Nach Kriegsende wird der vierzehnjährige Nathaniel mit seiner Schwester Rachel von den Eltern in London zurückgelassen. Der geheimnisvolle „Falter“, der sie in Obhut genommen hat, und dessen exzentrische Freunde kümmern sich fürsorglich um sie. Wer aber sind diese Menschen wirklich? Und was hat es zu bedeuten, dass die Mutter nach langem Schweigen aus dem Nichts wieder zurückkehrt? „Meine Sünden sind vielfältig“, wiederholt sie, mehr gibt sie nicht preis. Als er erwachsen ist, beginnt Nathaniel die geheime Vergangenheit seiner Mutter als Spionin im Kalten Krieg aufzuspüren. Fünfundzwanzig Jahre nach dem „Englischen Patienten“ hat Michael Ondaatje ein neues Meisterwerk geschrieben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2018Genuss für die Freunde feiner Filetarbeiten
Ein Künstler schafft die subtilsten Textgewebe: Michael Ondaatjes neuer Roman "Kriegslicht" bietet all das, was diesen Autor so faszinierend macht.
Der Romantitel klingt nach Sparmaßnahme, Notration oder Verdunkelung. Kriegslicht kann man sich nicht hell und klar vorstellen. Tatsächlich spielt Beleuchtungstechnik eine starke Rolle und folgt, wie sich bald erweist, einer subtilen Lichtregie: von der "submarinen Beleuchtung" eines Restaurants über das schwarzweiße Flackern der Gesichter eines Kinopublikums oder den Widerschein von Gewitterblitzen auf der Haut beim jugendlichen Sex bis hin zum Schein der Kerze, mit dem Jahre später der Erzähler seinen Versuch beschreibt, das Erlebte, aber kaum Begriffene, aus dem Dunkel der Vergangenheit zu holen: "als schriebe ich bei Kerzenlicht. Als könnte ich nicht sehen, was im Dunkel jenseits der Bewegung dieses Stifts geschieht. Als wären es Momente ohne Zusammenhang."
Doch mit den Titeln hat es bei Michael Ondaatje eine Bewandtnis, man muss sie überdenken und, je mehr man von der Geschichte erfährt, neu verstehen lernen. So trägt etwa der Titelheld seines Welterfolgs "Der englische Patient" die nationale Bezeichnung nicht etwa, weil er Engländer ist, sondern weil er sich vorübergehend in englischer Pflege befindet - eine Zuschreibung von außen also, die seine wahre Identität lange Zeit verdeckt. "Der englische Patient" erschien vor 25 Jahren und hat kürzlich, nach öffentlichem Votum einer internationalen Leserschaft, die Sonderauszeichnung als bester der in fünfzig Jahren mit dem Booker-Preis geehrten Romane erhalten. In seiner Dankesrede erklärte der Autor, dass er sein Erfolgsbuch seit Erscheinen selbst nicht mehr gelesen habe. Mit "Kriegslicht" aber knüpft er unverkennbar daran an, als wollte er dessen packende Geschichte aus verschobener Perspektive noch einmal erkunden - eine Rückkehr in die vierziger Jahre, in eine Nachkriegswelt von offenen Wunden, voller Minen und Ruinen, Spione und Schmuggler, Rächer und Missionen. Ein erzählerischer Glücksfall. Ein Triumph.
Er beginnt mit einem Aufbruch. Im Sommer 1945 erklären die Eltern, dass sie beruflich für ein Jahr nach Singapur müssen und ihre beiden Teenager in London für diese Zeit in die Obhut eines "Kollegen" (wie sie ihn vertrauensstiftend nennen) übergeben wollen. Der vierzehnjährige Nathaniel und seine etwas ältere Schwester fügen sich anfänglich in ihr Schicksal, auch wenn sie dem "Kollegen", der binnen kurzem eine ganze Schar zweideutiger Gestalten ins Haus bringt, allerhand Verbindungen in die Halb- und Unterwelt zutrauen. Doch dann mehren sich die Zeichen, dass ihnen etwas vorgemacht werden soll. Im Keller findet sich der Überseekoffer, der für die angebliche Fernostreise gepackt worden war; vom Vater gibt es künftig keine Lebenszeichen, doch die Mutter taucht, wie es scheint, hin und wieder flüchtig auf, auch wenn es Nathaniel nie gelingt, sie sicher zu erkennen oder anzusprechen.
Er ist mit seiner Pubertät beschäftigt, mit Schulproblemen, Jobs als Liftboy, Küchenjunge oder Schmuggelhelfer und vor allem mit seiner ersten Liebe. Erst durch eine dramatische Zuspitzung zeigt sich plötzlich, in welch tödlicher Gefahr er die ganze Zeit gelebt hat und wie sehr sich seine Mutter zu Recht um die Kinder sorgen musste. Vierzehn Jahre später, als die Mutter nicht mehr lebt, der Vater längst verschollen und der Kontakt zur Schwester abgerissen ist, beginnt Nathaniel, den Spuren der verlorenen Familie nachzugehen und aus Archiven, Fotos, Tonbändern oder Erinnerungen Stück für Stück zu sammeln, was ihm helfen mag, das Vorgefallene zu begreifen und die düsteren Nachkriegswirren, in die er seinerzeit geraten ist, allmählich zu entwirren.
So setzt der Roman nach einem guten Drittel abermals an und wandelt sich von einer Adoleszenzgeschichte zu einer melancholischen Spionageerzählung, die allerdings mit jeder Wendung, statt das Dunkle zu erhellen, nur immer weitere Düsternisse freilegt. Wie sich herausstellt, war die Mutter jahrelang im Auftrag des britischen Geheimdiensts tätig, musste in Italien und andernorts heikle Missionen übernehmen, die womöglich nicht durchgehend moralischer Bewertung standhalten, und hat den Rückzug ins Privatleben, nach dem sie sich so sehnte, nie mehr richtig vollziehen können. Ihr Deckname lautet "Viola", vielleicht nach einer Shakespeare-Heldin, deren verzweifelter Stoßseufzer in diesem Roman vielfach widerhallt: "O Zeit, du selbst entwirre dies, nicht ich. / Ein zu verschlungener Knoten ist's für mich."
