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»Der Krieg ist wieder da.« Mit dieser ersten von sechs Stationen beginnt Alexander Kluge sein neuestes Buch, veranlasst durch einen Angriffskrieg, der zunächst auf europäischem Schauplatz, aber mit globaler Wirkung geführt wird. Der Autor zielt damit weder auf eine Parteinahme noch auf einen Appell. Vielmehr geht es ihm um den »Maulwurf Krieg«, um dessen zähes und oft unterirdisches Überleben, um das, was er aus Menschen macht und zu welchem Eigenleben er imstande ist.
Was der Autor, nach ikonischem Vorbild, im Schilde führt: eine Fibel. Für diese formuliert er einfache Geschichten und
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Produktbeschreibung
»Der Krieg ist wieder da.« Mit dieser ersten von sechs Stationen beginnt Alexander Kluge sein neuestes Buch, veranlasst durch einen Angriffskrieg, der zunächst auf europäischem Schauplatz, aber mit globaler Wirkung geführt wird. Der Autor zielt damit weder auf eine Parteinahme noch auf einen Appell. Vielmehr geht es ihm um den »Maulwurf Krieg«, um dessen zähes und oft unterirdisches Überleben, um das, was er aus Menschen macht und zu welchem Eigenleben er imstande ist.

Was der Autor, nach ikonischem Vorbild, im Schilde führt: eine Fibel. Für diese formuliert er einfache Geschichten und unterlegt sie mit Bildmontagen und Filmsequenzen. Zehn Jahre war der Autor alt, als er – auf der Schulbank und mit dem Finger auf der Landkarte – deutsche Panzer auf der Fahrt nach Stalingrad verfolgte. In der ganzen Zwischenzeit bis zu seinem 91. Geburtstag im Februar 2023 hat dieser »Chronist der Gefühle« die Kostümierungen des Krieges immer wieder studiert: Krieg ist sterblich, aber er stirbt nicht schnell. Wie können wir auf seine Zumutungen antworten?

»Die Unmöglichkeit, nicht zu weinen«, das ist eine unserer Stärken, heißt es in der sechsten und letzten Station des Buches. Das Versteinerte und der Charakterpanzer in uns sind eine Täuschung. Tränen in unseren Augen machen blind, aber auch hellsichtig. Wir Menschen sind für den Krieg ungeeignete Geschöpfe. Doch unsere Schwäche enthält eine Hoffnung.


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Autorenporträt
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis,Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.

»Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.«
Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)

Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension

Das "Prinzip Wunderkammer" kennt Rezensentin Sieglinde Geisel schon von Alexander Kluge. Auch in seiner "Kriegsfibel", deren Titel er von Brecht ableitet, spielt das Fragmentarische eine große Rolle: Texte werden Bildern und sogar Videos gegenübergestellt, die per QR-Code abrufbar sind. Das ist nicht immer ganz einfach und braucht mindestens eine zweite Lektüre, räumt Geisel ein, macht aber interessante und zum Nachdenken anregende Verbindungen von den Weltkriegen zur Stürmung des Kapitols am 06.01.2021 und zum Angriffskrieg auf die Ukraine auf. Die Überzeugung Kluges und Brechts, dass der Krieg ein neues Lesen-Lernen erfordert, teilt auch die Kritikerin nach dieser Lektüre, die sie wohl noch länger begleiten wird, wie sie schließt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2023

Wer greift an, und wer wird angegriffen?
Wenn die Unterschiede verschwimmen, ist es auch mit der Erkenntnis nicht weit her: Alexander Kluges "Kriegsfibel 2023"

Ein Buch mit dem Titel "Kriegsfibel 2023" signalisiert: Hier ist etwas zu lernen, so wie man früher aus Fibeln lernte. Der Gegenstand des Krieges erscheint nicht nur als allgemeines, sondern auch als gegenwärtiges Phänomen, der Ukrainekrieg wird vorkommen. Schließlich stellt sich der Autor in anspruchsvolle Traditionen, denn Bertolt Brecht hat 1955 seine "Kriegsfibel" veröffentlicht. Die Gemeinsamkeit besteht in der Verbindung von Texten und Fotografien, die in Alexander Kluges Fall allerdings stärker bearbeitet sind. Hinzu setzt er Zeichnungen und Filmsequenzen, die per QR-Code abrufbar sind.

