Als seine Freundin verunglückt und er in ein tiefes Loch zu stürzen droht, beschließt Edgar Bendler, nach Hiddensee zu fliehen – auf jene legendenumwobene Insel, die schon vielen Gestrandeten als Zuflucht diente. Er wird Abwäscher im Klausner, einer Kneipe hoch über dem Meer, und lernt Alexander Krusowitsch kennen – Kruso. Eine schwierige, zärtliche Freundschaft beginnt. Von Kruso, dem Meister und Inselpaten, wird Ed eingeweiht in die Rituale der Saisonarbeiter und die Gesetze ihrer Nächte. Nach und nach erschließen sich ihm die Geheimnisse der Insel und des Klausners. Als Ed schon glaubt, wieder einen Platz im Leben gefunden zu haben, erschüttert der Herbst 89 das fragile Gefüge der Inselbewohner. Am Ende steht ein Kampf auf Leben und Tod – und ein Versprechen. Inselabenteuer und Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft – Lutz Seilers preisgekrönter Roman schlägt einen Bogen vom Sommer 89 bis in die Gegenwart. Die einzigartige Recherche, die diesem Buch zugrunde liegt, folgt den Spuren jener Menschen, die bei ihrer Flucht über die Ostsee verschollen sind, und führt uns dabei bis nach Kopenhagen, in die Katakomben der dänischen Staatspolizei.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Alexander Cammann ist von Lutz Seilers erstem Roman "Kruso" restlos begeistert und bekundet dem Autor den Schritt in die erste Reihe der zeitgenössischen deutschen Literaten, in die er als Dichter ohnehin schon gehörte, so der Rezensent. Der Debütroman erzählt die Geschichte von Edgar "Ed" Bendler, von Alexander "Kruso" Krusowitsch und vom Mythos Hiddensee, dem ehemals "freisten Fleck" der DDR, berichtet Cammann. Es geht um die Frage, wie Freiheit möglich ist und wie viel Führung, Verführung und Gefolgschaft sie verträgt, erklärt der Rezensent. Kruso sieht die Insel als ersten Schritt auf dem Weg zu seiner persönlichen Utopie, einer skurrilen "Männerherrschaftsidee": "Der Keim der wahren Freiheit, Ed, gedeiht in Unfreiheit", zitiert der Rezensent. Es ist das Jahr 1989 und nach und nach verlassen die Eingeschworenen die Insel, bis nur noch Ed und Kruso übrig sind und schließlich aneinander geraten, fasst der Rezensent zusammen, der Seiler noch viele Huldigungen prophezeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.09.2014Auf der Insel des zweiten Gesichts
In seinem ersten Roman erzählt der Lyriker Lutz Seiler von Schiffbrüchigen des Lebens –
und vom Sommer des Jahres 1989, der dem Mauerfall vorausging: „Kruso“ ist ein Sprachereignis
VON LOTHAR MÜLLER
Wo Meeresungeheuer hinter Abflussgittern lauern, der Wind über eine Erdorgel aus Flaschenhälsen streicht, die aus Maulwurfshügeln herausragen, wo graue Patrouillenboote sich vor den Horizont schieben und im Hafen immer neue Schiffbrüchige eintreffen, dort hat der Schriftsteller Lutz Seiler seinen ersten Roman angesiedelt. Man kann diese Insel auf der Landkarte finden, sie heißt Hiddensee, und man kann den Sommer und Herbst des Jahres 1989, in dem der Roman spielt, in den aktuellen Rückblicken auf das Poröswerden der Nachkriegsordnung und ihrer Grenzen finden. Aber wer diesen Roman liest, der gerät auf eine Insel des zweiten Gesichts, und hinein in den Sog einer Sprachbewegung, die den Stoff der Zeitgeschichte mit sich nimmt und ins Reich der Legenden und Abenteuergeschichten entführt.
Langsam hat sich der Prosaautor Lutz Seiler aus dem Lyriker herausgeschält, in der Essaysammlung „Sonntags dachte ich an Gott“ (2004) und dem Erzählungsband „Die Zeitwaage“ (2009), und immer blieb dabei die Herkunftswelt sichtbar. In Thüringen, in Gera, ist Lutz Seiler 1963 geboren worden, durch seinen Gedichtband „pech & blende“ (2000) spukte die Erinnerung an das Dorf Culmitzsch, aus dem seine Familie umgesiedelt worden war, weil es zugunsten des Uranbergbaus geschleift wurde, und in den Verszeilen glühte die Strahlung, die in die Körper der Bergleute einging und zwei Rhythmen koppelte, den des Herzschlags und den der Geigerzähler.
Seiler ist von Thüringen nach Preußen gewandert, mit einer NVA-Zeit in den Knochen, der Ausbildung zum Maurer und Zimmermann, und den Lektüren eines germanistischen Studiums im Kopf, hat in Brandenburg Wurzeln geschlagen, in dem Haus in Wilhelmshorst bei Berlin, in dem einst der Dichter Peter Huchel wohnte, ehe er, von den Behörden drangsaliert, die DDR verließ.
