die Unfähigkeit der alliierten Regierungen, namentlich des Rates der vier (Minister-)Präsidenten von Frankreich, Großbritannien, Italien und den Vereinigten Staaten, eine Friedenslösung zu erreichen, wie sie auf der Basis der Wilsonschen vierzehn Punkte der deutschen Seite als Voraussetzung und Bedingung dafür, dass sie die Waffen niederlegte, zugesagt worden war. Im Bruch der eigentlichen Basis der Waffenstillstandsregelung sieht Keynes den Kardinalfehler der Nachkriegsregelungen.
Dieser Bruch war zwar aus französischer Sicht angesichts der potentiellen Gefahr aus dem Osten nachvollziehbar, doch war Clemenceaus Wille zur Durchsetzung eines kathargischen Friedens eben alles andere als vielversprechend. Lloyd George ließ sich darauf ein, weil er im Überschwang des Sieges für den Winter 1918 Parlamentswahlen angesetzt hatte und nun zum Getriebenen der antideutschen Stimmung in der englischen Öffentlichkeit wurde, was Keynes mit erkennbarem Widerwillen schildert. Woodrow Wilson hingegen findet nicht einmal die Gnade derartiger Kritik; ihn hält Keynes für einen überforderten Moralisten.
Keynes ist dabei weit davon entfernt, die harte deutsche Kriegsführung als Ursache der Probleme zu vergessen. Ihm geht es allein darum zu begreifen, warum Argumente ökonomischer Vernunft in Versailles keine Chance hatten. Denn sein eigentliches Argument besagt, dass die Beschlüsse in Versailles, die auf eine harte Behandlung Deutschlands und eine unbegrenzten Reparationspflicht hinausliefen, das ökonomische Fundament Europas, das gerade in seiner engen Verflochtenheit und Arbeitsteilung bestand, so beschädigten, dass an einen erfolgreichen Wiederaufbau nicht zu denken war.
Stattdessen gab es nun eine Vielzahl hasserfüllt ineinander verkämpfter Staaten, deren Schuldverpflichtungen einen friedlichen Ausgleich ausschlossen. Da die amerikanische Seite auf der Bezahlung der von ihr kreditierten Lieferungen an die Alliierten bestand, war das Problem der Reparationen Deutschlands mit dem der interalliierten Schulden in einer Weise verknüpft, dass Staaten wie Frankreich und Italien, wollten sie nicht in die Zahlungsunfähigkeit rutschen, auf hohen Reparationen bestehen mussten, die Deutschland angesichts unzugänglicher Weltmärkte aber nur bei drastischer Verarmung hätte aufbringen können. Allein amerikanische Großzügigkeit und die Bereitschaft der europäischen Staaten zu weitreichender Kooperation hätten einen Ausweg geboten. Stattdessen kam es zu einer politisch verminten Verschuldungskonstellation, die schließlich maßgeblich zum Zusammenbruch der Weltfinanzbeziehungen in der Krise nach 1929 beitrug.
Beim vorliegenden Band handelt es sich nur sehr beschränkt um eine Neuausgabe. Schon 2006 erschien eine von Dorothea Hauser herausgegebene identische Auswahl. Dass die Herausgeberin sich nun auf die markantesten Textstellen konzentriert und längere Sacherläuterungen von Keynes gekürzt hat, ist angesichts der Tatsache, dass der vollständige Text leicht zu bekommen ist, hinnehmbar. Warum eine Neuübersetzung sein musste, ist hingegen nicht ersichtlich.
Die Einleitung selbst ist zwischen der Faszination durch den hellsichtigen Text und der Tatsache, dass er hart mit der alliierten Politik ins Gericht geht, hin- und hergerissen. Ist es der Herausgeberin doch ein Anliegen, Frankreich in einem milderen Licht darzustellen, und den Eindruck, Deutschlands Kritik am Vertrag könnte möglicherweise gerechtfertigt erscheinen, zurückzuweisen. Das mag man so sehen, doch ist der Text selbst eindeutig: Der Versailler Vertrag war deshalb ein Fehler, weil er die Grundlagen der ökonomischen Kooperation missachtete und stattdessen ein Schuldennetz wob, in dem sich die Akteure schließlich heillos verstrickten. Das gibt auch für die Gegenwart zu denken.
