Der sechste Band der Martin-Schlosser-Chronik Mitte der achtziger Jahre hat der Germanistikstudent Martin Schlosser noch keinen fest umrissenen Lebensplan. Wenn er nicht gerade über Tschernobyl, den Historikerstreit oder die Barschel-Affäre nachdenkt, setzt er sich mit seiner anspruchsvollen Freundin Andrea auseinander und übt sich in der Kunst des Lebens. Zwischen Brotjobs bei Tetra Pak, Uniroyal und Edeka und Philosophieren über Stubenfliegen, türkische Folklore und Monogamie wird ihm eines Tages schlagartig klar, was er will.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2015Berlin, du sagenhafte Enttäuschung
Es gibt nicht nur Knausgård! Auch Gerhard Henschel verfolgt ein Lebensromanprojekt. Der neueste Teil enthält die witzigste Zahnarztszene der Literaturgeschichte.
Gerhard Henschel arbeitet an einem irrwitzigen Projekt: Seit 2004 verdichtet der Schriftsteller sein Leben in einer monströsen Reihe von autobiographischen Fortsetzungsromanen und versucht auf diese Weise, der eigenen Existenz auf die Schliche zu kommen. Was mit dem "Kindheitsroman" begann, führte vom "Jugend-", über den "Liebes-" und "Abenteuer-" bis zum "Bildungsroman". Jetzt endlich ist der "Künstlerroman" erschienen, in dem Martin Schlosser - das Alter Ego Henschels, hier nun als Mittzwanziger - sich dazu entschließt, sein Germanistikstudium in West-Berlin zu unterbrechen, nach Aachen zu seiner Freundin Andrea zu ziehen und schließlich den bildungsbürgerlichen Karriereweg gänzlich aufzugeben, um eine freie Schriftstellerlaufbahn im beschaulichen Oldenburg zu starten.
Nicht ganz zu Unrecht wird Henschels Stil mit dem von Walter Kempowski verglichen und dessen narrativem Umgang mit archivierter Geschichte. Die vielen Fans, die jedes Jahr auf die Schlosser-Fortsetzung wie auf warme Brötchen beim Bäcker warten, wissen es genau: Auch in diesem Roman versucht der ehemalige "Titanic"-Redakteur die achtziger Jahre mit einem bis zur Perfektion getriebenen Collage-Verfahren wieder aufleben zu lassen. Das Buch kennt keine Kapitel und keine Ordnung - das Leben schließlich auch nicht -, trotzdem entsteht eine nachvollziehbare Chronologie, indem Henschel historische Zitate in den Text flicht, die er zumeist aus Leitmedien wie dem "Spiegel" oder der "Zeit" herauspickt, um die politisierte und zugleich merkwürdig bräsige Atmosphäre der erzählten Zeit heraufzubeschwören. Die widersprüchliche Einsicht in die aggressive Stimmung dieser Zeit ergibt sich nach und nach: Denn während dieser selbstironische Antiheld Martin Schlosser seine durch und durch westdeutschen Eltern aus Meppen auf seine Exmatrikulation vorbereitet und dabei die Entscheidung mit der Fragilität des Lebens unter Berücksichtigung der überall drohenden Gefahren des Kalten Krieges begründet, denkt der Leser an die Gegenwart und deren zunehmende Chaotisierung durch Flüchtlingsströme, Kriege, Klimawandel und arabische Diktaturen, die im Vergleich zum Sowjet-Despotismus in ihrer Bösartigkeit nicht so leicht auf den Punkt zu bringen sind. Kurzum: Schlossers Welt ist gefährlich, aber in ihren Risiken leicht zu durchschauen. Das erlaubt dem Studenten, auf seinen ewigen Tramp-Touren durch die Untiefen der westdeutschen Provinz sich kokett über die Spießbürgerlichkeit dieses verkrusteten und gerade noch existierenden Nachkriegsdeutschlands zu amüsieren.