Uns Lesern wird das ständige Entwirren und neuerliche Verknoten bald zur größten Lust. Denn zunehmend geraten wir in die Funktion dieses Erzählers, aus verstreuten Bruchstücken etwas zu formen und die ganze Wahrheit, die sich stets entzieht, versuchsweise zusammenzusetzen. Und wie bei Nathaniel das Erinnern fast unmerklich ins Erzählen übergeht, bis der Spurensucher zum Erfinder der Geschichte wird, die er doch lediglich rekonstruieren wollte, so geraten auch wir unversehens ins Fabulieren und stellen uns nur zu gern vor, dass und wie die losen Enden, die beim episodischen Erzählen bleiben, sich verknüpfen könnten.
So gewinnt bald auch der Titel einen anderen Sinn. Alle kriegsbedingte Verdunkelung ist nicht einfach Taktik oder Tarnung, sondern produktive Kraft und Antrieb zum Erzählen: "Wir ordnen unser Leben dank kaum näher ausgeführter Geschichten. Als hätten wir uns in einer verwirrenden Umgebung verlaufen und sammelten nun, was unsichtbar und unausgesprochen war", erklärt Nathaniel zum Ende. Durchweg erscheint er als akribischer Erzähler, der sich redlich müht, jeden Fetzen des Vergangenen, den er zu fassen bekommt, festzuhalten und mit den anderen, die er schon gesammelt hat, zu einem größeren Zusammenhang zu fügen, buchstäblich zu vernähen, um sich mit dieser Patchwork-Technik allmählich dem Gesamtbild anzunähern. "Stitch" lautet daher schon der Kosename, den seine Mutter ihm verleiht und der auf diese Tätigkeit vorausweist. Doch wie so oft bei Ondaatje, gewinnt seine Geschichte ihre magisch-suggestive Macht aus dem, was sich gerade nicht zusammenbringen oder vernähen lässt, was sie verbirgt oder verschweigt und allenfalls zwischen den Zeilen - oder Stichen - zu verstehen gibt. Die Stärke seines Werks ist hier wie stets das Flickwerk.
"Kriegslicht" ist Ondaatjes siebter Roman in mehr als fünf Jahrzehnten literarischer Arbeit, die mit Gedichtveröffentlichungen begann. Bei der Lektüre gewinnt man abermals den Eindruck, dass der kanadische Autor weiterhin lyrische Texte schreibt, da er dem erzählerischen Gestus, durch Worte einen großen Weltentwurf zu schaffen, misstraut und durch Aussparungen, Andeutungen und Nuancen bleibende Wirkung erzeugt. Das gilt zumal - und das ist deutschsprachigen Lesern ein zusätzlicher Lustgewinn - für Anna Leubes Übersetzung, die mit herrlichem Registerreichtum und Gespür arbeitet, viele schöne, rare Wörter findet - "Fender", "Priel", "vernestelte Beziehungen" - und dennoch niemals auftrumpft; dabei gelingt es ihr bisweilen sogar, lyrische Akzente zu setzen, wo der Ausgangstext eher prosaisch daherkommt, etwa wenn sie für das unbestimmte Morgengrauen - im Englischen steht "unrecorded hour" - die wunderbare Formulierung "die Stunde zwischen Tau und Tag" bietet.
Denn solche Zwischenstufen sind es, Grautöne, unmerkliche Übergänge sowie feinste Abschattierungen, die "Kriegslicht" derart faszinierend anreichern, dass man die Dämmerungsszenarien, die hier entstehen, schier nicht mehr aus dem Sinn bekommt. Wer also von Ondaatje vor allem opulente Bilder aus Anthony Minghellas Filmversion des "Englischen Patienten" im Gedächtnis hat, der sollte diesen Roman unbedingt lesen; alle anderen wissen ohnehin, dass der wahre Triumph dieses Autors dort entsteht, wo andere nur tristes Dunkel jenseits der Beleuchtung finden. Wenn sich die Königlich Schwedische Akademie in nächster Zeit wieder auf ihre Arbeit konzentrieren und die Entscheidungsfindung für den Literaturnobelpreis in seriöse Bahnen lenken sollte, wird sie an Ondaatjes Werk schwer vorbei können.
TOBIAS DÖRING
Michael Ondaatje:
"Kriegslicht". Roman.
Aus dem Englischen von Anna Leube. Hanser Verlag, München 2018.
320 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Künstler schafft die subtilsten Textgewebe: Michael Ondaatjes neuer Roman "Kriegslicht" bietet all das, was diesen Autor so faszinierend macht.
Der Romantitel klingt nach Sparmaßnahme, Notration oder Verdunkelung. Kriegslicht kann man sich nicht hell und klar vorstellen. Tatsächlich spielt Beleuchtungstechnik eine starke Rolle und folgt, wie sich bald erweist, einer subtilen Lichtregie: von der "submarinen Beleuchtung" eines Restaurants über das schwarzweiße Flackern der Gesichter eines Kinopublikums oder den Widerschein von Gewitterblitzen auf der Haut beim jugendlichen Sex bis hin zum Schein der Kerze, mit dem Jahre später der Erzähler seinen Versuch beschreibt, das Erlebte, aber kaum Begriffene, aus dem Dunkel der Vergangenheit zu holen: "als schriebe ich bei Kerzenlicht. Als könnte ich nicht sehen, was im Dunkel jenseits der Bewegung dieses Stifts geschieht. Als wären es Momente ohne Zusammenhang."