In seiner Lyrik wie in seiner Prosa gab es schon vor diesem Roman mit dem Inselabenteuertitel „Kruso“ das Rauschen des Meeres. „Fünfzehn Mann auf des Totenmannes Kiste“ singen er und seine Mitschüler auf ihren Bergwanderungen, ein Gedichtanfang hält den Gesang der Landratten fest: „wir lagen vor madagaskar und hatten / die welt / und das thema verfehlt: wir lagen / vor gera vor krossen . . .“.
Zwei Zeilen vor allem führen aus den maritimen Einsprengseln, die in Seilers Gedichten über die tellurisch-thüringischen Regionen des Uranabbaus die Gischtspritzer der Abenteuerlust und Seefahrt niedergehen lassen, zu diesem Romanerstling: „und hatten die Pest an Bord“ ist die erste, „in den Kesseln, da faulte das Wasser“ die zweite. Denn der Schauplatz in „Kruso“ ist nicht nur Insel, also Zuflucht der Schiffbrüchigen, er ist zugleich selber Schiff, das dem Untergang entgegentaumelt, und dieses Schiff hat einen Namen: Es ist „Der Klausner“, die Gastwirtschaft, in der Edgar Bendler, genannt „Ed“, Zuflucht als Aushilfskraft in der Küche findet.
Er ist aus seinem Studentenleben in Halle verschwunden, der tödliche Unfall seiner Freundin tritt erst im Fortgang des Romans als Motiv deutlich ins Licht, und er trägt den Namen, den in den 1970ern Edgar Wibeau trug, der Held in Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ Auf Hiddensee landet er in der Welt der „SKs“, der Saisonkräfte, die in der Gastronomie der Insel aushelfen, wenn die Massen der Werktätigen anreisen, er landet in der Welt, in der schon in Christoph Heins Erzählung „Der Tangospieler“ (1989) der Held als Saisonkellner Zuflucht fand.
Hiddensee, das „Capri des Nordens“, wird in diesem Sommer des Jahres 1989 zur Arche für viele, die einen inneren Ausreiseantrag gestellt, das Land verlassen haben, ohne seine Grenzen zu überqueren, und Kruso, der dem Roman den Titel gibt, ist das Zentrum dieser Kolonie von Schiffbrüchigen. Alexander Krusowitsch, halb Russe, halb Deutscher, Sohn eines Generals und einer verunglückten Zirkusartistin, geboren im Jahr des Mauerbaus 1961, ist mit dem Robinson aus Daniel Defoes Roman nur entfernt verwandt, nicht eine Kaufmannsreise hat ihn zum Schiffbrüchigen gemacht, sondern ein Lebensverlust: das Verschwinden seiner älteren Schwester Sonja vor der Küste Hiddensees, so wie in Ed, der zu seinem Freitag wird, die tote Freundin aus Halle spukt.
Vor allem durch die Toten wird Hiddensee in „Kruso“ zur Insel des zweiten Gesichts. Viele sind anonym, bei Fluchtversuchen untergegangen weit vor der dänischen Insel, die sie erreichen wollten, irgendwo in einem Koordinatennetz, das phantastisch ist, illusorisch, erfunden. Kruso weiß, dass die offiziellen Karten, auf denen die Insel verzeichnet ist, illusorisch sind: „Es ist der Abstand, der niemals stimmt, die gefälschte Größe des Meeres, gefälschte Weite, falscher Horizont.“
Lutz Seilers Roman ist ein Gegenzauber: Er vermisst die Insel neu, und wie er das tut, macht ihn in der Literatur dieses Herbstes zum Sprachereignis. Sein Wappentier ist der Lurch, das Meeresungeheuer, das es aus den alten Seefahrergeschichten unter das Abflussgitter im Abwaschraum des „Klausner“ verschlagen hat. Gäbe es eine Trophäe, die für eine Literatur der Arbeitswelt verliehen wird, in der noch die niedersten, ekligsten Pflichten mit dem Heroismus erfüllt werden, mit dem in alten Epen Schlachten geschlagen werden, Lutz Seiler müsste diese Trophäe für seine Schilderung der Abwaschorgien erhalten, in denen Robinson, Freitag und ihre Mitstreiter den Speiseresten und Glitschigkeiten Paroli bieten.
Der Lurch ist das Gestalt gewordene Ungeheuer der Kessel mit den faulenden Wassern: „eine Unzahl langer, offensichtlich menschlicher Haare, von dem das schleimgraue Wesen wie geädert schien; ähnlich dem Gespinst von Blutbahnen auf der Oberfläche eines frisch entblößten Organs“. Wer die Abenteuer- und Seeromane liebt, der trifft in diesem „Kruso“ auf ihre unheimliche und zugleich untergründig komische Travestie.
Die Saisonarbeiter werden zu nackten Matrosen, die nicht das Deck, sondern die Küche schrubben, und unter Deck tut Ed als Heizer Dienst, und wie bei Melville oder Joseph Conrad sind in das Seemannsgarn philosophische Pointen eingewebt, nur eben in einer Welt des Abfalls, des Ausschusses und der Reste, in der der Kampf gegen die Ungeheuer aus der Reparatur eines verstopften Abflusses hervorgeht.
Der Fregattenkapitän und seine Soldaten werden wie die Suchscheinwerfer, die über die Ostsee gleiten, in den Sog dieser Mischung aus Abenteuerroman und aufgeschäumter Arbeitswelt hineingezogen, während aus dem Radio der Marke Violetta, das als „Viola“ zu den Hauptfiguren des Romans zählt, mehr oder weniger verlässlich die Melodie Haydns ertönt, die den Tag beschließt, und tagsüber mehr und mehr Nachrichten über Menschen, die sich Richtung Ungarn aufmachen.