Das gelingt dem Protagonisten ausgesprochen gut. Die Stärke dieses Romans liegt ganz ohne Frage in seinem zynischen Witz und dieser zwischen "Titanic"-Gag und scharfzüngiger Komik pendelnden Schenkelklopf-Essayistik. Es geht nicht anders. Man muss ein paar Beispiele herauspicken, um das nachvollziehbar zu machen: Als Martin Schlosser sich sein Studium durch Arbeit über eine Studentenvermittlung finanziert, bei der er das große Los zieht und tageweise bei Tetra Pak als Getränkekartonmaschinenkontrolleur schuften darf - "Rolle einspannen, rumstehen, Etiketten aufpappen, Knöpfchen drücken und der Maschine zukucken" -, macht er alltagsweltliche Beobachtungen, die seine literarisch genährte und linksbürgerlich geprägte Feingeistigkeit empfindlich stören: "Bei jedem Aufenthalt im Raucherkabuff verfestigte sich meine Überzeugung, dass ich in einer Diktatur des Proletariats nichts zu lachen gehabt hätte. Die für Tetra Pak arbeitenden Proletarier schienen sich jedenfalls nicht nach einem so oder so gearteten Sozialismus zu sehnen, sondern nach Grillfleisch, Heckspoilern, Kegelabenden und beschissener Schlagermusik sowie nach PS-stärkeren Autos, niedrigeren Benzinpreisen, größeren Fernsehgeräten, billigeren Ferienhäusern und höheren Rentenbezügen. Was aber auch einen Vorteil hatte: Ein saturiertes, vollgefressenes Pauschaltouristenvolk marschierte nicht nach Stalingrad. Je dicker die Deutschen, desto sicherer der Weltfrieden."
Zudem darf sich Gerhard Henschel darüber freuen, dass er in seinem neuen Buch die witzigste Zahnarztszene der Literaturgeschichte auf Papier gebracht hat. Man leidet mit Martin Schlosser buchstäblich mit, wenn er auf dem Ärztestuhl sitzt und das Unheil allein mit Blick auf die Spritze herannahen sieht: "Hatte ich überhaupt schon mal eine so krankhaft lange Spritze gesehen? Wofür hielten die mich? Für einen zu narkotisierenden Wasserbüffel? Als das Bohren losging, wollte ich jedoch sofort die nächste Spritze haben. Ja, ich bettelte darum!" Die Angst mündet in Geschrei, worauf die Schließung der Praxis droht, wie die Zahnärztin zu verstehen gibt: "Ich habe heute Vormittag einem achtjährigen Mädchen zwei Zähne gezogen, und das hat sich tapferer benommen als Sie mit Ihrem läppischen Kariesbefall!"
Martin Schlosser ist eben kein Supermann. Er ist der typisch-großmäulige Geisteswissenschaftler, der aus der Provinz nach Berlin zieht, um sich in den Möglichkeiten der Großstadt zu verlieren und immer wieder die urbane Hässlichkeit als Grund zu nehmen, in die schützenden und zugleich trostlosen Arme der Walachei zu flüchten. "Eichen, Birken, Weiden, Reetdächer und Butterblumen. Hätte man nicht so naturnah wohnen sollen? Wie in Lönneberga? Statt in Kloaken wie Berlin oder Aachen?" Bei solchen Sätzen fragt man sich, wann eigentlich der erste "Abschaum Berlin"-Roman die Buchhandlungen erreicht.
Man könnte Gerhard Henschel vorwerfen, dass seine Romane zu lang sind (hier fast 600 Seiten) und seine Pointen sich wiederholen. Auch diesmal geht es wieder um Wohngemeinschaften, Liebe, offene Beziehungen, den Ost-West-Konflikt, Trash-Partys, Yoga-Verrenkungen, spießige Eltern, blöde Geschwister und die Frage nach dem richtigen Leben im falschen. Doch mit diesem Vorwurf wird man dem Ironiker nicht gerecht, der in unsicheren Zeiten mit seiner Martin-Schlosser-Biographie eine Welt nachzeichnet, in der man ohne Bedenken bildungsbürgerlich motzen darf, ohne die Wirklichkeit für das zu nehmen, was sie heute ist: undurchsichtig. Daher kann man sich nur wünschen, dass Gerhard Henschel nicht aufhört, mit seinem leicht nostalgischen, überaus witzigen Eskapismus die Schlosser-Passionisten mit neuem Futter zu beglücken. Irgendwann, so viel steht fest, kommt der Schriftsteller mit seinen Romanen im Jahr 2015 an. Vielleicht werden wir erst dann, durch die Schlosser-Brille, diese Zeit wirklich verstehen.
TOMASZ KURIANOWICZ.
Gerhard Henschel: "Künstlerroman".
