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Es gibt nicht nur Knausgård! Auch Gerhard Henschel verfolgt ein Lebensromanprojekt. Der neueste Teil enthält die witzigste Zahnarztszene der Literaturgeschichte.
Gerhard Henschel arbeitet an einem irrwitzigen Projekt: Seit 2004 verdichtet der Schriftsteller sein Leben in einer monströsen Reihe von autobiographischen Fortsetzungsromanen und versucht auf diese Weise, der eigenen Existenz auf die Schliche zu kommen. Was mit dem "Kindheitsroman" begann, führte vom "Jugend-", über den "Liebes-" und "Abenteuer-" bis zum "Bildungsroman". Jetzt endlich ist der "Künstlerroman" erschienen, in dem Martin Schlosser - das Alter Ego Henschels, hier nun als Mittzwanziger - sich dazu entschließt, sein Germanistikstudium in West-Berlin zu unterbrechen, nach Aachen zu seiner Freundin Andrea zu ziehen und schließlich den bildungsbürgerlichen Karriereweg gänzlich aufzugeben, um eine freie Schriftstellerlaufbahn im beschaulichen Oldenburg zu starten.
Nicht ganz zu Unrecht wird Henschels Stil mit dem von Walter Kempowski verglichen und dessen narrativem Umgang mit archivierter Geschichte. Die vielen Fans, die jedes Jahr auf die Schlosser-Fortsetzung wie auf warme Brötchen beim Bäcker warten, wissen es genau: Auch in diesem Roman versucht der ehemalige "Titanic"-Redakteur die achtziger Jahre mit einem bis zur Perfektion getriebenen Collage-Verfahren wieder aufleben zu lassen. Das Buch kennt keine Kapitel und keine Ordnung - das Leben schließlich auch nicht -, trotzdem entsteht eine nachvollziehbare Chronologie, indem Henschel historische Zitate in den Text flicht, die er zumeist aus Leitmedien wie dem "Spiegel" oder der "Zeit" herauspickt, um die politisierte und zugleich merkwürdig bräsige Atmosphäre der erzählten Zeit heraufzubeschwören. Die widersprüchliche Einsicht in die aggressive Stimmung dieser Zeit ergibt sich nach und nach: Denn während dieser selbstironische Antiheld Martin Schlosser seine durch und durch westdeutschen Eltern aus Meppen auf seine Exmatrikulation vorbereitet und dabei die Entscheidung mit der Fragilität des Lebens unter Berücksichtigung der überall drohenden Gefahren des Kalten Krieges begründet, denkt der Leser an die Gegenwart und deren zunehmende Chaotisierung durch Flüchtlingsströme, Kriege, Klimawandel und arabische Diktaturen, die im Vergleich zum Sowjet-Despotismus in ihrer Bösartigkeit nicht so leicht auf den Punkt zu bringen sind. Kurzum: Schlossers Welt ist gefährlich, aber in ihren Risiken leicht zu durchschauen. Das erlaubt dem Studenten, auf seinen ewigen Tramp-Touren durch die Untiefen der westdeutschen Provinz sich kokett über die Spießbürgerlichkeit dieses verkrusteten und gerade noch existierenden Nachkriegsdeutschlands zu amüsieren.