John Maynard Keynes: "Krieg und Frieden". Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrages von Versailles. Aus dem Englischen von Joachim Kalka; Hrsg. von Dorothea Hauser. Berenberg Verlag, Berlin 2014. 159 S., br., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Andauernd aktuell findet Rudolf Walther John Maynard Keynes "brillante" Polemik über den Vertrag von Versailles. Den neu übersetzten Band liest er gebannt und hält Keynes' Lamento über eine verpasste Chance für heilig zornig, doch gut belegt. Etwa, wenn der Autor die Grundlage der Reparationsforderungen der Sieger als Mischung aus Illusion, Eifer, Rache und Schuldzuweisungen beschreibt, nicht als solide Berechnung. Keynes' Wettern gegen die Borniertheit und Heuchelei der Sieger, denen es nicht um eine Neuordnung Europas ging, sondern um schnöde Bereicherung, scheint Walther berechtigt, auch wenn er Spekulationen über eine anders verlaufende Geschichte der Weimarer Republik für müßig hält.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2015Der zweifelhafte Karthago-Friede
John Maynard Keynes, Ökonom und Mitglied der britischen Verhandlungsdelegation, publizierte 1920
einen luziden Kommentar zum Versailler Vertrag. Viele seiner politischen Einsichten gelten bis heute
VON RUDOLF WALTHER
Die sprichwörtliche Rede, wonach es leicht sei, einen Krieg zu beginnen, aber schwierig, einen gerechten Frieden zu stiften, bewahrheitet sich an wenigen Friedensschlüssen so wie am Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919. Seit fast hundert Jahren ist Keynes’ Kommentar dazu von ungebrochener Aktualität.
Der englische Ökonom war der Erste, der in seiner 1920 erschienenen und nun von Joachim Kalka neu übersetzten Schrift „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“ die „Katastrophe nach der Katastrophe“ (so die Historikerin Dorothea Hauser) kommen sah. So unbestreitbar das ist, so klar sollte man die Dimensionen im Auge behalten.
John Maynard Keynes machte hauptsächlich den französischen Premierminister Clemenceau für den „Karthago-Frieden“ verantwortlich, was den englischen Gegenpart Lloyd George entlasten sollte. Fragwürdig ist die Bezeichnung „Karthago-Friede“. Diese Qualifizierung gebührt im 20.Jahrhundert nur einem einzigen Frieden: Im März 1918 diktierte die deutsche Heeresleitung der russischen Delegation unter Leo Trotzki in Brest-Litowsk innerhalb von 72 Stunden einen Friedens-
„Vertrag“, der seinesgleichen sucht. Russland sollte 34 Prozent seiner Bevölkerung, 54 Prozent seiner Industrie, 89 Prozent seiner Kohlevorkommen, 32 Prozent seines Ackerlandes sowie die gesamte Öl- und Baumwollproduktion abtreten. „Fraglos mutete der Frieden von Brest-Litowsk Russland ungleich härtere Verluste zu, als der Friede von Versailles ein Jahr später dem Deutschen Reich zufügte“, urteilte Hans-Ulrich Wehler.
