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Russische Familiengeschichte über drei Generationen: Sergej Lebedews neuer Roman "Kronos' Kinder"
Das Deutsche hat nicht oft Eingang in andere Sprachen gefunden. Im Englischen ist der "kindergarten" bekannt, im Russischen gibt es den "schtrejkbrecher". Der russische Adel im neunzehnten Jahrhundert beherrschte das Deutsche jedoch blendend, neben Französisch und teils auch Englisch. Sergej Lebedew lässt in seinem bisher vielleicht besten Werk "Kronos' Kinder" seinen Protagonisten Kirill, einen etwa vierzigjährigen Historiker, dessen eigene Familiengeschichte aufarbeiten. Von den deutschen Wurzeln hat Kirill lange nichts gewusst. Aber im Dorf gab es den Veteranen Spieß, der eines Tages den Ganter Fritz - den "Gus Friz" des Originaltitels - tötet, weil er ihn für einen Faschisten hält. Kirill versteht leidlich Deutsch, spricht es noch schlechter und "fühlt" die Vergangenheit daher meist. Mit Empathie und der Lektüre des großmütterlichen Archivs aus Postkarten, Briefen und Tagebüchern sowie einiger KGB-Ermittlungsakten will er ihr beikommen. Und damit zu den Schwächen dieses Romans.
Da wäre die Übersetzung von Franziska Zwerg. Über die Wiedergabe einiger Begriffe ließe sich streiten. Für "parniki" wählt Zwerg "Gewächshäuser", diese sind auf einer Datscha untergebracht und werden bei Gewitter vom Protagonisten und seiner Oma abgedeckt; "Frühbeete" träfe es vermutlich besser, der russische Ausdruck bedeutet beides. Irritierender sind jedoch Beispiele wie "hindurchkriechte" oder "das Tribut". Ein simpler Satz gleich zu Beginn eignet sich gut zur Illustration: "Auch Spinnweben und darin gefangenes Insekt sind zu sehen - ein Libellenflügel glitzert wie zerbrochener Quarz!" Diese Beobachtung soll aus der Perspektive des kleinen Kirill erfolgen. Dafür wählt Lebedew "bukaschki", im Original Plural, was sich mit "Krabbeltierchen" wiedergeben ließe. Ein "gljadi" fällt ganz weg. Diese Interjektion ist in der Tat schwer zu transponieren und hier der Kindersprache geschuldet, also etwa: "Boah, da glitzert auch noch ein Libellenflügel."
Literarisch zeigen sich die Schwächen, die auch Lebedews bisherige Romane prägen: Von einem Spannungsbogen kann kaum die Rede sein, dazu ist das Buch ein wenig zu verschwatzt, und wenn Kirill über drei Generationen hinweg seine Familiengeschichte nachzeichnet, dienen ihm die Mitglieder nur als Aufhänger für historische Ereignisse. Selbst auf die Umstände seiner eigenen Verhaftung geht er nicht näher ein, da er meint, sie habe ihn nur "als Erben des Familienschicksals" ereilt, als Teil einer Gemeinschaft, der er "angehörte durch das Recht des Bluts, in dem alle Zeiten und der gestirnte Himmel flossen". Man ahnt es schon: Es geht seitenlang um Auserwähltheit, Messiasgedanken und die apostelgleiche Mission von Urahn Balthasar.
Trotz dieser Abstriche bleibt jedoch einiges, was lesenswert ist. Lebedews Stärke liegt in der Gestaltung einzelner Szenen. Hier zeichnet er detailreich die Atmosphäre einer Epoche nach. Die desolate Wirtschaftssituation in den neunziger Jahren, ein wiederkehrendes Thema bei ihm, stellt er ebenso packend dar wie den russisch-japanischen Krieg, die Leningrader Blockade, die Enteignungen der Deutschen während der beiden Weltkriege oder das zunehmende Misstrauen der Menschen untereinander. Einwanderung charakterisiert er letztlich als Geschäft, bei dem es auf allen Seiten um Märkte und billige Arbeitskräfte geht. Wie es in der ereignisdichten ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gärt, wie jeder seine Schäflein ins Trockene bringen will, stellt er an Einzelbeispielen plastisch dar. Angst und Gier - das sind die Triebfedern menschlichen Tuns.
Für die russische Seite skizziert Lebedew zudem Kontinuitäten über gesellschaftliche Umbrüche hinweg, auch dies ein zentrales Anliegen von ihm. "Beim Durchblättern der antideutschen Regierungsdokumente sah Kirill, wie in Russland der Totalitarismus geboren wurde - noch vor dem Machtantritt der Bolschewiki -, und wie ein repressiver Staat entstand, wie in der Gesellschaft die Bereitschaft wuchs, den Terror gutzuheißen, überall ,Fremde', Werwölfe, Agenten des Bösen aufzuspüren, die schuld an allem Elend im Lande waren: dass das Korn nicht reichte, dass die Primuskocher explodierten." Was das Land im Innersten zusammenhält, ist ein Übel, "für das Zarentum oder Kommunismus nur äußerliche Masken sind".
Den Historiker Kirill braucht Lebedew literarisch einzig, um ihn die Vergangenheit "fühlen" zu lassen und somit von der Notwendigkeit des Quellenverweises zu entbinden, der für ein Sachbuch unentbehrlich wäre. Wer sich darauf einlässt, erhält sinnfällige, alltagsgeschichtliche Episoden. Und die Moral von der Geschichte? Was auch immer Russen und Deutsche verbindet - eines lässt sich über den Menschen festhalten: Er ist dem anderen ein Wolf.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Sergej Lebedew: "Kronos' Kinder". Roman.
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 384 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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