Doch mit den Titeln hat es bei Michael Ondaatje eine Bewandtnis, man muss sie überdenken und, je mehr man von der Geschichte erfährt, neu verstehen lernen. So trägt etwa der Titelheld seines Welterfolgs "Der englische Patient" die nationale Bezeichnung nicht etwa, weil er Engländer ist, sondern weil er sich vorübergehend in englischer Pflege befindet - eine Zuschreibung von außen also, die seine wahre Identität lange Zeit verdeckt. "Der englische Patient" erschien vor 25 Jahren und hat kürzlich, nach öffentlichem Votum einer internationalen Leserschaft, die Sonderauszeichnung als bester der in fünfzig Jahren mit dem Booker-Preis geehrten Romane erhalten. In seiner Dankesrede erklärte der Autor, dass er sein Erfolgsbuch seit Erscheinen selbst nicht mehr gelesen habe. Mit "Kriegslicht" aber knüpft er unverkennbar daran an, als wollte er dessen packende Geschichte aus verschobener Perspektive noch einmal erkunden - eine Rückkehr in die vierziger Jahre, in eine Nachkriegswelt von offenen Wunden, voller Minen und Ruinen, Spione und Schmuggler, Rächer und Missionen. Ein erzählerischer Glücksfall. Ein Triumph.
Er beginnt mit einem Aufbruch. Im Sommer 1945 erklären die Eltern, dass sie beruflich für ein Jahr nach Singapur müssen und ihre beiden Teenager in London für diese Zeit in die Obhut eines "Kollegen" (wie sie ihn vertrauensstiftend nennen) übergeben wollen. Der vierzehnjährige Nathaniel und seine etwas ältere Schwester fügen sich anfänglich in ihr Schicksal, auch wenn sie dem "Kollegen", der binnen kurzem eine ganze Schar zweideutiger Gestalten ins Haus bringt, allerhand Verbindungen in die Halb- und Unterwelt zutrauen. Doch dann mehren sich die Zeichen, dass ihnen etwas vorgemacht werden soll. Im Keller findet sich der Überseekoffer, der für die angebliche Fernostreise gepackt worden war; vom Vater gibt es künftig keine Lebenszeichen, doch die Mutter taucht, wie es scheint, hin und wieder flüchtig auf, auch wenn es Nathaniel nie gelingt, sie sicher zu erkennen oder anzusprechen.
Er ist mit seiner Pubertät beschäftigt, mit Schulproblemen, Jobs als Liftboy, Küchenjunge oder Schmuggelhelfer und vor allem mit seiner ersten Liebe. Erst durch eine dramatische Zuspitzung zeigt sich plötzlich, in welch tödlicher Gefahr er die ganze Zeit gelebt hat und wie sehr sich seine Mutter zu Recht um die Kinder sorgen musste. Vierzehn Jahre später, als die Mutter nicht mehr lebt, der Vater längst verschollen und der Kontakt zur Schwester abgerissen ist, beginnt Nathaniel, den Spuren der verlorenen Familie nachzugehen und aus Archiven, Fotos, Tonbändern oder Erinnerungen Stück für Stück zu sammeln, was ihm helfen mag, das Vorgefallene zu begreifen und die düsteren Nachkriegswirren, in die er seinerzeit geraten ist, allmählich zu entwirren.
So setzt der Roman nach einem guten Drittel abermals an und wandelt sich von einer Adoleszenzgeschichte zu einer melancholischen Spionageerzählung, die allerdings mit jeder Wendung, statt das Dunkle zu erhellen, nur immer weitere Düsternisse freilegt. Wie sich herausstellt, war die Mutter jahrelang im Auftrag des britischen Geheimdiensts tätig, musste in Italien und andernorts heikle Missionen übernehmen, die womöglich nicht durchgehend moralischer Bewertung standhalten, und hat den Rückzug ins Privatleben, nach dem sie sich so sehnte, nie mehr richtig vollziehen können. Ihr Deckname lautet "Viola", vielleicht nach einer Shakespeare-Heldin, deren verzweifelter Stoßseufzer in diesem Roman vielfach widerhallt: "O Zeit, du selbst entwirre dies, nicht ich. / Ein zu verschlungener Knoten ist's für mich."
Uns Lesern wird das ständige Entwirren und neuerliche Verknoten bald zur größten Lust. Denn zunehmend geraten wir in die Funktion dieses Erzählers, aus verstreuten Bruchstücken etwas zu formen und die ganze Wahrheit, die sich stets entzieht, versuchsweise zusammenzusetzen. Und wie bei Nathaniel das Erinnern fast unmerklich ins Erzählen übergeht, bis der Spurensucher zum Erfinder der Geschichte wird, die er doch lediglich rekonstruieren wollte, so geraten auch wir unversehens ins Fabulieren und stellen uns nur zu gern vor, dass und wie die losen Enden, die beim episodischen Erzählen bleiben, sich verknüpfen könnten.
So gewinnt bald auch der Titel einen anderen Sinn. Alle kriegsbedingte Verdunkelung ist nicht einfach Taktik oder Tarnung, sondern produktive Kraft und Antrieb zum Erzählen: "Wir ordnen unser Leben dank kaum näher ausgeführter Geschichten. Als hätten wir uns in einer verwirrenden Umgebung verlaufen und sammelten nun, was unsichtbar und unausgesprochen war", erklärt Nathaniel zum Ende. Durchweg erscheint er als akribischer Erzähler, der sich redlich müht, jeden Fetzen des Vergangenen, den er zu fassen bekommt, festzuhalten und mit den anderen, die er schon gesammelt hat, zu einem größeren Zusammenhang zu fügen, buchstäblich zu vernähen, um sich mit dieser Patchwork-Technik allmählich dem Gesamtbild anzunähern. "Stitch" lautet daher schon der Kosename, den seine Mutter ihm verleiht und der auf diese Tätigkeit vorausweist. Doch wie so oft bei Ondaatje, gewinnt seine Geschichte ihre magisch-suggestive Macht aus dem, was sich gerade nicht zusammenbringen oder vernähen lässt, was sie verbirgt oder verschweigt und allenfalls zwischen den Zeilen - oder Stichen - zu verstehen gibt. Die Stärke seines Werks ist hier wie stets das Flickwerk.