Die Nachrichten kommen aus dem Off, aus der Zeitgeschichte, die der Roman seinem eigenen Formgesetz unterstellt. Der Abenteuerroman der Schiffbrüchigen, die aus der Gesellschaft in eine Gemeinschaft der Freiheitssehnsucht, der bizarren Rituale der Verteilung von Schlafstätten und Sex geflüchtet sind, ist nur das eine Element. Aus ihm geht die keineswegs idyllische, von Punkmusik umspülte Gegenwelt zur Staatsmacht hervor, die in Gestalt eines Stasi-Offiziers nichts mehr ausrichten kann. Und das „Strahleninstitut“, in dem Kruso aufwuchs, wird am Ende für den verletzten Ed zur Rettungsstation – hier treffen sich Zeitgeschichte und Schiffbruch.
Das andere ist die „Poetik des Abwaschs“, die Schilderung des Herauswachsens von Gedichten aus dem Gemurmel und den Rhythmen, die beim Umrühren des „faulenden Wassers“ in den Kesseln des „Klausners“ entstehen.
Edgar hat von Beginn an einen drängenden Vorrat von „Beständen“ im Kopf, auswendig gelernte Gedichte, auch Kruso arbeitet an einem Manuskript, die Sonja aus Georg Trakls Gedicht verschmilzt mit seiner Schwester, der ausrangierte Wissenschaftler „Rimbaud“ macht den „Klausner“ zu einem der trunkenen Schiffe der Moderne, und als Schutzpatron des Schwungs, mit dem die Poesie die Schwellen des Ekligen und der Fäkalsprache unterspült, taucht aus zerfledderten Büchern das Porträt Antonin Artauds auf. Die Toten aber bestattet der Roman am Ende in einem nüchterneren Abspann, in dem Ed aus der dritten Person heraustritt und in der Ich-Form von seiner Recherche über die Ertrunkenen berichtet, die von Hiddensee Richtung Dänemark aufbrachen.
Lutz Seiler ist in „Kruso“ zum Romanautor geworden, das ja. Aber dies ist zugleich ein „Porträt des Künstlers als junger Mann“, die Geschichte der Entstehung eines Autors, für den – wie für Kruso und Rimbaud – die Gedichte „das Heiligste“ sind. Die körpernahe, landschaftsnahe Sprache hat Lutz Seilers Lyrik von Beginn an geprägt, die Nähe zu Auge und Ohr, Tastsinn und Geruch, und ebenso die Aufmerksamkeit auf die jüngstvergangene Technik, die Trafos, analogen Uhren und Werkzeuge. „Kruso“ überführt die Sprache der Gedichte in Ganzkörperprosa. Dieser Roman über den historischen Sommer 1989 ist ein Leuchtturm, kein Elfenbeinturm.
Hiddensee wird zur Arche
für viele, die einen inneren
Ausreiseantrag gestellt haben
„Die Insel war stellenweise so schmal, dass man zu beiden Seiten das Wasser sehen konnte. Links das Meer aus Silber, rechts der Bodden, ein dunkelblaues Glas, fast schwarz.“ Blick zum Leuchtturm der Insel Hiddensee, auf der Lutz Seilers Held Edgar als Saisonkraft anheuert.
Foto: imago/IPON
Lutz Seiler: Kruso. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 484 Seiten, 22,95 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem ersten Roman erzählt der Lyriker Lutz Seiler von Schiffbrüchigen des Lebens –
und vom Sommer des Jahres 1989, der dem Mauerfall vorausging: „Kruso“ ist ein Sprachereignis
VON LOTHAR MÜLLER
Wo Meeresungeheuer hinter Abflussgittern lauern, der Wind über eine Erdorgel aus Flaschenhälsen streicht, die aus Maulwurfshügeln herausragen, wo graue Patrouillenboote sich vor den Horizont schieben und im Hafen immer neue Schiffbrüchige eintreffen, dort hat der Schriftsteller Lutz Seiler seinen ersten Roman angesiedelt. Man kann diese Insel auf der Landkarte finden, sie heißt Hiddensee, und man kann den Sommer und Herbst des Jahres 1989, in dem der Roman spielt, in den aktuellen Rückblicken auf das Poröswerden der Nachkriegsordnung und ihrer Grenzen finden. Aber wer diesen Roman liest, der gerät auf eine Insel des zweiten Gesichts, und hinein in den Sog einer Sprachbewegung, die den Stoff der Zeitgeschichte mit sich nimmt und ins Reich der Legenden und Abenteuergeschichten entführt.
Langsam hat sich der Prosaautor Lutz Seiler aus dem Lyriker herausgeschält, in der Essaysammlung „Sonntags dachte ich an Gott“ (2004) und dem Erzählungsband „Die Zeitwaage“ (2009), und immer blieb dabei die Herkunftswelt sichtbar. In Thüringen, in Gera, ist Lutz Seiler 1963 geboren worden, durch seinen Gedichtband „pech & blende“ (2000) spukte die Erinnerung an das Dorf Culmitzsch, aus dem seine Familie umgesiedelt worden war, weil es zugunsten des Uranbergbaus geschleift wurde, und in den Verszeilen glühte die Strahlung, die in die Körper der Bergleute einging und zwei Rhythmen koppelte, den des Herzschlags und den der Geigerzähler.