Wie werden die Titelerwartungen eingelöst? Von der Ukraine ist nur in wenigen Episoden oder Reflexionen die Rede, einige Fotos zeigen Zerstörungen. Man erfährt, dass westliche Geheimdienste in der Ukraine tätig sind und dass dieser Staat keine gewachsene Identität besitzt. Solche Aussagen legt Kluge, wie fast alles in seiner Fibel, Figuren in den Mund. Aber die Auswahl der Figuren und ihre Reden sind nicht in das Buch hineingeweht, sondern vom Autor komponiert worden, zu dieser reduziert-tendenziösen Sicht auf die Ukraine.

Über den Kriegsgegner Russland wird noch weniger gesprochen. Einmal ist, in einer der zahlreichen und nicht immer nachvollziehbaren Metaphern, von der "Götterdämmerung der sowjetischen Waffensysteme" die Rede, einmal von einem russischen Panzerfahrer, der seinen Panzer stoppt, als sich ihm junge Ukrainer in den Weg stellen.

Ausführlich und in eindrucksvollen Bildern und Geschichten flackern dagegen der Erste und der Zweite Weltkrieg auf. Das Urerlebnis des 1932 geborenen Autors, die Bombardierung seiner Heimat Halberstadt, wird geschildert, und ein Ritterkreuzträger mit dem Namen Walther von Hünersdorff, der im "Dritten Reich" Karriere gemacht hatte, erscheint als faszinierende Gestalt. Die Abnutzungsschlachten und Grabenkämpfe an der Somme und um Verdun werden aus der Sicht von Soldaten und in den Auswirkungen auf ihr Innenleben dargestellt.

Damit ist man im Kern der Fibel angelangt. Wir lernen über den Krieg 2023, indem wir uns mit vergangenen Kämpfen beschäftigen, weil der Krieg als solcher in unterschiedlichen Gestalten immer wiederkehrt. Der Soldat Hünersdorff befand sich in einem Feldlazarett in Charkow, also im heutigen kriegsumkämpften Charkiw. Tatsächlich versteht Kluge den Krieg als eine Kraft oder Macht und nennt ihn ausdrücklich einen "Dämon". Immer wieder wird der Krieg zum Subjekt von Sätzen: "Der Krieg träumt von seiner absoluten Gewalt." (Anders als Kluge suggeriert, handelt es sich dabei nicht um ein Clausewitz-Zitat, weil Clausewitz den Krieg nicht "träumen" lässt). Im "Nebel des Krieges", so weiter, verlieren sich die Tatsachen, stattdessen herrsche die "Utopie der Panzerung".

So kann man über Kriege nachdenken und zu Einsichten gelangen, aber man muss sich zu den Folgen bekennen: So wie die Unterschiede zwischen den einzelnen Kriegen verschwimmen auch die zwischen Angreifern und Angegriffenen. Über eine ausschließlich positiv dargestellte Zeitzeugin seiner Jugend sagt Kluge: "Kein Kriegsgrund, gleich von welcher Partei des Zweiten Weltkrieges formuliert, hätte sie überzeugt." Sie interessierte sich für das Überleben ihrer Kinder. Die "Kriegsgründe" des nationalsozialistischen Deutschlands, Englands und der Sowjetunion waren aber fundamental verschieden, und genau das geht unter, wenn man den Krieg als tragische "Verknäuelung" ansieht, der von einem übermächtigen "Willen" gesteuert wird.