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 567 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es gibt nicht nur Knausgård! Auch Gerhard Henschel verfolgt ein Lebensromanprojekt. Der neueste Teil enthält die witzigste Zahnarztszene der Literaturgeschichte.
Gerhard Henschel arbeitet an einem irrwitzigen Projekt: Seit 2004 verdichtet der Schriftsteller sein Leben in einer monströsen Reihe von autobiographischen Fortsetzungsromanen und versucht auf diese Weise, der eigenen Existenz auf die Schliche zu kommen. Was mit dem "Kindheitsroman" begann, führte vom "Jugend-", über den "Liebes-" und "Abenteuer-" bis zum "Bildungsroman". Jetzt endlich ist der "Künstlerroman" erschienen, in dem Martin Schlosser - das Alter Ego Henschels, hier nun als Mittzwanziger - sich dazu entschließt, sein Germanistikstudium in West-Berlin zu unterbrechen, nach Aachen zu seiner Freundin Andrea zu ziehen und schließlich den bildungsbürgerlichen Karriereweg gänzlich aufzugeben, um eine freie Schriftstellerlaufbahn im beschaulichen Oldenburg zu starten.
Nicht ganz zu Unrecht wird Henschels Stil mit dem von Walter Kempowski verglichen und dessen narrativem Umgang mit archivierter Geschichte. Die vielen Fans, die jedes Jahr auf die Schlosser-Fortsetzung wie auf warme Brötchen beim Bäcker warten, wissen es genau: Auch in diesem Roman versucht der ehemalige "Titanic"-Redakteur die achtziger Jahre mit einem bis zur Perfektion getriebenen Collage-Verfahren wieder aufleben zu lassen. Das Buch kennt keine Kapitel und keine Ordnung - das Leben schließlich auch nicht -, trotzdem entsteht eine nachvollziehbare Chronologie, indem Henschel historische Zitate in den Text flicht, die er zumeist aus Leitmedien wie dem "Spiegel" oder der "Zeit" herauspickt, um die politisierte und zugleich merkwürdig bräsige Atmosphäre der erzählten Zeit heraufzubeschwören. Die widersprüchliche Einsicht in die aggressive Stimmung dieser Zeit ergibt sich nach und nach: Denn während dieser selbstironische Antiheld Martin Schlosser seine durch und durch westdeutschen Eltern aus Meppen auf seine Exmatrikulation vorbereitet und dabei die Entscheidung mit der Fragilität des Lebens unter Berücksichtigung der überall drohenden Gefahren des Kalten Krieges begründet, denkt der Leser an die Gegenwart und deren zunehmende Chaotisierung durch Flüchtlingsströme, Kriege, Klimawandel und arabische Diktaturen, die im Vergleich zum Sowjet-Despotismus in ihrer Bösartigkeit nicht so leicht auf den Punkt zu bringen sind. Kurzum: Schlossers Welt ist gefährlich, aber in ihren Risiken leicht zu durchschauen. Das erlaubt dem Studenten, auf seinen ewigen Tramp-Touren durch die Untiefen der westdeutschen Provinz sich kokett über die Spießbürgerlichkeit dieses verkrusteten und gerade noch existierenden Nachkriegsdeutschlands zu amüsieren.
Das gelingt dem Protagonisten ausgesprochen gut. Die Stärke dieses Romans liegt ganz ohne Frage in seinem zynischen Witz und dieser zwischen "Titanic"-Gag und scharfzüngiger Komik pendelnden Schenkelklopf-Essayistik. Es geht nicht anders. Man muss ein paar Beispiele herauspicken, um das nachvollziehbar zu machen: Als Martin Schlosser sich sein Studium durch Arbeit über eine Studentenvermittlung finanziert, bei der er das große Los zieht und tageweise bei Tetra Pak als Getränkekartonmaschinenkontrolleur schuften darf - "Rolle einspannen, rumstehen, Etiketten aufpappen, Knöpfchen drücken und der Maschine zukucken" -, macht er alltagsweltliche Beobachtungen, die seine literarisch genährte und linksbürgerlich geprägte Feingeistigkeit empfindlich stören: "Bei jedem Aufenthalt im Raucherkabuff verfestigte sich meine Überzeugung, dass ich in einer Diktatur des Proletariats nichts zu lachen gehabt hätte. Die für Tetra Pak arbeitenden Proletarier schienen sich jedenfalls nicht nach einem so oder so gearteten Sozialismus zu sehnen, sondern nach Grillfleisch, Heckspoilern, Kegelabenden und beschissener Schlagermusik sowie nach PS-stärkeren Autos, niedrigeren Benzinpreisen, größeren Fernsehgeräten, billigeren Ferienhäusern und höheren Rentenbezügen. Was aber auch einen Vorteil hatte: Ein saturiertes, vollgefressenes Pauschaltouristenvolk marschierte nicht nach Stalingrad. Je dicker die Deutschen, desto sicherer der Weltfrieden."