Seiler ist von Thüringen nach Preußen gewandert, mit einer NVA-Zeit in den Knochen, der Ausbildung zum Maurer und Zimmermann, und den Lektüren eines germanistischen Studiums im Kopf, hat in Brandenburg Wurzeln geschlagen, in dem Haus in Wilhelmshorst bei Berlin, in dem einst der Dichter Peter Huchel wohnte, ehe er, von den Behörden drangsaliert, die DDR verließ.
In seiner Lyrik wie in seiner Prosa gab es schon vor diesem Roman mit dem Inselabenteuertitel „Kruso“ das Rauschen des Meeres. „Fünfzehn Mann auf des Totenmannes Kiste“ singen er und seine Mitschüler auf ihren Bergwanderungen, ein Gedichtanfang hält den Gesang der Landratten fest: „wir lagen vor madagaskar und hatten / die welt / und das thema verfehlt: wir lagen / vor gera vor krossen . . .“.
Zwei Zeilen vor allem führen aus den maritimen Einsprengseln, die in Seilers Gedichten über die tellurisch-thüringischen Regionen des Uranabbaus die Gischtspritzer der Abenteuerlust und Seefahrt niedergehen lassen, zu diesem Romanerstling: „und hatten die Pest an Bord“ ist die erste, „in den Kesseln, da faulte das Wasser“ die zweite. Denn der Schauplatz in „Kruso“ ist nicht nur Insel, also Zuflucht der Schiffbrüchigen, er ist zugleich selber Schiff, das dem Untergang entgegentaumelt, und dieses Schiff hat einen Namen: Es ist „Der Klausner“, die Gastwirtschaft, in der Edgar Bendler, genannt „Ed“, Zuflucht als Aushilfskraft in der Küche findet.
Er ist aus seinem Studentenleben in Halle verschwunden, der tödliche Unfall seiner Freundin tritt erst im Fortgang des Romans als Motiv deutlich ins Licht, und er trägt den Namen, den in den 1970ern Edgar Wibeau trug, der Held in Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ Auf Hiddensee landet er in der Welt der „SKs“, der Saisonkräfte, die in der Gastronomie der Insel aushelfen, wenn die Massen der Werktätigen anreisen, er landet in der Welt, in der schon in Christoph Heins Erzählung „Der Tangospieler“ (1989) der Held als Saisonkellner Zuflucht fand.
Hiddensee, das „Capri des Nordens“, wird in diesem Sommer des Jahres 1989 zur Arche für viele, die einen inneren Ausreiseantrag gestellt, das Land verlassen haben, ohne seine Grenzen zu überqueren, und Kruso, der dem Roman den Titel gibt, ist das Zentrum dieser Kolonie von Schiffbrüchigen. Alexander Krusowitsch, halb Russe, halb Deutscher, Sohn eines Generals und einer verunglückten Zirkusartistin, geboren im Jahr des Mauerbaus 1961, ist mit dem Robinson aus Daniel Defoes Roman nur entfernt verwandt, nicht eine Kaufmannsreise hat ihn zum Schiffbrüchigen gemacht, sondern ein Lebensverlust: das Verschwinden seiner älteren Schwester Sonja vor der Küste Hiddensees, so wie in Ed, der zu seinem Freitag wird, die tote Freundin aus Halle spukt.
Vor allem durch die Toten wird Hiddensee in „Kruso“ zur Insel des zweiten Gesichts. Viele sind anonym, bei Fluchtversuchen untergegangen weit vor der dänischen Insel, die sie erreichen wollten, irgendwo in einem Koordinatennetz, das phantastisch ist, illusorisch, erfunden. Kruso weiß, dass die offiziellen Karten, auf denen die Insel verzeichnet ist, illusorisch sind: „Es ist der Abstand, der niemals stimmt, die gefälschte Größe des Meeres, gefälschte Weite, falscher Horizont.“
Lutz Seilers Roman ist ein Gegenzauber: Er vermisst die Insel neu, und wie er das tut, macht ihn in der Literatur dieses Herbstes zum Sprachereignis. Sein Wappentier ist der Lurch, das Meeresungeheuer, das es aus den alten Seefahrergeschichten unter das Abflussgitter im Abwaschraum des „Klausner“ verschlagen hat. Gäbe es eine Trophäe, die für eine Literatur der Arbeitswelt verliehen wird, in der noch die niedersten, ekligsten Pflichten mit dem Heroismus erfüllt werden, mit dem in alten Epen Schlachten geschlagen werden, Lutz Seiler müsste diese Trophäe für seine Schilderung der Abwaschorgien erhalten, in denen Robinson, Freitag und ihre Mitstreiter den Speiseresten und Glitschigkeiten Paroli bieten.
Der Lurch ist das Gestalt gewordene Ungeheuer der Kessel mit den faulenden Wassern: „eine Unzahl langer, offensichtlich menschlicher Haare, von dem das schleimgraue Wesen wie geädert schien; ähnlich dem Gespinst von Blutbahnen auf der Oberfläche eines frisch entblößten Organs“. Wer die Abenteuer- und Seeromane liebt, der trifft in diesem „Kruso“ auf ihre unheimliche und zugleich untergründig komische Travestie.