"Kriegslicht" ist Ondaatjes siebter Roman in mehr als fünf Jahrzehnten literarischer Arbeit, die mit Gedichtveröffentlichungen begann. Bei der Lektüre gewinnt man abermals den Eindruck, dass der kanadische Autor weiterhin lyrische Texte schreibt, da er dem erzählerischen Gestus, durch Worte einen großen Weltentwurf zu schaffen, misstraut und durch Aussparungen, Andeutungen und Nuancen bleibende Wirkung erzeugt. Das gilt zumal - und das ist deutschsprachigen Lesern ein zusätzlicher Lustgewinn - für Anna Leubes Übersetzung, die mit herrlichem Registerreichtum und Gespür arbeitet, viele schöne, rare Wörter findet - "Fender", "Priel", "vernestelte Beziehungen" - und dennoch niemals auftrumpft; dabei gelingt es ihr bisweilen sogar, lyrische Akzente zu setzen, wo der Ausgangstext eher prosaisch daherkommt, etwa wenn sie für das unbestimmte Morgengrauen - im Englischen steht "unrecorded hour" - die wunderbare Formulierung "die Stunde zwischen Tau und Tag" bietet.
Denn solche Zwischenstufen sind es, Grautöne, unmerkliche Übergänge sowie feinste Abschattierungen, die "Kriegslicht" derart faszinierend anreichern, dass man die Dämmerungsszenarien, die hier entstehen, schier nicht mehr aus dem Sinn bekommt. Wer also von Ondaatje vor allem opulente Bilder aus Anthony Minghellas Filmversion des "Englischen Patienten" im Gedächtnis hat, der sollte diesen Roman unbedingt lesen; alle anderen wissen ohnehin, dass der wahre Triumph dieses Autors dort entsteht, wo andere nur tristes Dunkel jenseits der Beleuchtung finden. Wenn sich die Königlich Schwedische Akademie in nächster Zeit wieder auf ihre Arbeit konzentrieren und die Entscheidungsfindung für den Literaturnobelpreis in seriöse Bahnen lenken sollte, wird sie an Ondaatjes Werk schwer vorbei können.
TOBIAS DÖRING
Michael Ondaatje:
"Kriegslicht". Roman.
Aus dem Englischen von Anna Leube. Hanser Verlag, München 2018.
320 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2018Vielfältige
Sünden
Meine Mutter, die Agentin: Michael Ondaatjes
Roman „Kriegslicht“ will im London der
Nachkriegszeit ein Geheimnis aufklären
VON LOTHAR MÜLLER
Ein eisiger Wind fegt Böen über das Wasser. Ein Lastkahn gleitet über die Themse, an Bord illegal importierte Windhunde, die lupenreine englische Stammbäume erhalten werden. Windhundrennen sind beliebt im England der Nachkriegszeit, Wettbetrug ist lukrativ, die Kunst des Hundedopings erlebt eine Hochblüte. Den Frachtkahn steuert ein Mann, den die beiden Jugendlichen, die mit im Boot sind, „Boxer“ nennen. Er stand wirklich einmal im Ring, aber jetzt betreibt er obskure Geschäfte und ist – mit wechselnden Geliebten – Stammgast im Elternhaus der beiden Jugendlichen. Es ist ein Elternhaus ohne Eltern. Den Vater, so hieß es eines Morgens beim Frühstück, hat seine Firma, Unilever, nach Singapur beordert, die Mutter müsse ihn begleiten. Aber warum steht dann der Überseekoffer, so, wie sie ihn vor den Augen der Kinder gepackt hat, im Keller des Elternhauses?
Michael Ondaatje, 1943 in Sri Lanka geboren und schon lange kanadischer Schriftsteller in Toronto, hat vor Kurzem für seinen Weltbestseller „Der englische Patient“ (1992), den Anthony Minghella 1996 verfilmte, den „Golden Man Booker Prize“ erhalten. Der englische Patient war kein Engländer, sondern ein ungarischer Wüstenforscher und Spion am Endes des Zeiten Weltkriegs. Aber er stand im Dienst der Royal Geographic Society, und so war es unausweichlich, dass flugbegeisterte Engländer mit Oxford-Hintergrund in seinem Roman eine Rolle spielten. Dieser neue Roman nun, „Kriegslicht“, ist wie kein anderer dieses Autors ein durch und durch englischer Roman, im Stoff, im Schauplatz und im Arsenal der Formen, mit denen er spielt. Der englische Originaltitel „Warlight“ ruft den „Blitz“ herauf, den Bombenkrieg und die Luftangriffe, von denen das London der Nachkriegszeit gezeichnet ist. Zugleich setzt dieses Buch die Erkundung der Übergangszonen von Kindheit und Jugend fort, die Ondaatje im vorangegangenen Roman „The Cats Table“ (2011, dt. „Katzentisch“) begonnen hat. Der elfjährige Michael, auf einem Ozeandampfer von Colombo nach London unterwegs wie 1954 sein Autor, verwandelte das Schiff gemeinsam mit zwei Kumpanen in einen turbulenten Abenteuerspielplatz. Seine Ich-Erzählerstimme war aber nicht an die Überfahrt gebunden, sie enthielt Ausblicke auf die Zukunft, die den Immigranten erwartete, den prosaischen Alltag in London. Und erzählte die Geschichte einer zweiten Passage, der von der Kindheit in die Pubertät.
Nathaniel, der Ich-Erzähler in „Kriegslicht“, hat diesen Übergang, als die Handlung des Romans einsetzt, schon hinter sich. Er war bei Kriegsende vierzehn Jahre alt, die Kindheit hat er verlassen. Er richtet sich mit der älteren Schwester in der rätselhaften Elternlosigkeit ein. In Rachel, der Epileptikerin, konzentriert sich die Wut auf die Mutter, die ihre Kinder verlassen hat. Nathaniel aber bleibt ihr im gesamten Buch nahe, er wird nach ihrem Tod zum Erzähler der Lebensgeschichte, die sie ihren Kindern verschwiegen hat. Mit seinem Autor teilt er das Interesse an Landkarten, an Dingen, in denen kondensierte Erinnerung steckt, an Tieren und am Wissen der Naturkunde. Und das Desinteresse an einem überschaubaren Plot, die Lust an einer durchlöcherten Chronologie.
