Wo früher Gesellschaftstheorien auf Kommunikation setzten, erscheint nun zunehmend Empathie oder Einfühlung als Kitt, der die Gemeinschaften zusammenhält. Doch was genau ist Empathie und was leistet sie? Fritz Breithaupt berücksichtigt in seinem Buch die psychologischen und kognitionswissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, aber auch die Literatur und Philosophie, die seit Jahrtausenden über Empathie und Mitleid nachgedacht haben, um verschiedene »Kulturen der Empathie« zu unterscheiden. Fluchtpunkt seiner Theorie ist eine Grammatik der Empathie, die menschliche Einfühlung als einen sozialen Prozeß ausweist, der komplexe Narrationen beinhaltet und eine Idee von Gemeinschaft ins Spiel bringt, die sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln allein nicht hinreichend beschreiben läßt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2009Gespiegelte Perspektiven
In fremder Haut sieht die Welt gleich anders aus: Zwei Bücher widmen sich der Empathie und zeigen Biologie und Geisteswissenschaften im neuen Dialog.
Vielleicht eine Anekdote zum Auftakt. Ein kleiner Junge fragt seinen Vater: "Weißt du, Papa, warum ich kein Hund sein möchte?" Die Antwort gibt er gleich selbst: "Weil ich nicht wüsste, wie man mit dem Schwanz wedelt." Der Witz dieser Geschichte lebt von der Phantasie, sich in einen anderen hineinzuversetzen: Der kleine Junge wird halb angezogen von dem Gedanken, zur Abwechslung mal ein Hund zu sein, und halb abgeschreckt von der Fremdheit, die er sich da einhandelte. Was in diesem Fall am Schwanzwedeln scheitert, ist unter anderen Umständen aber ganz einfach: Wenn der Junge sähe, wie Robbenbabies totgeschlagen werden, würde er sich mit der Einfühlung leichttun. Er könnte nachvollziehen, was das Tier empfindet. Er würde mit Empathie reagieren. Damit sind wir beim Thema.
Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia haben ein handliches Buch vorgelegt, das einen hervorragenden Überblick über die aktuelle biowissenschaftliche Forschung zur Empathie bietet. Rizzolatti gilt als Entdecker der Spiegelneurone, die sich durch die verblüffende Eigenschaft auszeichnen, sowohl dann zu "feuern", wenn ein Lebewesen motorisch aktiv ist, wie auch, wenn es bei einem anderen die gleiche Aktion beobachtet. Bewegung und Beobachtung überschneiden sich, man lässt den anderen so nah an sich heran, dass man drauf und dran ist, ihn mit sich zu verwechseln. Das Gehirn ist gut genug konstruiert, um diese Verwechslung zu verhindern. Aber es gilt auch: Es ist gut genug konstruiert, um solche Neuronen mit an Bord zu haben, denn sie haben eine tragende Funktion bei der Koordination des Zusammenlebens nicht nur von Tieren, sondern auch von Menschen.
Rizzolatti ist es, der die eingangs erwähnte Geschichte von dem kleinen Jungen erzählt. Er hält es nämlich für höchst bedeutsam, dass der Junge gerade mit dem Schwanzwedeln hadert, nicht etwa mit der Frage, ob er sich ein braunes Fell zulegen könnte. Weil die Spiegelneurone speziell für motorische Abläufe oder Aktionen zuständig sind, binden sich die Spiele der Empathie oder der "Resonanz" nicht an Gegenstände, sondern an Bewegungen oder komplexere Handlungen.
Es sieht so aus, also könnte damit auch eine neue Phase im Dialog zwischen Lebens- und Geisteswissenschaften eingeläutet werden. Bis heute meinen viele, dieser Dialog stehe im Zeichen von Physik und Metaphysik: Man streitet um Kausalität und Freiheit, Determinismus und Autonomie. Doch dieser metaphysische Krach war vielleicht nur viel Lärm um wenig: nicht ein Endspiel um das Menschenbild, sondern Vorspiel für eine neue, viel ergiebigere Debatte. Eine pragmatische Wende im Dialog von Lebens- und Geisteswissenschaften zeichnet sich ab.
Statt nach dem freien Geist im Gehirn zu suchen, hält sich Rizzolatti an die Verbindung zwischen Gehirnvorgängen und äußeren Bewegungsabläufen; zu ihnen gehören komplexe Handlungen, in denen die Intentionen einer Person zum Ausdruck kommen. Deshalb bevorzugt er ausdrücklich eine "pragmatische" Sichtweise und beruft sich zum Teil begeistert auf die großen Theoretiker des Pragmatismus wie William James und George Herbert Mead. Demnach stellt sich der Raum, in dem ein Mensch sich bewegt, nicht als Ansammlung von Objekten mit "abstrakten physikalischen" Eigenschaften dar, sondern als Raum voll "praktischer Gelegenheiten". Die Frage nach den Freiräumen des Handelns verlagert sich damit auf die Beschreibung eines "potentiell geteilten Handlungsraums", der "immer kompliziertere Interaktionsformen" ermöglicht.