Gravierender als die Härte der alliierten Forderungen – Deutschland sollte auf
13 Prozent seines Gebiets, zehn Prozent seiner Bevölkerung, 80 Prozent der Eisenerzvorkommen, 25 Prozent der Steinkohlevorkommen und 19 Prozent der Stahl- und Eisenproduktion verzichten – waren die Reparationszahlungen in der Höhe des dreifachen, jährlichen Bruttoinlandprodukts (132 Milliarden Mark). Die Zahl beruhte nicht, wie Keynes im Detail belegt, auf soliden Berechnungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands, sondern auf einer Mischung aus Illusionen, missionarischem Eifer, Rachegefühlen und Schuldzuschreibungen, die das politische Klima langfristig vergifteten. Mit den Reparationsforderungen wurden in englischen, französischen und deutschen Wahlkämpfen gleichermaßen demagogische Propaganda-Apparate gefüttert.
Keynes sah in den Versailler Friedensverhandlungen von 30 Siegerstaaten in der Abwesenheit der Kriegsverlierer (Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien, Türkei) vor allem eine verpasste Chance, „die Schwelle eines neuen Zeitalters“ zu überschreiten – zur Epoche jenseits von nationalistischer Verhetzung, Militarismus und Imperialismus. Ihm, er war Mitglied der britischen Delegation, ging es darum, nach dem verheerenden Krieg „die Grundlagen des Lebens“ in einem prophetisch als Einheit verstandenen Europa wiederherzustellen. Die Hoffnung darauf war berechtigt. Noch im Februar 1918 hatte US- Präsident Wilson erklärt, er wolle „weder Annexionen noch Entschädigungen oder Schadensersatz, der den Charakter der Strafe trägt“. Davon rückten die vier Großen (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien) schnell ab. So erklärten sie etwa Ruhegehälter von Beamten in den Siegerstaaten zu Kriegsschäden, für die die Verlierer einzustehen hätten. Lloyd George forderte pauschal „Entschädigung“ für die „durch den Krieg Ruinierten“.
Im Verhalten der Siegermächte sah Keynes einen glatten Verrat. Die deutsche Seite willigte in die Kapitulation im Vertrauen ein, die schriftlich vereinbarten Zusicherungen würden in einem späteren Friedensvertrag eingehalten. Aus fast jeder Zeile des Buches spricht Keynes’ heiliger Zorn gegen die Heuchelei und die Borniertheit der Sieger. Statt nach einer politischen Neuordnung Europas zu suchen, verhedderten sich die Verhandelnden in einem kleinlichen Gezänk um Grenz-, Gebiets- und Geldfragen und verloren die elementaren Probleme der Lebensmittelversorgung, der Transportinfrastruktur und der Währungsstabilisierung aus den Augen. Mit einem Schuldenerlass, einer Anleihe unter Aufsicht des Völkerbundes und einer gezielten und kontrollierten Wiederaufbauhilfe für die Kriegsverlierer hätte man, so Keynes, wahrscheinlich mehr an Reparationen gewinnen können als mit einer Politik, die Deutschland in kurzer Zeit in eine Hyperinflation stürzte. Seine Prognose, dass die Siegerstaaten mit dieser Politik auch „ihren eigenen Untergang“ beförderten, ist im wörtlichen Sinne nicht eingetroffen: Dank der Inflation verkaufte Deutschland Waren billig ins Ausland, importierte aber nur noch wenig von dort. Da Deutschland Reparation mit Schulden finanzierte, verschärfte sich die Krise 1929 zur Weltwirtschaftskrise.
Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Geschichte der Weimarer Republik anders verlaufen wäre, wenn Keynes’ Vorschläge, den Friedensvertrag auf rationalere und wirtschaftlich realistische Ziele umzustellen, beachtet worden wären. Die brillante Streitschrift zeigt jedoch, dass die Gefahren früh erkennbar waren und dass es Alternativen gegeben hat. Keynes hat in einem bitteren Sinne recht behalten: Sein realistischer Vorschlag von 1920, die Reparationszahlungen auf 40 Milliarden zu begrenzen, wurde faktisch realisiert, denn bis 1933 bezahlte Deutschland ziemlich genau diesen Betrag. Die politischen Folgen und andere Kollateralschäden waren allerdings beträchtlich höher.