Die Saisonarbeiter werden zu nackten Matrosen, die nicht das Deck, sondern die Küche schrubben, und unter Deck tut Ed als Heizer Dienst, und wie bei Melville oder Joseph Conrad sind in das Seemannsgarn philosophische Pointen eingewebt, nur eben in einer Welt des Abfalls, des Ausschusses und der Reste, in der der Kampf gegen die Ungeheuer aus der Reparatur eines verstopften Abflusses hervorgeht.
Der Fregattenkapitän und seine Soldaten werden wie die Suchscheinwerfer, die über die Ostsee gleiten, in den Sog dieser Mischung aus Abenteuerroman und aufgeschäumter Arbeitswelt hineingezogen, während aus dem Radio der Marke Violetta, das als „Viola“ zu den Hauptfiguren des Romans zählt, mehr oder weniger verlässlich die Melodie Haydns ertönt, die den Tag beschließt, und tagsüber mehr und mehr Nachrichten über Menschen, die sich Richtung Ungarn aufmachen.
Die Nachrichten kommen aus dem Off, aus der Zeitgeschichte, die der Roman seinem eigenen Formgesetz unterstellt. Der Abenteuerroman der Schiffbrüchigen, die aus der Gesellschaft in eine Gemeinschaft der Freiheitssehnsucht, der bizarren Rituale der Verteilung von Schlafstätten und Sex geflüchtet sind, ist nur das eine Element. Aus ihm geht die keineswegs idyllische, von Punkmusik umspülte Gegenwelt zur Staatsmacht hervor, die in Gestalt eines Stasi-Offiziers nichts mehr ausrichten kann. Und das „Strahleninstitut“, in dem Kruso aufwuchs, wird am Ende für den verletzten Ed zur Rettungsstation – hier treffen sich Zeitgeschichte und Schiffbruch.
Das andere ist die „Poetik des Abwaschs“, die Schilderung des Herauswachsens von Gedichten aus dem Gemurmel und den Rhythmen, die beim Umrühren des „faulenden Wassers“ in den Kesseln des „Klausners“ entstehen.
Edgar hat von Beginn an einen drängenden Vorrat von „Beständen“ im Kopf, auswendig gelernte Gedichte, auch Kruso arbeitet an einem Manuskript, die Sonja aus Georg Trakls Gedicht verschmilzt mit seiner Schwester, der ausrangierte Wissenschaftler „Rimbaud“ macht den „Klausner“ zu einem der trunkenen Schiffe der Moderne, und als Schutzpatron des Schwungs, mit dem die Poesie die Schwellen des Ekligen und der Fäkalsprache unterspült, taucht aus zerfledderten Büchern das Porträt Antonin Artauds auf. Die Toten aber bestattet der Roman am Ende in einem nüchterneren Abspann, in dem Ed aus der dritten Person heraustritt und in der Ich-Form von seiner Recherche über die Ertrunkenen berichtet, die von Hiddensee Richtung Dänemark aufbrachen.
Lutz Seiler ist in „Kruso“ zum Romanautor geworden, das ja. Aber dies ist zugleich ein „Porträt des Künstlers als junger Mann“, die Geschichte der Entstehung eines Autors, für den – wie für Kruso und Rimbaud – die Gedichte „das Heiligste“ sind. Die körpernahe, landschaftsnahe Sprache hat Lutz Seilers Lyrik von Beginn an geprägt, die Nähe zu Auge und Ohr, Tastsinn und Geruch, und ebenso die Aufmerksamkeit auf die jüngstvergangene Technik, die Trafos, analogen Uhren und Werkzeuge. „Kruso“ überführt die Sprache der Gedichte in Ganzkörperprosa. Dieser Roman über den historischen Sommer 1989 ist ein Leuchtturm, kein Elfenbeinturm.
Hiddensee wird zur Arche
für viele, die einen inneren
Ausreiseantrag gestellt haben
„Die Insel war stellenweise so schmal, dass man zu beiden Seiten das Wasser sehen konnte. Links das Meer aus Silber, rechts der Bodden, ein dunkelblaues Glas, fast schwarz.“ Blick zum Leuchtturm der Insel Hiddensee, auf der Lutz Seilers Held Edgar als Saisonkraft anheuert.
Foto: imago/IPON
Lutz Seiler: Kruso. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 484 Seiten, 22,95 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2014Der Evangelist von Hiddensee
Anmerkungen zu einem Bestseller: Warum ich Lutz Seilers "Kruso" anders lese als manche von seiner Sprachgischt benommenen Kritiker.
Von Wolfgang Hegewald
Auch wenn niemand sagen kann, wie ein Bestseller entsteht, so sind gewiss immer Zeitumstände daran beteiligt, die eine Rezeptionsempfänglichkeit begünstigen. Wenn in der Gesellschaft diffuse Ängste rumoren und grassieren, die Furcht vor Abstieg und Wohlstandsverlust umgeht, dann wird das Raunen der Utopie wieder lauter.