Das gelingt dem Protagonisten ausgesprochen gut. Die Stärke dieses Romans liegt ganz ohne Frage in seinem zynischen Witz und dieser zwischen "Titanic"-Gag und scharfzüngiger Komik pendelnden Schenkelklopf-Essayistik. Es geht nicht anders. Man muss ein paar Beispiele herauspicken, um das nachvollziehbar zu machen: Als Martin Schlosser sich sein Studium durch Arbeit über eine Studentenvermittlung finanziert, bei der er das große Los zieht und tageweise bei Tetra Pak als Getränkekartonmaschinenkontrolleur schuften darf - "Rolle einspannen, rumstehen, Etiketten aufpappen, Knöpfchen drücken und der Maschine zukucken" -, macht er alltagsweltliche Beobachtungen, die seine literarisch genährte und linksbürgerlich geprägte Feingeistigkeit empfindlich stören: "Bei jedem Aufenthalt im Raucherkabuff verfestigte sich meine Überzeugung, dass ich in einer Diktatur des Proletariats nichts zu lachen gehabt hätte. Die für Tetra Pak arbeitenden Proletarier schienen sich jedenfalls nicht nach einem so oder so gearteten Sozialismus zu sehnen, sondern nach Grillfleisch, Heckspoilern, Kegelabenden und beschissener Schlagermusik sowie nach PS-stärkeren Autos, niedrigeren Benzinpreisen, größeren Fernsehgeräten, billigeren Ferienhäusern und höheren Rentenbezügen. Was aber auch einen Vorteil hatte: Ein saturiertes, vollgefressenes Pauschaltouristenvolk marschierte nicht nach Stalingrad. Je dicker die Deutschen, desto sicherer der Weltfrieden."
Zudem darf sich Gerhard Henschel darüber freuen, dass er in seinem neuen Buch die witzigste Zahnarztszene der Literaturgeschichte auf Papier gebracht hat. Man leidet mit Martin Schlosser buchstäblich mit, wenn er auf dem Ärztestuhl sitzt und das Unheil allein mit Blick auf die Spritze herannahen sieht: "Hatte ich überhaupt schon mal eine so krankhaft lange Spritze gesehen? Wofür hielten die mich? Für einen zu narkotisierenden Wasserbüffel? Als das Bohren losging, wollte ich jedoch sofort die nächste Spritze haben. Ja, ich bettelte darum!" Die Angst mündet in Geschrei, worauf die Schließung der Praxis droht, wie die Zahnärztin zu verstehen gibt: "Ich habe heute Vormittag einem achtjährigen Mädchen zwei Zähne gezogen, und das hat sich tapferer benommen als Sie mit Ihrem läppischen Kariesbefall!"
Martin Schlosser ist eben kein Supermann. Er ist der typisch-großmäulige Geisteswissenschaftler, der aus der Provinz nach Berlin zieht, um sich in den Möglichkeiten der Großstadt zu verlieren und immer wieder die urbane Hässlichkeit als Grund zu nehmen, in die schützenden und zugleich trostlosen Arme der Walachei zu flüchten. "Eichen, Birken, Weiden, Reetdächer und Butterblumen. Hätte man nicht so naturnah wohnen sollen? Wie in Lönneberga? Statt in Kloaken wie Berlin oder Aachen?" Bei solchen Sätzen fragt man sich, wann eigentlich der erste "Abschaum Berlin"-Roman die Buchhandlungen erreicht.
Man könnte Gerhard Henschel vorwerfen, dass seine Romane zu lang sind (hier fast 600 Seiten) und seine Pointen sich wiederholen. Auch diesmal geht es wieder um Wohngemeinschaften, Liebe, offene Beziehungen, den Ost-West-Konflikt, Trash-Partys, Yoga-Verrenkungen, spießige Eltern, blöde Geschwister und die Frage nach dem richtigen Leben im falschen. Doch mit diesem Vorwurf wird man dem Ironiker nicht gerecht, der in unsicheren Zeiten mit seiner Martin-Schlosser-Biographie eine Welt nachzeichnet, in der man ohne Bedenken bildungsbürgerlich motzen darf, ohne die Wirklichkeit für das zu nehmen, was sie heute ist: undurchsichtig. Daher kann man sich nur wünschen, dass Gerhard Henschel nicht aufhört, mit seinem leicht nostalgischen, überaus witzigen Eskapismus die Schlosser-Passionisten mit neuem Futter zu beglücken. Irgendwann, so viel steht fest, kommt der Schriftsteller mit seinen Romanen im Jahr 2015 an. Vielleicht werden wir erst dann, durch die Schlosser-Brille, diese Zeit wirklich verstehen.
TOMASZ KURIANOWICZ.
Gerhard Henschel: "Künstlerroman".
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 567 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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