Als Erzähler ist er in den Passagen am stärksten, in denen Orte, Landschaften, Stimmungen die Hauptrolle spielen. So in der Beschreibung des umgerüsteten „Muschelboots“, mit dem der Boxer seine Geschäfte betreibt, den alten Kanälen und verborgenen Flussläufen, auf denen lange schon und im Zweiten Weltkrieg wieder Sprengstoff und Munition von Waltham Abbey nach London transportiert wurde. „Wir fuhren weiter durch das dunkle stille Wasser des Flusses mit dem Gefühl, er gehöre uns bis zur Mündung. Vorbei an Industriebauten mit abgedunkelter Beleuchtung, schwach schimmernd wie Sterne, als wären wir in einer Zeitkapsel in den Kriegsjahren, als Verdunklung und Ausgangssperre vorgeschrieben waren und es nur Kriegslicht gegeben hatte und ausschließlich verdunkelte Kähne diesen Flussabschnitt hatten befahren dürfen.“
Die Form, die diesem Erzähler am nächsten liegt, ist das Kaleidoskop. Es zeigt die Vergnügungsetablissements der Nachkriegszeit, hinreißende Nebenfiguren wie eine der Geliebten des Boxers, die selbstbewusste vorgebliche Ethnografin Olive Lawrence, den jungen Nathaniel als Liftboy und Tellerwäscher, dem ein Kollege erotische Fabeln aus seiner unerschöpflichen Sammlung erzählt, und es zeigt ihn mit Agnes, seiner ersten Geliebten in leeren, kriegsbeschädigten Häusern. Sein Autor Ondaatje hat viel mit Nathaniel vor. Er hat ihn zum Erzähler eines Romans gemacht, der zugleich eine Coming-of-Age-Erzählung, ein Agentenroman und die Geschichte der Aufklärung eines Familiengeheimnisses sein will. Das Scharnier ist die Mutter, Rose Williams, die nach 1945 als Agentin unter dem Decknamen „Viola“ an Operationen des britischen Geheimdienstes auf dem Balkan und in Italien beteiligt war. Was genau sie getan hat, will der Sohn erforschen. Der Vater hingegen gerät ihm rasch aus dem Blick.
Nathaniel hat, nachdem die Mutter aus dem Geheimdienst ausgeschieden war und ihre Vergangenheit zu löschen suchte, kurz mit ihr in ihrem Elternhaus an der Küste in Suffolk gewohnt, zwar kaum etwas von ihr erfahren, aber die Narben an ihren Armen gesehen. „Zehn Jahre nach dem Tod meiner Mutter wurde ich eingeladen, mich im Außenministerium zu bewerben.“ Mit diesem Satz öffnet Ondaatje seinem Helden den Zugang zu den Archiven des britischen Geheimdienstes, wo er Dossiers aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren zu sichten hat und dabei die Spuren seiner Mutter recherchieren kann. Aber der Satz enthüllt zugleich die Probleme, die sich Ondaatje einhandelt, indem er seine Jugend- und Familiengeschichte durch das Nadelöhr eines Agententhrillers fädelt. Denn es gibt in der Literatur so etwas wie einen Zauberlehrling-Effekt, den Widerstand der Formen gegen ihre allzu sorglose Inanspruchnahme. Und so scheitert der Erzähler bei seinem Versuch, einen Geheimdienstroman nach dem Vorbild von Eric Ambler oder John le Carré zum Wasserträger seines fragmentarischen Erinnerungsprojekts zu machen.
Was jemand wann weiß, ist im Agentenroman nicht unerheblich. „Zehn Jahre nach dem Tod meiner Mutter“ – der Erzähler arbeitet daran, aus dem Tod der Mutter den Mord hervortreten zu lassen, dem sie zum Opfer fiel. Aber als er diesen Satz schreibt, weiß der Erzähler längst, dass seine Mutter nicht einfach starb, sondern ermordet wurde. Und er zieht dieses Wissen nicht aus dem Archiv, sondern aus der Erinnerung an den Tag, an dem ihm der Nachbar in Suffolk den Tod der Mutter schilderte. Wie viele Figuren entpuppt sich dieser Nachbar als Teil der Geheimdienstwelt, aber seltsam, meist ist der Lebensfaden, der sie mit der Agententätigkeit verknüpft, uninteressanter als der Alltag, der ihre Geheimnisse verdeckt.
Das gilt für den Naturkundler und abgestürzten Dachdecker, der im Geliebten der Mutter steckt und mit ihr ein melodramatisches Abenteuer erlebt, und es gilt für den „Falter“, einen der Beschützer Nathaniels und seiner Schwester, der den Roman nicht überlebt. Im Original heißt er „Le Moth“, die Motte, vielleicht in Erinnerung an das Flugzeug „Tiger Moth“, das der Film „Der englische Patient“ so brillant in Szene setzte. Anna Leube hat in ihrer sorgfältigen, stilsicheren Übersetzung gut die Motte durch einen Falter ersetzt. Dadurch ist wenig verloren und ein bestimmter Artikel gewonnen, der sich unauffällig an die Figur anschmiegt.
„Meine Sünden sind vielfältig“, sagt die Mutter irgendwann, eine hingebungsvolle Balzac-Leserin. Es dürfte sich um ein Zitat handeln. Während der Geheimdienstroman eher vage im Niemandsland zwischen Zeitgeschichte und Kolportage endet, findet der Coming-of-Age-Roman, der schöne Passagen enthält, ebenfalls im Spiel mit einem Zitat an desillusionierendes Ende: „Früher lag ich die ganze Nacht wach und wünschte mir eine große Perle.“ Das erlesene Zitat stammt von Richard Parson (1759-1808), einem klassischen Philologen. Warum Agnes, das Kind der Arbeiterklasse, es im Mund führt, bleibt eines der Rätsel des Romans. Man halte sich bei seiner Lektüre an die Perlen, die in seinem Kaleidoskop versteckt sind.