Auch in der Gegenwart werden die Differenzen eingezogen, sodass sich im Ukrainekrieg einfach zwei Machtblöcke gegenüberstehen. Verstärkung für sein Denken in riesigen Zeiträumen holt Kluge sich bei Ernst Jünger und Heiner Müller. Dann werden sprunghaft Analogien von der Gegenwart zur Antike hergestellt oder Kriegsbewegungen mit geologischen Verschiebungen verglichen. Zur Naturalisierung des Krieges trägt auch das Bildmaterial bei, wenn in Fotos aus der zerstörten Ukraine Tiere wie eine Echse oder ein Pfau hineinmontiert werden. Bertolt Brecht als Namensgeber der Kriegsfibel wäre für ein solches Denken nicht zu haben gewesen, weil er Kriege politisch verstand.

Allerdings gibt es in der "Kriegsfibel 2023" auch andere Denkweisen. Im Schlussteil wird nach einem Ausweg aus dem Teufelskreis der Aggressionen gefragt. Diesen könne die menschliche Schwäche und Leidensfähigkeit eröffnen: "Die Fähigkeit zu weinen ist etwas ganz Wunderbares. Das zeigt, dass wir von Seetieren abstammen. Denn nur die können salzige Flüssigkeit von innen nach außen transportieren. Diese Fähigkeit, etwas Versteinertes in mir flüssig zu machen, das ist die Grundlage aller Musik. Die Kernform der Musik ist das Lamento, das Klagelied." Solche Äußerungen können das Mitfühlen in uns wecken, sie lassen ein ganz anderes Innenleben als das gepanzerte anklingen.

Aber leider lässt Kluge solche Passagen nicht zur Entfaltung kommen, denn im Schluss der Fibel operiert er mit der Kritischen Theorie Adornos, die ihn intellektuell geprägt hat. Plötzlich wird behauptet, dass die Kriegslogik nicht zur wahren menschlichen Natur gehöre, sondern eine Ausgeburt allein des herrschsüchtigen Hirns sei. Und neigte schon Adorno zu einer historischen Entkonkretisierung des Moderne-Begriffs, gerät dieser bei Kluge vollständig vage: "Die Moderne entzündete sich in einem aggressiven Milieu. Sie entstand aus der Ernsthaftigkeit des Krieges. Die Ernsthaftigkeit des Krieges ist der Vater des Kriegsendes."

So steht es in einem der großen Merkkästchen der Fibel. Auch wer Respekt vor der Lebensleistung Alexander Kluges verspürt, wird sich fragen, was uns solche Aussagen in der Gegenwart bitte lehren sollen? DIRK VON PETERSDORFF

Alexander Kluge: "Kriegsfibel 2023".

Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 126 S., geb., 16,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.04.2023