Zudem darf sich Gerhard Henschel darüber freuen, dass er in seinem neuen Buch die witzigste Zahnarztszene der Literaturgeschichte auf Papier gebracht hat. Man leidet mit Martin Schlosser buchstäblich mit, wenn er auf dem Ärztestuhl sitzt und das Unheil allein mit Blick auf die Spritze herannahen sieht: "Hatte ich überhaupt schon mal eine so krankhaft lange Spritze gesehen? Wofür hielten die mich? Für einen zu narkotisierenden Wasserbüffel? Als das Bohren losging, wollte ich jedoch sofort die nächste Spritze haben. Ja, ich bettelte darum!" Die Angst mündet in Geschrei, worauf die Schließung der Praxis droht, wie die Zahnärztin zu verstehen gibt: "Ich habe heute Vormittag einem achtjährigen Mädchen zwei Zähne gezogen, und das hat sich tapferer benommen als Sie mit Ihrem läppischen Kariesbefall!"
Martin Schlosser ist eben kein Supermann. Er ist der typisch-großmäulige Geisteswissenschaftler, der aus der Provinz nach Berlin zieht, um sich in den Möglichkeiten der Großstadt zu verlieren und immer wieder die urbane Hässlichkeit als Grund zu nehmen, in die schützenden und zugleich trostlosen Arme der Walachei zu flüchten. "Eichen, Birken, Weiden, Reetdächer und Butterblumen. Hätte man nicht so naturnah wohnen sollen? Wie in Lönneberga? Statt in Kloaken wie Berlin oder Aachen?" Bei solchen Sätzen fragt man sich, wann eigentlich der erste "Abschaum Berlin"-Roman die Buchhandlungen erreicht.
Man könnte Gerhard Henschel vorwerfen, dass seine Romane zu lang sind (hier fast 600 Seiten) und seine Pointen sich wiederholen. Auch diesmal geht es wieder um Wohngemeinschaften, Liebe, offene Beziehungen, den Ost-West-Konflikt, Trash-Partys, Yoga-Verrenkungen, spießige Eltern, blöde Geschwister und die Frage nach dem richtigen Leben im falschen. Doch mit diesem Vorwurf wird man dem Ironiker nicht gerecht, der in unsicheren Zeiten mit seiner Martin-Schlosser-Biographie eine Welt nachzeichnet, in der man ohne Bedenken bildungsbürgerlich motzen darf, ohne die Wirklichkeit für das zu nehmen, was sie heute ist: undurchsichtig. Daher kann man sich nur wünschen, dass Gerhard Henschel nicht aufhört, mit seinem leicht nostalgischen, überaus witzigen Eskapismus die Schlosser-Passionisten mit neuem Futter zu beglücken. Irgendwann, so viel steht fest, kommt der Schriftsteller mit seinen Romanen im Jahr 2015 an. Vielleicht werden wir erst dann, durch die Schlosser-Brille, diese Zeit wirklich verstehen.
TOMASZ KURIANOWICZ.
Gerhard Henschel: "Künstlerroman".
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 567 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2015Unbelehrbar
lebendig
Gerhard Henschel macht uns
die Achtziger sympathisch
Eigentlich möchte man über die Achtzigerjahre exakt jenen Satz stülpen, den Hans Magnus Enzensberger den Siebzigern übergezogen hat: „Dass irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, wäre zu viel verlangt.“ Aber dann rutscht man so selbstverständlich und vergnügt in Gerhard Henschels „Künstlerroman“ wie dessen Held Martin Schlosser auf die Beifahrersitze, wenn er durch Deutschland trampt. Und plötzlich ist es wieder da, das, wie historische Feinschmecker es gerne nennen, „Aroma jener Jahre“: das Phlegma, die nervige, aber natürlich notwendige Beziehungsanalyse; die profanen Bacchanale mit Hannen Alt und Obstschnaps und die ständigen Fluchten aus beschissenen Wohnungen in noch beschissenere.