Michael Ondaatje: Kriegslicht. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube. Carl Hanser Verlag, München 2018. 320 Seiten, 24 Euro.
Der Ich-Erzähler und seine
ältere Schwester richten sich
ein in der Elternlosigkeit
In Michael Ondaatjes „Kriegslicht“ ist die Erinnerung an den Blitz und die Bomben allgegenwärtig. Und in vielen Alltagsfiguren stecken Geheimdienstmitarbeiter.
Foto: imago stock&people
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Sünden
Meine Mutter, die Agentin: Michael Ondaatjes
Roman „Kriegslicht“ will im London der
Nachkriegszeit ein Geheimnis aufklären
VON LOTHAR MÜLLER
Ein eisiger Wind fegt Böen über das Wasser. Ein Lastkahn gleitet über die Themse, an Bord illegal importierte Windhunde, die lupenreine englische Stammbäume erhalten werden. Windhundrennen sind beliebt im England der Nachkriegszeit, Wettbetrug ist lukrativ, die Kunst des Hundedopings erlebt eine Hochblüte. Den Frachtkahn steuert ein Mann, den die beiden Jugendlichen, die mit im Boot sind, „Boxer“ nennen. Er stand wirklich einmal im Ring, aber jetzt betreibt er obskure Geschäfte und ist – mit wechselnden Geliebten – Stammgast im Elternhaus der beiden Jugendlichen. Es ist ein Elternhaus ohne Eltern. Den Vater, so hieß es eines Morgens beim Frühstück, hat seine Firma, Unilever, nach Singapur beordert, die Mutter müsse ihn begleiten. Aber warum steht dann der Überseekoffer, so, wie sie ihn vor den Augen der Kinder gepackt hat, im Keller des Elternhauses?
Michael Ondaatje, 1943 in Sri Lanka geboren und schon lange kanadischer Schriftsteller in Toronto, hat vor Kurzem für seinen Weltbestseller „Der englische Patient“ (1992), den Anthony Minghella 1996 verfilmte, den „Golden Man Booker Prize“ erhalten. Der englische Patient war kein Engländer, sondern ein ungarischer Wüstenforscher und Spion am Endes des Zeiten Weltkriegs. Aber er stand im Dienst der Royal Geographic Society, und so war es unausweichlich, dass flugbegeisterte Engländer mit Oxford-Hintergrund in seinem Roman eine Rolle spielten. Dieser neue Roman nun, „Kriegslicht“, ist wie kein anderer dieses Autors ein durch und durch englischer Roman, im Stoff, im Schauplatz und im Arsenal der Formen, mit denen er spielt. Der englische Originaltitel „Warlight“ ruft den „Blitz“ herauf, den Bombenkrieg und die Luftangriffe, von denen das London der Nachkriegszeit gezeichnet ist. Zugleich setzt dieses Buch die Erkundung der Übergangszonen von Kindheit und Jugend fort, die Ondaatje im vorangegangenen Roman „The Cats Table“ (2011, dt. „Katzentisch“) begonnen hat. Der elfjährige Michael, auf einem Ozeandampfer von Colombo nach London unterwegs wie 1954 sein Autor, verwandelte das Schiff gemeinsam mit zwei Kumpanen in einen turbulenten Abenteuerspielplatz. Seine Ich-Erzählerstimme war aber nicht an die Überfahrt gebunden, sie enthielt Ausblicke auf die Zukunft, die den Immigranten erwartete, den prosaischen Alltag in London. Und erzählte die Geschichte einer zweiten Passage, der von der Kindheit in die Pubertät.
Nathaniel, der Ich-Erzähler in „Kriegslicht“, hat diesen Übergang, als die Handlung des Romans einsetzt, schon hinter sich. Er war bei Kriegsende vierzehn Jahre alt, die Kindheit hat er verlassen. Er richtet sich mit der älteren Schwester in der rätselhaften Elternlosigkeit ein. In Rachel, der Epileptikerin, konzentriert sich die Wut auf die Mutter, die ihre Kinder verlassen hat. Nathaniel aber bleibt ihr im gesamten Buch nahe, er wird nach ihrem Tod zum Erzähler der Lebensgeschichte, die sie ihren Kindern verschwiegen hat. Mit seinem Autor teilt er das Interesse an Landkarten, an Dingen, in denen kondensierte Erinnerung steckt, an Tieren und am Wissen der Naturkunde. Und das Desinteresse an einem überschaubaren Plot, die Lust an einer durchlöcherten Chronologie.
Als Erzähler ist er in den Passagen am stärksten, in denen Orte, Landschaften, Stimmungen die Hauptrolle spielen. So in der Beschreibung des umgerüsteten „Muschelboots“, mit dem der Boxer seine Geschäfte betreibt, den alten Kanälen und verborgenen Flussläufen, auf denen lange schon und im Zweiten Weltkrieg wieder Sprengstoff und Munition von Waltham Abbey nach London transportiert wurde. „Wir fuhren weiter durch das dunkle stille Wasser des Flusses mit dem Gefühl, er gehöre uns bis zur Mündung. Vorbei an Industriebauten mit abgedunkelter Beleuchtung, schwach schimmernd wie Sterne, als wären wir in einer Zeitkapsel in den Kriegsjahren, als Verdunklung und Ausgangssperre vorgeschrieben waren und es nur Kriegslicht gegeben hatte und ausschließlich verdunkelte Kähne diesen Flussabschnitt hatten befahren dürfen.“
Die Form, die diesem Erzähler am nächsten liegt, ist das Kaleidoskop. Es zeigt die Vergnügungsetablissements der Nachkriegszeit, hinreißende Nebenfiguren wie eine der Geliebten des Boxers, die selbstbewusste vorgebliche Ethnografin Olive Lawrence, den jungen Nathaniel als Liftboy und Tellerwäscher, dem ein Kollege erotische Fabeln aus seiner unerschöpflichen Sammlung erzählt, und es zeigt ihn mit Agnes, seiner ersten Geliebten in leeren, kriegsbeschädigten Häusern. Sein Autor Ondaatje hat viel mit Nathaniel vor. Er hat ihn zum Erzähler eines Romans gemacht, der zugleich eine Coming-of-Age-Erzählung, ein Agentenroman und die Geschichte der Aufklärung eines Familiengeheimnisses sein will. Das Scharnier ist die Mutter, Rose Williams, die nach 1945 als Agentin unter dem Decknamen „Viola“ an Operationen des britischen Geheimdienstes auf dem Balkan und in Italien beteiligt war. Was genau sie getan hat, will der Sohn erforschen. Der Vater hingegen gerät ihm rasch aus dem Blick.