Die Sinne wühlen,
der Verstand sucht
Die „Kriegsfibel“ Alexander Kluges ist ein
tiefgründiges, gedankenstarkes Buch.
Doch ein Widerspruch trübt die Lektüre
VON JOACHIM KÄPPNER
Der Krieg ist ein Schrecken. Krieg darf um Gottes willen nie mehr sein, sagen die einen und fordern, Deutschland, der Westen, die Welt solle sich am besten heraushalten aus Russlands Krieg gegen die Ukraine, keinesfalls aber riskieren, in eine Eskalation hineingezogen zu werden, am Ende gar in einen Atomkrieg.
Krieg, sagen die anderen, kann man nur beenden, wenn man dem Kriegstreiber jede Aussicht nimmt, ihn zu gewinnen, durch die Entschlossenheit der freien Welt, dafür zu sorgen mit der Lieferung von Jets, Panzern und Geheimdienstinformationen an die Verteidiger, die Ukrainer.
Krieg, schreibt dagegen Alexander Kluge, ist ein Nebel. Unvorhersehbar, Pläne und Strategien vernichtend. Und dieser Dämon „entzieht sich der Herrschaft derer, die ihn anzetteln, ebenso wie den Wünschen derer, die ihn bekämpfen“. „Eine Verknäuelung“ sei er, oft „nicht entwirrbar, für keine der beiden Seiten. Wobei egal ist, ob die eine Partei entwirren will und die andere nicht“.
Die Menschen finden auf diese Verwirrung oft die falschen Antworten, etwa „die Utopie der Panzerung“. Diese Panzerung kann seelisch sein, politisch oder faktisch zu den Kampffahrzeugen gehören, die als ausreichend geschützt gelten und es doch auf Dauer nicht sind. Als Beispiel beschreibt Kluge den Tod eines deutschen Ritterkreuzträgers in der Schlacht von Kursk 1943, der sich gleich siebenfach geschützt fühlte, von seinem Panzer, seiner Routine, seinem Expertentum und so fort und doch bald tödlich getroffen wurde.
Alexander Kluge nennt in seiner eben erschienenen „Kriegsfibel“ auch die Geschichte der ukrainischen Jugendlichen, die sich vor einen russischen Panzer gestellt hätten. Nach kurzem Zögern habe dessen Fahrer, wohl kaum älter als sie, den Rückwärtsgang eingelegt. Das, sagt Kluge, „ist eine Wundergeschichte“. Man erzählt sie schon aus dem Aufstand der Ungarn gegen die UdSSR 1956. Manchmal stimmt sie, manchmal nicht? Vielleicht. Manchmal geht sie gut aus, manchmal endet sie in einem Blutbad an Wehrlosen, wie in Peking 1989.
Der Krieg entzieht sich dem menschlichen Zugriff. Das ist die Botschaft dieses Buchs. Und der Krieg ist etwas, das Alexander Kluge niemals losließ, nachdem er noch im April 1945 erlebt hatte, wie amerikanische Bomber das heimatliche Halberstadt in Schutt und Asche legten und eine Bombe ihn beinahe getötet hätte. Nur drei Tage später näherte sich „eine langsam fahrende Panzerkolonne am Frühnachmittag der Stadt“, begleitet von Infanterie. Die Amerikaner akzeptieren die weißen Fahnen, nur einem flüchtenden Nazibonzen nehmen sei das Cabriolet ab und kippen es in den Graben. „In keinem Moment“, schreibt Kluge, „habe ich diese in die Stadt einrückende Truppe mit den Flugzeugen, die vor drei Tagen die Stadt zerstörten, zusammengebracht.“ Gesichter und Rätsel des Krieges.
So liest man die Kriegsfibel – absichtsvoll angelehnt an Bertolt Brechts gleichnamiges Werk aus dem Jahr 1955, später ein Kultbuch der Friedensbewegung – mit Spannung angesichts des aktuellen Schreckens in der Ukraine. Der Krieg dort liegt dem Buch zugrunde, natürlich, seine Rückkehr nach Europa, erstmals seit 1945, als die Halberstädter Jungen das verlassene Cabrio des Nazis plünderten. Kluge hat 1964 die epische „Schlachtbeschreibung“ über Stalingrad veröffentlicht, es war wie frischer Wind, der die Spinnweben der Mythen, Lügen und Heroisierungen fortwehte.
91 Jahre ist er inzwischen alt. Kann das sein? Wirklich? Hat man nicht neulich noch beim Schuleschwänzen im Programmkino „Der Kandidat“ gesehen, war man nicht umgehend zur nächsten „Stoppt Strauß“-Demo aufgebrochen? Kluge gilt als einer bedeutendsten und produktivsten Intellektuellen der Bundesrepublik – Fernsehproduzent, Autor, Poet, Erfinder ganzer Wunderkammern von Geschichten. Mit Filmen wie „Deutschland im Herbst“ (1977) und „Der Kandidat“ (1980, mit anderen, über Franz Josef Strauß’ Griff nach der Kanzlerschaft) Meisterwerke, die präzise die Stimmung der aufgewühlten späten Republik in Westdeutschland spüren lassen. Und seine Verdienste sind keineswegs von gestern. Erst 2018 feierte die akademische Welt Kluge für seine Vorlesungen zur „Theorie des Erzählens“.