John Maynard Keynes: Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles (1920) Mit einer Einleitung von Dorothea Hauser. Aus dem Englischen neu übersetzt von Joachim Kalka. Berenberg, Berlin 2014. 160 S., 20 Euro.
Rudolf Walther ist freier Publizist. Unlängst erschien sein vierter Essayband „Aufgreifen, begreifen, angreifen“.
Vergeblich hatte Keynes geraten,
den Friedensvertrag ökonomisch
realistisch zu gestalten
Keynes’ Schrift zeigt: Die Fehler
des Versailler Vertrags
wären vermeidbar gewesen
John Maynard Keynes sagte: Nach dem Ersten Weltkrieg hätte ein „neues Zeitalter“ anbrechen können.
Sz-Zeichnung: Schopf
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John Maynard Keynes, Ökonom und Mitglied der britischen Verhandlungsdelegation, publizierte 1920
einen luziden Kommentar zum Versailler Vertrag. Viele seiner politischen Einsichten gelten bis heute
VON RUDOLF WALTHER
Die sprichwörtliche Rede, wonach es leicht sei, einen Krieg zu beginnen, aber schwierig, einen gerechten Frieden zu stiften, bewahrheitet sich an wenigen Friedensschlüssen so wie am Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919. Seit fast hundert Jahren ist Keynes’ Kommentar dazu von ungebrochener Aktualität.
Der englische Ökonom war der Erste, der in seiner 1920 erschienenen und nun von Joachim Kalka neu übersetzten Schrift „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“ die „Katastrophe nach der Katastrophe“ (so die Historikerin Dorothea Hauser) kommen sah. So unbestreitbar das ist, so klar sollte man die Dimensionen im Auge behalten.
John Maynard Keynes machte hauptsächlich den französischen Premierminister Clemenceau für den „Karthago-Frieden“ verantwortlich, was den englischen Gegenpart Lloyd George entlasten sollte. Fragwürdig ist die Bezeichnung „Karthago-Friede“. Diese Qualifizierung gebührt im 20.Jahrhundert nur einem einzigen Frieden: Im März 1918 diktierte die deutsche Heeresleitung der russischen Delegation unter Leo Trotzki in Brest-Litowsk innerhalb von 72 Stunden einen Friedens-
„Vertrag“, der seinesgleichen sucht. Russland sollte 34 Prozent seiner Bevölkerung, 54 Prozent seiner Industrie, 89 Prozent seiner Kohlevorkommen, 32 Prozent seines Ackerlandes sowie die gesamte Öl- und Baumwollproduktion abtreten. „Fraglos mutete der Frieden von Brest-Litowsk Russland ungleich härtere Verluste zu, als der Friede von Versailles ein Jahr später dem Deutschen Reich zufügte“, urteilte Hans-Ulrich Wehler.
Gravierender als die Härte der alliierten Forderungen – Deutschland sollte auf
13 Prozent seines Gebiets, zehn Prozent seiner Bevölkerung, 80 Prozent der Eisenerzvorkommen, 25 Prozent der Steinkohlevorkommen und 19 Prozent der Stahl- und Eisenproduktion verzichten – waren die Reparationszahlungen in der Höhe des dreifachen, jährlichen Bruttoinlandprodukts (132 Milliarden Mark). Die Zahl beruhte nicht, wie Keynes im Detail belegt, auf soliden Berechnungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands, sondern auf einer Mischung aus Illusionen, missionarischem Eifer, Rachegefühlen und Schuldzuschreibungen, die das politische Klima langfristig vergifteten. Mit den Reparationsforderungen wurden in englischen, französischen und deutschen Wahlkämpfen gleichermaßen demagogische Propaganda-Apparate gefüttert.