Nathaniel hat, nachdem die Mutter aus dem Geheimdienst ausgeschieden war und ihre Vergangenheit zu löschen suchte, kurz mit ihr in ihrem Elternhaus an der Küste in Suffolk gewohnt, zwar kaum etwas von ihr erfahren, aber die Narben an ihren Armen gesehen. „Zehn Jahre nach dem Tod meiner Mutter wurde ich eingeladen, mich im Außenministerium zu bewerben.“ Mit diesem Satz öffnet Ondaatje seinem Helden den Zugang zu den Archiven des britischen Geheimdienstes, wo er Dossiers aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren zu sichten hat und dabei die Spuren seiner Mutter recherchieren kann. Aber der Satz enthüllt zugleich die Probleme, die sich Ondaatje einhandelt, indem er seine Jugend- und Familiengeschichte durch das Nadelöhr eines Agententhrillers fädelt. Denn es gibt in der Literatur so etwas wie einen Zauberlehrling-Effekt, den Widerstand der Formen gegen ihre allzu sorglose Inanspruchnahme. Und so scheitert der Erzähler bei seinem Versuch, einen Geheimdienstroman nach dem Vorbild von Eric Ambler oder John le Carré zum Wasserträger seines fragmentarischen Erinnerungsprojekts zu machen.
Was jemand wann weiß, ist im Agentenroman nicht unerheblich. „Zehn Jahre nach dem Tod meiner Mutter“ – der Erzähler arbeitet daran, aus dem Tod der Mutter den Mord hervortreten zu lassen, dem sie zum Opfer fiel. Aber als er diesen Satz schreibt, weiß der Erzähler längst, dass seine Mutter nicht einfach starb, sondern ermordet wurde. Und er zieht dieses Wissen nicht aus dem Archiv, sondern aus der Erinnerung an den Tag, an dem ihm der Nachbar in Suffolk den Tod der Mutter schilderte. Wie viele Figuren entpuppt sich dieser Nachbar als Teil der Geheimdienstwelt, aber seltsam, meist ist der Lebensfaden, der sie mit der Agententätigkeit verknüpft, uninteressanter als der Alltag, der ihre Geheimnisse verdeckt.
Das gilt für den Naturkundler und abgestürzten Dachdecker, der im Geliebten der Mutter steckt und mit ihr ein melodramatisches Abenteuer erlebt, und es gilt für den „Falter“, einen der Beschützer Nathaniels und seiner Schwester, der den Roman nicht überlebt. Im Original heißt er „Le Moth“, die Motte, vielleicht in Erinnerung an das Flugzeug „Tiger Moth“, das der Film „Der englische Patient“ so brillant in Szene setzte. Anna Leube hat in ihrer sorgfältigen, stilsicheren Übersetzung gut die Motte durch einen Falter ersetzt. Dadurch ist wenig verloren und ein bestimmter Artikel gewonnen, der sich unauffällig an die Figur anschmiegt.
„Meine Sünden sind vielfältig“, sagt die Mutter irgendwann, eine hingebungsvolle Balzac-Leserin. Es dürfte sich um ein Zitat handeln. Während der Geheimdienstroman eher vage im Niemandsland zwischen Zeitgeschichte und Kolportage endet, findet der Coming-of-Age-Roman, der schöne Passagen enthält, ebenfalls im Spiel mit einem Zitat an desillusionierendes Ende: „Früher lag ich die ganze Nacht wach und wünschte mir eine große Perle.“ Das erlesene Zitat stammt von Richard Parson (1759-1808), einem klassischen Philologen. Warum Agnes, das Kind der Arbeiterklasse, es im Mund führt, bleibt eines der Rätsel des Romans. Man halte sich bei seiner Lektüre an die Perlen, die in seinem Kaleidoskop versteckt sind.
Michael Ondaatje: Kriegslicht. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube. Carl Hanser Verlag, München 2018. 320 Seiten, 24 Euro.
Der Ich-Erzähler und seine
ältere Schwester richten sich
ein in der Elternlosigkeit
In Michael Ondaatjes „Kriegslicht“ ist die Erinnerung an den Blitz und die Bomben allgegenwärtig. Und in vielen Alltagsfiguren stecken Geheimdienstmitarbeiter.