Dort wie in seinen Büchern und nun in der „Kriegsfibel“ zeigt sich Kluge auch als Meister eines anderen Erzählens: assoziativ, sprunghaft, fließend und doch nie ohne Zusammenhang, hier gar angereichert mit QR-Codes zu Filmbeiträgen. Auch das neue, 126 Seiten knappe Buch ist wie ein Füllhorn aus Wissen, Alternativgeschichten, Gedankentiefe und dem unbeirrten Prinzip, den sogenannten einfachen Wahrheiten mit der Einsicht zu begegnen, dass Wahrheiten nie einfach sind. Das Buch ist in seiner Vielgestaltigkeit eine berechtigte Warnung vor gefährlichen Vereinfachungen im Umgang mit dem Krieg. Das alles liest man mit Gewinn. Und doch gibt es einen auffallenden Widerspruch, der die Freude an der Lektüre trübt.
Die inhaltliche Dichte und Differenzierung seiner Fibel stehen in eigentümlichem Kontrast zu Kluges öffentlichen Parteinahmen über Putins Krieg gegen die Ukraine. Der Schriftsteller hat sich an die Seite von Alice Schwarzer und vielen anderen gestellt, die in einem offenen Brief an den Bundeskanzler die Lieferung schwerer Waffen an die Verteidiger der Ukraine ablehnen, er macht die Nato mitverantwortlich für das Geschehen und geht in einem Interview so weit, den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenskij zu dämonisieren als „zurzeit mächtigsten Politiker der gesamten Welt“, und mokiert sich implizit darüber, dass dieser Mann in den Volksvertretungen des Westens sprechen darf.
Man muss derlei Einlassungen nicht skandalisieren. Die Bereitschaft, der Gegenseite zuzuhören und ihr vielleicht auch bessere Motive als Niedertracht zuzubilligen, ist in der deutschen Ukrainedebatte beiderseits gering. Eine friedenspolitische Opposition ist, ob man ihr zustimmt oder nicht, in der Demokratie auch ein wichtiges Korrektiv der Regierungspolitik. Dennoch, wer öffentlich so zugespitzt argumentiert wie Kluge, muss Fragen und Kritik eben in Kauf nehmen.
Was nützt es, Verhandlungen zu fordern, als sei dieser Gedanke allein schon der Schlüssel zum Frieden, wenn dieser Schlüssel gar nicht passt, weil der Aggressor selbst Gespräche leider ablehnt? Ist unterlassene Hilfeleistung für die Opfer eines von Mord, Folter und Terror gekennzeichneten Angriffskrieges wirklich die moralisch vertretbarste Position? Ist die Abneigung gegen Selenskij bei etlichen in diesen Kreisen nicht eher eine Schuldumkehr, um die Opfer für die Störung des eigenen Weltbildes verantwortlich zu machen? Und warum fällt es manchen so überaus schwer, einen Gewaltakt des brutalen, nackten Imperialismus und dessen Urheber zu verurteilen, von alibihaften „Ja, aber“-Formeln abgesehen?
Was also will uns Kluge hier wirklich sagen? Kann man das Buch vom Autor als öffentlicher Person trennen, wenn es doch um dasselbe geht, den Krieg gegen die Ukraine? Oder ist es dieselbe Botschaft, nur viel gescheiter verpackt? Weder noch, wahrscheinlich. Die Sinne wühlen, der Verstand sucht: So schreibt Kluge an einer Stelle über Wehrmachtssoldaten, die im Kaukasus 1942 vergeblich zu verstehen versuchen, was eigentlich vorgeht in diesem Krieg. In gewisser Weise gilt das auch für die „Kriegsfibel“.
Warum fällt es manchen
so schwer, nackten
Imperialismus zu verurteilen?
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist als Fernsehproduzent, Poet und Autor einer der bedeutendsten und produktivsten Intellektuellen des Landes. 2003 erhielt Kluge den Georg-Büchner-Preis.Foto: Catherina Hess
Der Krieg, schreibt Kluge, „entzieht sich der Herrschaft derer, die ihn anzetteln, ebenso wie den Wünschen derer, die ihn bekämpfen“: Foto aus Bachmut vom November. Foto: Libkos/dpa
Alexander Kluge: Kriegsfibel 2023. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2023.
126 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Kluge hilft lernen, und doch bleibt die Entwicklung von so etwas wie Verständnis eine unabgeschlossene Aufgabe.« Erik Zielke neues deutschland 20230504