Martin Schlosser kennen alle, die sich auf Gerhard Henschels groß angelegte Éducation sentimentale eingelassen haben. Mit dem „Kindheitsroman“ begann er, die Geschichte seiner Generation zu kempowskisieren. Mit all dem Material, welches das Henschelsche Familienarchiv aufzubieten hatte – Briefe, Tagebücher, Fotoalben – spiegelte er in Martin den bizarren Widerspruch, in der selbstgefällig-behaglichen Kohl-Republik ein abenteuerliches Leben führen zu wollen. Martin Schlosser braucht eine Weile, bis er zur letzten Konsequenz kommt, dem Leben als Schriftsteller. Zuvor muss er von Berlin nach Aachen ziehen, wo seine ins promiskuitive Liebeserleben vernarrte Freundin Andrea wohnt. Ihretwegen schluckt er seine Eifersucht runter, wenn sie zur Auflösung ihrer „inneren Konflikte“ mit ihrem Ex-Freund Tarik vögelt. Ihretwegen lässt er sich in Bioenergetikseminaren von verschwitzten Klemmis anschreien. Ihretwegen zieht er in eine Höllen-WG mit der asigen Ilona, die ihre Liebhaber anranzt und ihr Geschirr nicht spült. Das ist das eine.
Das andere ist Martins unbremsbarer Lese- und Selbstformungseifer. Er klatscht in die Hände, wenn Eckhard Henscheid mal wieder irgend einen Dödel im Zeit-Magazin an die Wand genagelt hat. Selbst seinen geliebten Professor Dietmar Kamper überlässt er dem verehrten Henscheid zum Fraß. Er staunt über den behaglichen Antisemitismus der zeitgenössischen Politiker, den er im Spiegel abgebildet findet. Und natürlich plagt er sich mit seinen Eltern herum, der resoluten Mutti, die tapfer gegen ihren Krebs kämpft und sich längst von ihrem stieseligen Mann getrennt hätte, wäre da nicht die Oma in Jever – ach, es ist ein Elend, aber man kann es sich auch darin bequem machen.
Seinen Meister hat Martin Schlosser nicht in Poona gefunden, sondern in Nartum. Dort veranstaltet Walter Kempowski seine Schreibseminare. Herrlich, wie Henschel Kempowskis fassungsloses Schweigen schildert, als dieser in seinem Haus einem Jugendlichen beim Breakdance zuschauen muss. Am Ende, flankiert von Trennungshysterie und Versöhnungssexemphase mit Andrea, wagt Martin den Sprung ins kalte Wasser, besser: den in die eiskalte Wohnung in Oldenburg als freier Schriftsteller, der, darin Arno Schmidt ähnlich, die Profanität des Alltags zu seiner literarischen Sache macht.
Man hat Henschel immer mit sorgenvoller Bewunderung zugesehen, wie er sich an seine Gegenwart heranschreibt. Kann das gut gehen? Läuft sich das tot? Nein, es wird immer lebendiger, je älter, je unbelehrbarer Martin Schlosser wird. Das Buch lebt auch von Zitaten, die Martin abschießt. Eines, das nicht im Buch, aber auf dem Grabstein von Herbert Marcuse steht, geht direkt an Gerhard Henschel: Weitermachen!
HILMAR KLUTE
Gerhard Henschel: Künstlerroman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 576 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
lebendig
Gerhard Henschel macht uns
die Achtziger sympathisch
Eigentlich möchte man über die Achtzigerjahre exakt jenen Satz stülpen, den Hans Magnus Enzensberger den Siebzigern übergezogen hat: „Dass irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, wäre zu viel verlangt.“ Aber dann rutscht man so selbstverständlich und vergnügt in Gerhard Henschels „Künstlerroman“ wie dessen Held Martin Schlosser auf die Beifahrersitze, wenn er durch Deutschland trampt. Und plötzlich ist es wieder da, das, wie historische Feinschmecker es gerne nennen, „Aroma jener Jahre“: das Phlegma, die nervige, aber natürlich notwendige Beziehungsanalyse; die profanen Bacchanale mit Hannen Alt und Obstschnaps und die ständigen Fluchten aus beschissenen Wohnungen in noch beschissenere.