Sprache und Erzählen sind Erkenntnisinstrumente, die nicht nur durch die Weltdeutungsleistungen des Autors überraschen, sondern gelegentlich auch gespenstische Fehldeutungen offenlegen, auf der autorenabgewandten Seite des Textes gleichsam. Die Sieger der Rezeptionsgeschichte (Bestseller genannt) respektive ihre Autoren mögen die (vor-)herrschende Lesart in Beton gießen lassen; Erzählsystemen haftet allemal ein subversiver Eigensinn an. Der Wortlaut gilt und bringt es an den Tag. An robusten Bestsellern wie "Die Blechtrommel" von Günter Grass und "Der Vater eines Mörders" von Alfred Andersch, Büchern, die längst zum kanonischen Bestand antifaschistischer Nachkriegsliteratur gerechnet werden, hat Petra Morsbach durch präzise Lektüre solche Deutungsstörungen aufgezeigt ("Warum Fräulein Laura freundlich war - Über die Wahrheit des Erzählens", München 2006).
Der Roman "Kruso", so schallt es mir nun allenthalben und fast unisono entgegen, vergegenwärtige virtuos mit den Mitteln des magischen Realismus die historische Möglichkeitsform eines Lebens in und zugleich jenseits des Verhängnisses namens DDR. Während der Staat in seinen letzten Zügen lag, erprobte das verwegene Kollektiv der Saisonkräfte auf Hiddensee, der Insel des Freiheitsgerüchts, kontrafaktisch ein freiheitlich-utopisches Lebenskonzept. In phantastischer Sprachgischt leuchte diese Möglichkeit auf, die den inneren Ausreiseantrag nobilitiere.
Die Alternative, elitär und fast mythischen Ranges, aus der Sicht der Saisonkräfte: die Flucht übers Meer. Wer sie wählte, hat zuvor in die absolute Freiheit des Todes eingewilligt. Einige Kritiker scheinen, von der Lektüre benommen, in der Insel Hiddensee sogar eine Art Zonen-Macao zu vermuten, eine geistig-moralische Freihandelszone der DDR.
Ich lese, salopp gesagt, etwas anderes in "Kruso": Auf dem Eiland wiederholt sich das ganze Elend des kleinen verrotteten Landes als Farce und Satyrspiel. In der Tyrannei der Aussteiger spiegelt sich die Lebenswelt der DDR en miniature. Das "Moratorium des Alltags" (Odo Marquardt), das die eingeschworene Inselgemeinschaft zu praktizieren vorgibt, ist mit ebendiesem Alltag derart kontaminiert und von ihm korrumpiert, dass es sich selbst suspendiert.
Doch je weiter meine Lektüre von "Kruso" fortschritt, desto fragwürdiger kam es mir vor, dass mein Deutungsmuster der Intention von Autor oder Text entspreche. Von der Kritik ganz zu schweigen, die bald vor allem davon handelte, dass einem auch keine anderen Superlative zu "Kruso" einfielen als dem Kollegen von der Nachbarzeitung. Aber das kann man dem Roman nicht ankreiden.
"Kruso" ist ein Entwicklungs- und Initiationsroman. Ed Bendler, Germanistikstudent aus Halle, von Trakls Vers trunken und durch einen Verlust traumatisiert, bricht zu einer abenteuerlichen Reise nach Hiddensee auf. Dort erhält er, im letzten Sommer der DDR, eine prekäre Anstellung, eine provisorische Unterkunft, und er findet Blutsbrüder, allen voran Kruso. Und Ed fungiert als Erzähler. Kruso verkörpert in Personalunion den Inselschamanen, den gütigen Bonzen mit diktatorischen Allüren, einen verquasten Charismatiker vom Schlage Sascha Andersons, einen Freiheitsapostel und Weisheitslehrer (oft kaum mehr als ein Spruchbeutel voll pathetisch-trivialer Sentenzen à la "Nur Unfreiheit gebiert die wahre Freiheit") - und er wird für Ed zum existentiellen Faszinosum, mit einer homoerotischen Unterströmung.
Diese Konstellation stürzt mich, den Leser, in ein dramaturgisches Dilemma: Eds Erzählung will vor allem treues Vermächtnis sein, eine Art Evangelium nach Kruso, das weder hagiographische Arabesken noch liturgische Wiederholungen scheut. Das macht mir die Lektüre bald lang. Denn Kruso ist, trotz all seiner kapriziösen Volten, berechenbar wie sein Credo: Wir bleiben hier!
Diese bis in die Jetztzeit des Epilogs reichende Anhänglichkeit Eds an Kruso hat erzählerische Scheuklappeneffekte zur Folge und fermentiert den fast 500 Seiten dicken Roman mit einer Gläubigkeit, die mich befremdet. Zu den Konsequenzen dieser Erzählperspektive ist, so meine ich, auch die chronische Humorlosigkeit der über weite Passagen eindrucksvoll modulierten Prosa zu rechnen. Ein Sektierer wie Ed hat keinen Sinn für abgründige Komik, die ich in etlichen Szenen wittere.
Religiöse und parareligiöse Muster finden sich in "Kruso" allenthalben; das Ausflugslokal "Klausner", wo Ed wohnt und schuftet, erinnert nicht zufällig an eine Einsiedelei. Krusos raunende Freiheitsrhetorik, meist mit dunklem Guru-Tremolo vorgetragen und vom Jünger Ed enervierend variantenreich repetiert, ließ mich gelegentlich an ein Diktum von G. K. Chesterton denken, eines Autors von religiöser Hellhörigkeit: "Das innere Licht ist die trübste aller Beleuchtungsarten." Was es mit der Menschlichkeit in finsteren Zeiten für eine Bewandtnis hat, lässt sich bei Hannah Arendt nachlesen; sie wusste auch, dass die Menschlichkeit der Erniedrigten und Beleidigten die Stunde der Befreiung nie auch nur um eine Minute überlebt hat.