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"Eltern verschwinden, zwei Geschwister sind in London auf sich zurückgeworfen. Behutsam erzählt, aus Sicht der Kinder." Susanne Mayer, Die Zeit, 22.11.18
"Ein poetischer Agentenroman voller Spannung und überraschender Wendungen, erzählt von einem absoluten Könner." Zeit Literatur, 41/2018
"Das ist eine wirkliche literarische Tat ... Sehr, sehr empfehlenswert." Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 07.10.18
"Ondaatje beschreibt atmosphärisch so dicht, dass man gerne mit ihm nach den Bruchstücken welcher Wahrheit auch immer sucht. Der kanadische Schriftsteller ist eben ein Großmeister seiner Zunft". Antje Weber, Süddeutsche Zeitung, 08.09.18
"Bereits Ondaatjes erster Satz packt den Leser und wird ihn 300 Seiten lang nicht mehr loslassen: 'Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherwiese Kriminelle waren.'" Sigrid Löffler, Ö1 Ex libris, 02.09.18
"Ondaatjes Roman liest sich wie eine verspätete, fabelhafte B-Seite des 'englischen Patienten': Wieder ist es eine große Erzählung über das Trauma des Krieges und die Träume danach." Christoph Farkas, Stern, 30.08.18
"Die Ondaatje-Atmosphäre nimmt einen in 'Kriegslicht' erneut gefangen." Sacha Verna, NZZ am Sonntag, 26.08.18
"Ein packender Roman von der ersten bis zur letzten Seite." Sigrid Löffler, Deutschlandfunk Kultur, 23.08.18
"Ein atmosphärisch starkes Buch, das auch von den unausgesprochenen Traumata des Krieges erzählt." Christoph Schröder, Deutschlandfunk, 20.08.18
"Es sind Zwischenstufen, Grautöne, unmerkliche Übergänge sowie feinste Abschattierungen, die 'Kriegslicht' derart faszinierend anreichern." Tobias Döring, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.18
"Sensationell. Ein richtig aufregendes Thema." Thea Dorn, ZDF Literarisches Quartett, 10.08.18
"'Kriegslicht' ist ein Roman großer literarischer Könnerschaft, mit der Routine eines brillanten Autors geschrieben." Thomas E. Schmidt, Die Zeit, 09.08.18
"Michael Ondaatje fühlt sich als Autor wohl im Dunkel, dort wo unter der Oberfläche des für alle Sichtbaren eine zweite Welt existiert, in der sich seine Figuren bewegen ... Wir haben es mit Agenten zu tun. Mit Menschen, die verschlüsselte Botschaften senden ... Wenn Ondaatje loserzählt, wachsen seinem Roman Flügel." Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.08.18
"Je länger Sie ihn lesen, desto wacher werden Sie es tun. Es sind so viele Schönheiten in diesen Text eingewoben ... Ein Glücksgefühl." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 11.08.18
"Der Roman hat nur gut 300 Seiten, aber wirkt erfüllend wie ein Epos, der das Wesen einer Ära einfängt."Anne Haeming, Spiegel Online, 11.08.18
"Ein poetischer Agentenroman voller Spannung und überraschender Wendungen, erzählt von einem absoluten Könner." Zeit Literatur, 41/2018
"Das ist eine wirkliche literarische Tat ... Sehr, sehr empfehlenswert." Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 07.10.18
"Ondaatje beschreibt atmosphärisch so dicht, dass man gerne mit ihm nach den Bruchstücken welcher Wahrheit auch immer sucht. Der kanadische Schriftsteller ist eben ein Großmeister seiner Zunft". Antje Weber, Süddeutsche Zeitung, 08.09.18
"Bereits Ondaatjes erster Satz packt den Leser und wird ihn 300 Seiten lang nicht mehr loslassen: 'Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherwiese Kriminelle waren.'" Sigrid Löffler, Ö1 Ex libris, 02.09.18
"Ondaatjes Roman liest sich wie eine verspätete, fabelhafte B-Seite des 'englischen Patienten': Wieder ist es eine große Erzählung über das Trauma des Krieges und die Träume danach." Christoph Farkas, Stern, 30.08.18
"Die Ondaatje-Atmosphäre nimmt einen in 'Kriegslicht' erneut gefangen." Sacha Verna, NZZ am Sonntag, 26.08.18
"Ein packender Roman von der ersten bis zur letzten Seite." Sigrid Löffler, Deutschlandfunk Kultur, 23.08.18
"Ein atmosphärisch starkes Buch, das auch von den unausgesprochenen Traumata des Krieges erzählt." Christoph Schröder, Deutschlandfunk, 20.08.18
"Es sind Zwischenstufen, Grautöne, unmerkliche Übergänge sowie feinste Abschattierungen, die 'Kriegslicht' derart faszinierend anreichern." Tobias Döring, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.18
"Sensationell. Ein richtig aufregendes Thema." Thea Dorn, ZDF Literarisches Quartett, 10.08.18
"'Kriegslicht' ist ein Roman großer literarischer Könnerschaft, mit der Routine eines brillanten Autors geschrieben." Thomas E. Schmidt, Die Zeit, 09.08.18
"Michael Ondaatje fühlt sich als Autor wohl im Dunkel, dort wo unter der Oberfläche des für alle Sichtbaren eine zweite Welt existiert, in der sich seine Figuren bewegen ... Wir haben es mit Agenten zu tun. Mit Menschen, die verschlüsselte Botschaften senden ... Wenn Ondaatje loserzählt, wachsen seinem Roman Flügel." Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.08.18
"Je länger Sie ihn lesen, desto wacher werden Sie es tun. Es sind so viele Schönheiten in diesen Text eingewoben ... Ein Glücksgefühl." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 11.08.18
"Der Roman hat nur gut 300 Seiten, aber wirkt erfüllend wie ein Epos, der das Wesen einer Ära einfängt."Anne Haeming, Spiegel Online, 11.08.18
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
In Michael Ondaatjes Roman "Kriegslicht" geht es laut Rezensent Arno Widmann um den Sohn einer Geheimdienstagentin im Britannien der Nachkriegszeit, der erst spät entdeckt, warum er und seine Schwester immer wieder bedroht wurden und zu ihrem eigenen Schutz bei zwielichtigen Freunden der Familie aufwachsen mussten. Außerdem handele das Buch von einem Freeclimber, der nachts auf Londoner Häuserfassaden anderen Adrenalinsüchtigen begegne. Gerade weil der Roman von Extremsituationen erzählt, kann er umso besser zeigen, wie die Menschen wirklich sind, findet der Rezensent. Außerdem hat ihn die liebevolle Komposition der Geschichte mit ihren vielen Bezügen und Rückbezügen stark beeindruckt. Eine klare Empfehlung ist dem begeisterten Rezensenten fast zu wenig, er sieht den Roman als regelrechtes Muss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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