Keynes sah in den Versailler Friedensverhandlungen von 30 Siegerstaaten in der Abwesenheit der Kriegsverlierer (Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien, Türkei) vor allem eine verpasste Chance, „die Schwelle eines neuen Zeitalters“ zu überschreiten – zur Epoche jenseits von nationalistischer Verhetzung, Militarismus und Imperialismus. Ihm, er war Mitglied der britischen Delegation, ging es darum, nach dem verheerenden Krieg „die Grundlagen des Lebens“ in einem prophetisch als Einheit verstandenen Europa wiederherzustellen. Die Hoffnung darauf war berechtigt. Noch im Februar 1918 hatte US- Präsident Wilson erklärt, er wolle „weder Annexionen noch Entschädigungen oder Schadensersatz, der den Charakter der Strafe trägt“. Davon rückten die vier Großen (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien) schnell ab. So erklärten sie etwa Ruhegehälter von Beamten in den Siegerstaaten zu Kriegsschäden, für die die Verlierer einzustehen hätten. Lloyd George forderte pauschal „Entschädigung“ für die „durch den Krieg Ruinierten“.
Im Verhalten der Siegermächte sah Keynes einen glatten Verrat. Die deutsche Seite willigte in die Kapitulation im Vertrauen ein, die schriftlich vereinbarten Zusicherungen würden in einem späteren Friedensvertrag eingehalten. Aus fast jeder Zeile des Buches spricht Keynes’ heiliger Zorn gegen die Heuchelei und die Borniertheit der Sieger. Statt nach einer politischen Neuordnung Europas zu suchen, verhedderten sich die Verhandelnden in einem kleinlichen Gezänk um Grenz-, Gebiets- und Geldfragen und verloren die elementaren Probleme der Lebensmittelversorgung, der Transportinfrastruktur und der Währungsstabilisierung aus den Augen. Mit einem Schuldenerlass, einer Anleihe unter Aufsicht des Völkerbundes und einer gezielten und kontrollierten Wiederaufbauhilfe für die Kriegsverlierer hätte man, so Keynes, wahrscheinlich mehr an Reparationen gewinnen können als mit einer Politik, die Deutschland in kurzer Zeit in eine Hyperinflation stürzte. Seine Prognose, dass die Siegerstaaten mit dieser Politik auch „ihren eigenen Untergang“ beförderten, ist im wörtlichen Sinne nicht eingetroffen: Dank der Inflation verkaufte Deutschland Waren billig ins Ausland, importierte aber nur noch wenig von dort. Da Deutschland Reparation mit Schulden finanzierte, verschärfte sich die Krise 1929 zur Weltwirtschaftskrise.
Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Geschichte der Weimarer Republik anders verlaufen wäre, wenn Keynes’ Vorschläge, den Friedensvertrag auf rationalere und wirtschaftlich realistische Ziele umzustellen, beachtet worden wären. Die brillante Streitschrift zeigt jedoch, dass die Gefahren früh erkennbar waren und dass es Alternativen gegeben hat. Keynes hat in einem bitteren Sinne recht behalten: Sein realistischer Vorschlag von 1920, die Reparationszahlungen auf 40 Milliarden zu begrenzen, wurde faktisch realisiert, denn bis 1933 bezahlte Deutschland ziemlich genau diesen Betrag. Die politischen Folgen und andere Kollateralschäden waren allerdings beträchtlich höher.
John Maynard Keynes: Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles (1920) Mit einer Einleitung von Dorothea Hauser. Aus dem Englischen neu übersetzt von Joachim Kalka. Berenberg, Berlin 2014. 160 S., 20 Euro.
Rudolf Walther ist freier Publizist. Unlängst erschien sein vierter Essayband „Aufgreifen, begreifen, angreifen“.
Vergeblich hatte Keynes geraten,
den Friedensvertrag ökonomisch
realistisch zu gestalten
Keynes’ Schrift zeigt: Die Fehler
des Versailler Vertrags
wären vermeidbar gewesen
John Maynard Keynes sagte: Nach dem Ersten Weltkrieg hätte ein „neues Zeitalter“ anbrechen können.
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