Eine grob skizzierte, exemplarische Andeutung nur zu der von mir behaupteten Parallelaktion zwischen DDR-Alltag und Kruso-Kommunitäts-Brauch: die "Vergabe". So heißt im Jargon der Sekte die zeremoniell verbrämte Übereignung von Schiffbrüchigen, also ohne Quartiergewissheit auf der Insel eintreffenden Frauen oder Männern, an Saisonkräfte, sexuelle Dienstleistungs- und informelle Auskunftsbereitschaft inbegriffen. Von Kruso als Strandweihespiel in absolutistischer Manier zelebriert. Ed staunt, genießt und macht sich Notizen. Man erinnert sich: Wohnraum war zwischen Rostock und Erfurt knapp, solange die DDR existierte. Wer bei der staatlichen Wohnungsverwaltung vorstellig wurde, sollte zumindest verheiratet sein. Staatlich reglementierter Sexualgewahrsam als Vorbedingung, ein halbwegs erträgliches Domizil zu ergattern.
Den von keinem vorhergesehenen Fall der Mauer erleben die in Gemeinschaftspathos und Inseltrotz Internierten (Helmuth Plessner, hilf!) als Weltverlust und narzisstische Kränkung. Hochartifizielle, den Kopf benebelnde Sprachgischt weht in diesen härter werdenden Zeiten von Hiddensee her. Wo der Lurch begraben ist, beginnt der alte Maulwurf wieder zu wühlen. Ist es Rückblick, ist es Vorschein: Das Gespenst der Utopie geht um.
Der Schriftsteller Wolfgang Hegewald, geboren 1952 in Dresden, verließ 1983 die DDR und ging in die Bundesrepublik. Zuletzt erschien sein Roman "Herz in Sicht" (Matthes & Seitz).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anmerkungen zu einem Bestseller: Warum ich Lutz Seilers "Kruso" anders lese als manche von seiner Sprachgischt benommenen Kritiker.
Von Wolfgang Hegewald
Auch wenn niemand sagen kann, wie ein Bestseller entsteht, so sind gewiss immer Zeitumstände daran beteiligt, die eine Rezeptionsempfänglichkeit begünstigen. Wenn in der Gesellschaft diffuse Ängste rumoren und grassieren, die Furcht vor Abstieg und Wohlstandsverlust umgeht, dann wird das Raunen der Utopie wieder lauter.
Sprache und Erzählen sind Erkenntnisinstrumente, die nicht nur durch die Weltdeutungsleistungen des Autors überraschen, sondern gelegentlich auch gespenstische Fehldeutungen offenlegen, auf der autorenabgewandten Seite des Textes gleichsam. Die Sieger der Rezeptionsgeschichte (Bestseller genannt) respektive ihre Autoren mögen die (vor-)herrschende Lesart in Beton gießen lassen; Erzählsystemen haftet allemal ein subversiver Eigensinn an. Der Wortlaut gilt und bringt es an den Tag. An robusten Bestsellern wie "Die Blechtrommel" von Günter Grass und "Der Vater eines Mörders" von Alfred Andersch, Büchern, die längst zum kanonischen Bestand antifaschistischer Nachkriegsliteratur gerechnet werden, hat Petra Morsbach durch präzise Lektüre solche Deutungsstörungen aufgezeigt ("Warum Fräulein Laura freundlich war - Über die Wahrheit des Erzählens", München 2006).
Der Roman "Kruso", so schallt es mir nun allenthalben und fast unisono entgegen, vergegenwärtige virtuos mit den Mitteln des magischen Realismus die historische Möglichkeitsform eines Lebens in und zugleich jenseits des Verhängnisses namens DDR. Während der Staat in seinen letzten Zügen lag, erprobte das verwegene Kollektiv der Saisonkräfte auf Hiddensee, der Insel des Freiheitsgerüchts, kontrafaktisch ein freiheitlich-utopisches Lebenskonzept. In phantastischer Sprachgischt leuchte diese Möglichkeit auf, die den inneren Ausreiseantrag nobilitiere.
Die Alternative, elitär und fast mythischen Ranges, aus der Sicht der Saisonkräfte: die Flucht übers Meer. Wer sie wählte, hat zuvor in die absolute Freiheit des Todes eingewilligt. Einige Kritiker scheinen, von der Lektüre benommen, in der Insel Hiddensee sogar eine Art Zonen-Macao zu vermuten, eine geistig-moralische Freihandelszone der DDR.
Ich lese, salopp gesagt, etwas anderes in "Kruso": Auf dem Eiland wiederholt sich das ganze Elend des kleinen verrotteten Landes als Farce und Satyrspiel. In der Tyrannei der Aussteiger spiegelt sich die Lebenswelt der DDR en miniature. Das "Moratorium des Alltags" (Odo Marquardt), das die eingeschworene Inselgemeinschaft zu praktizieren vorgibt, ist mit ebendiesem Alltag derart kontaminiert und von ihm korrumpiert, dass es sich selbst suspendiert.