Martin Schlosser kennen alle, die sich auf Gerhard Henschels groß angelegte Éducation sentimentale eingelassen haben. Mit dem „Kindheitsroman“ begann er, die Geschichte seiner Generation zu kempowskisieren. Mit all dem Material, welches das Henschelsche Familienarchiv aufzubieten hatte – Briefe, Tagebücher, Fotoalben – spiegelte er in Martin den bizarren Widerspruch, in der selbstgefällig-behaglichen Kohl-Republik ein abenteuerliches Leben führen zu wollen. Martin Schlosser braucht eine Weile, bis er zur letzten Konsequenz kommt, dem Leben als Schriftsteller. Zuvor muss er von Berlin nach Aachen ziehen, wo seine ins promiskuitive Liebeserleben vernarrte Freundin Andrea wohnt. Ihretwegen schluckt er seine Eifersucht runter, wenn sie zur Auflösung ihrer „inneren Konflikte“ mit ihrem Ex-Freund Tarik vögelt. Ihretwegen lässt er sich in Bioenergetikseminaren von verschwitzten Klemmis anschreien. Ihretwegen zieht er in eine Höllen-WG mit der asigen Ilona, die ihre Liebhaber anranzt und ihr Geschirr nicht spült. Das ist das eine.
Das andere ist Martins unbremsbarer Lese- und Selbstformungseifer. Er klatscht in die Hände, wenn Eckhard Henscheid mal wieder irgend einen Dödel im Zeit-Magazin an die Wand genagelt hat. Selbst seinen geliebten Professor Dietmar Kamper überlässt er dem verehrten Henscheid zum Fraß. Er staunt über den behaglichen Antisemitismus der zeitgenössischen Politiker, den er im Spiegel abgebildet findet. Und natürlich plagt er sich mit seinen Eltern herum, der resoluten Mutti, die tapfer gegen ihren Krebs kämpft und sich längst von ihrem stieseligen Mann getrennt hätte, wäre da nicht die Oma in Jever – ach, es ist ein Elend, aber man kann es sich auch darin bequem machen.
Seinen Meister hat Martin Schlosser nicht in Poona gefunden, sondern in Nartum. Dort veranstaltet Walter Kempowski seine Schreibseminare. Herrlich, wie Henschel Kempowskis fassungsloses Schweigen schildert, als dieser in seinem Haus einem Jugendlichen beim Breakdance zuschauen muss. Am Ende, flankiert von Trennungshysterie und Versöhnungssexemphase mit Andrea, wagt Martin den Sprung ins kalte Wasser, besser: den in die eiskalte Wohnung in Oldenburg als freier Schriftsteller, der, darin Arno Schmidt ähnlich, die Profanität des Alltags zu seiner literarischen Sache macht.
Man hat Henschel immer mit sorgenvoller Bewunderung zugesehen, wie er sich an seine Gegenwart heranschreibt. Kann das gut gehen? Läuft sich das tot? Nein, es wird immer lebendiger, je älter, je unbelehrbarer Martin Schlosser wird. Das Buch lebt auch von Zitaten, die Martin abschießt. Eines, das nicht im Buch, aber auf dem Grabstein von Herbert Marcuse steht, geht direkt an Gerhard Henschel: Weitermachen!
HILMAR KLUTE
Gerhard Henschel: Künstlerroman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 576 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Hohes Identifikationspotenzial, jede Menge political incorrectness und hoher Wiedererkennungswert - das sind für Gerd Busse die wichtigsten Gründe, den Helden von Gerhard Henschels ins Herz zu schließen. Wenn Taugenichts Martin Schlosser im nunmehr sechsten Band der Meppener Schelmenromanchronik erst nach Berlin, dann nach Köln und weiter nach Oldenburg zieht, um dort Bohemian zu werden, jedoch beständig schön grotesk an seinen guten Vorsätzen scheitert, fühlt sich Busse super unterhalten. Zumal Henschel das Jahr 1985 mit lauter hübschen Verweisen auf Sprachmoden, Bücher, Filme, Songs usw. aufs Liebenswerteste wiederauferstehen lässt, wie Busse hocherfreut feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Henschel fängt den Alltag wie gewohnt auf wunderbare Weise ein. Allergenauestens, hochdetailliert, und ohne dabei kleinkrämerisch zu werden.« Ronald Meyer-Arlt Göttinger Tageblatt 20150818