Doch je weiter meine Lektüre von "Kruso" fortschritt, desto fragwürdiger kam es mir vor, dass mein Deutungsmuster der Intention von Autor oder Text entspreche. Von der Kritik ganz zu schweigen, die bald vor allem davon handelte, dass einem auch keine anderen Superlative zu "Kruso" einfielen als dem Kollegen von der Nachbarzeitung. Aber das kann man dem Roman nicht ankreiden.
"Kruso" ist ein Entwicklungs- und Initiationsroman. Ed Bendler, Germanistikstudent aus Halle, von Trakls Vers trunken und durch einen Verlust traumatisiert, bricht zu einer abenteuerlichen Reise nach Hiddensee auf. Dort erhält er, im letzten Sommer der DDR, eine prekäre Anstellung, eine provisorische Unterkunft, und er findet Blutsbrüder, allen voran Kruso. Und Ed fungiert als Erzähler. Kruso verkörpert in Personalunion den Inselschamanen, den gütigen Bonzen mit diktatorischen Allüren, einen verquasten Charismatiker vom Schlage Sascha Andersons, einen Freiheitsapostel und Weisheitslehrer (oft kaum mehr als ein Spruchbeutel voll pathetisch-trivialer Sentenzen à la "Nur Unfreiheit gebiert die wahre Freiheit") - und er wird für Ed zum existentiellen Faszinosum, mit einer homoerotischen Unterströmung.
Diese Konstellation stürzt mich, den Leser, in ein dramaturgisches Dilemma: Eds Erzählung will vor allem treues Vermächtnis sein, eine Art Evangelium nach Kruso, das weder hagiographische Arabesken noch liturgische Wiederholungen scheut. Das macht mir die Lektüre bald lang. Denn Kruso ist, trotz all seiner kapriziösen Volten, berechenbar wie sein Credo: Wir bleiben hier!
Diese bis in die Jetztzeit des Epilogs reichende Anhänglichkeit Eds an Kruso hat erzählerische Scheuklappeneffekte zur Folge und fermentiert den fast 500 Seiten dicken Roman mit einer Gläubigkeit, die mich befremdet. Zu den Konsequenzen dieser Erzählperspektive ist, so meine ich, auch die chronische Humorlosigkeit der über weite Passagen eindrucksvoll modulierten Prosa zu rechnen. Ein Sektierer wie Ed hat keinen Sinn für abgründige Komik, die ich in etlichen Szenen wittere.
Religiöse und parareligiöse Muster finden sich in "Kruso" allenthalben; das Ausflugslokal "Klausner", wo Ed wohnt und schuftet, erinnert nicht zufällig an eine Einsiedelei. Krusos raunende Freiheitsrhetorik, meist mit dunklem Guru-Tremolo vorgetragen und vom Jünger Ed enervierend variantenreich repetiert, ließ mich gelegentlich an ein Diktum von G. K. Chesterton denken, eines Autors von religiöser Hellhörigkeit: "Das innere Licht ist die trübste aller Beleuchtungsarten." Was es mit der Menschlichkeit in finsteren Zeiten für eine Bewandtnis hat, lässt sich bei Hannah Arendt nachlesen; sie wusste auch, dass die Menschlichkeit der Erniedrigten und Beleidigten die Stunde der Befreiung nie auch nur um eine Minute überlebt hat.
Eine grob skizzierte, exemplarische Andeutung nur zu der von mir behaupteten Parallelaktion zwischen DDR-Alltag und Kruso-Kommunitäts-Brauch: die "Vergabe". So heißt im Jargon der Sekte die zeremoniell verbrämte Übereignung von Schiffbrüchigen, also ohne Quartiergewissheit auf der Insel eintreffenden Frauen oder Männern, an Saisonkräfte, sexuelle Dienstleistungs- und informelle Auskunftsbereitschaft inbegriffen. Von Kruso als Strandweihespiel in absolutistischer Manier zelebriert. Ed staunt, genießt und macht sich Notizen. Man erinnert sich: Wohnraum war zwischen Rostock und Erfurt knapp, solange die DDR existierte. Wer bei der staatlichen Wohnungsverwaltung vorstellig wurde, sollte zumindest verheiratet sein. Staatlich reglementierter Sexualgewahrsam als Vorbedingung, ein halbwegs erträgliches Domizil zu ergattern.
Den von keinem vorhergesehenen Fall der Mauer erleben die in Gemeinschaftspathos und Inseltrotz Internierten (Helmuth Plessner, hilf!) als Weltverlust und narzisstische Kränkung. Hochartifizielle, den Kopf benebelnde Sprachgischt weht in diesen härter werdenden Zeiten von Hiddensee her. Wo der Lurch begraben ist, beginnt der alte Maulwurf wieder zu wühlen. Ist es Rückblick, ist es Vorschein: Das Gespenst der Utopie geht um.
Der Schriftsteller Wolfgang Hegewald, geboren 1952 in Dresden, verließ 1983 die DDR und ging in die Bundesrepublik. Zuletzt erschien sein Roman "Herz in Sicht" (Matthes & Seitz).
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»Lesen Sie diesen hochpoetischen Roman!« Ijoma Mangold ZEIT ONLINE 20140919