Koordiniert wird diese Interaktion vielfach von der "Empathie", deren Wirkung freilich vom Kontext abhängt: "Wenn wir zum Beispiel ein schmerzverzerrtes Gesicht sehen, veranlasst uns das nicht automatisch, Mitgefühl zu empfinden . . . Das Mitleid hängt außer vom Erkennen des Schmerzes noch von anderen Faktoren ab, zum Beispiel davon, wer der andere ist, welche Beziehungen wir zu ihm haben, ob wir uns in seine Lage versetzen können." Die Quintessenz aus Rizzolattis Befunden ist ebenso einfach wie gewichtig: Es geht nicht darum, "das Netz unserer interindividuellen und sozialen Beziehungen" kognitionswissenschaftlich zu determinieren, sondern darum, die Spiegelneurone als pragmatische Ressource erster Güte für die Koordination und Kooperation unter Menschen einzusetzen. Darin liegt ihre soziale und letztlich auch ethische Relevanz.
An einer Stelle gehen Rizzolatti und sein Koautor über ihre pragmatische Lesart hinaus: Sie zitieren den großen Regisseur Peter Brook, der erklärt hat, "die Neurowissenschaften hätten mit der Entdeckung der Spiegelneurone zu verstehen begonnen, was das Theater seit jeher gewusst habe". Er meint hier die Fähigkeit der Schauspieler, sich mitzuteilen und die Zuschauer zur "unmittelbaren Teilhabe" zu bewegen. In der Tat ist frappant, dass viele aktuelle Analysen zur Empathie fast wortwörtlich wiedergeben, was in der Ästhetik und Ethik - bei Aristoteles, Lessing, Adam Smith und anderen - unter den Titeln des Mitleids und der Sympathie bereits sehr präzise beschrieben worden ist. Rizzolatti selbst kümmert sich um diese Vorgeschichte leider mit keinem Wort, wohl aber der Germanist Fritz Breithaupt in seinem Buch "Kulturen der Empathie".
Breithaupt springt - manchmal inspirierend, manchmal auch arg waghalsig - zwischen den Befunden der Hirnforschung und der Kultur und Literatur der Moderne hin und her. Im Prinzip setzt er genau bei der sozialen Vernetzung des menschlichen Agierens und Reagierens an, die Rizzolatti und seine Mitstreiter in den Mittelpunkt stellen. Mit den Spiegelneuronen ist demnach eine "biologische Basis der Intersubjektivität" gegeben, die kulturell ausgestaltet wird. Breithaupt folgt Michael Tomasellos These, wonach die Empathie beim Menschen besonders stark ausgeprägt ist, der sich "tiefer" mit seinen Artgenossen identifiziert als ein Tier. Doch damit wird die Empathie nicht zum Naturgesetz. Automatisch wird sie nur in "klar determinierten" Situationen ausgelöst, und die sind im Alltag Mangelware. Breithaupt weiß dies und nimmt den Leser mit auf eine an Überraschungen reiche Tour zu den kulturellen Praktiken, in denen Empathie inszeniert, aber auch gefiltert oder blockiert wird. Einen besonderen Stellenwert bei diesen "Kulturen der Empathie" weist Breithaupt der "Narration" zu, also der erzählerischen Ausgestaltung von Situationen; sie wird von ihm allerdings unnötiger- und unverständlicherweise ganz nah an "kausale" Erklärungen herangerückt.
Zwei steile Thesen werden in dem Buch aufgestellt; sie sind hochinteressant und fragwürdig zugleich. Nach Breithaupts erster These ist Empathie letztlich nicht eine Konstellation zwischen zwei Personen, sondern "die Zugehörigkeit, die man empfindet, wenn man die Partei für den einen (und nicht den anderen) ergriffen hat". Er führt das Mitgefühl also auf eine agonale Struktur, auf Kampf und Konkurrenz zurück. Mir ist unverständlich, warum man diese Parteinahme als "Empathie" (und nicht etwa als Solidarisierung) bezeichnet und warum das Mitgefühl, das man für einen Leidenden empfindet, auf eine bewusste Entscheidung gegen einen anderen Leidenden gegründet sein muss.
Breithaupts zweite steile These betrifft das Verhältnis zwischen der Empathie und dem "Ich". Zu Recht weist er darauf hin, dass der Diskurs um Sympathie und Mitleid eben zu jener Zeit Konjunktur hatte - nämlich im 18. Jahrhundert -, als auch das substantivierte "Ich", das berühmt-berüchtigte Subjekt die Bühne betrat. Nach Breithaupt ist dies alles andere als ein Zufall: Im "Ich" sieht er den Träger eines "Individualitätsfetischismus", mit dem "das Band zwischen den Menschen" zerschlissen wird und ein Kult der "Nicht-Ähnlichkeit" zwischen den Menschen in Gang kommt. Zwischen diesem Kult und der "Empathie", die ihm als "Antipode" gegenübersteht, kommt es Breithaupt zufolge zu einer Art Machtspiel: Beide Seiten blockieren und kontrollieren einander und schaukeln sich gegenseitig hoch.
Breithaupt beschreibt mit Rousseau die "Egozentrik" des "Ichs", das sich in "Eigenliebe" ergeht. Dies ist aber nicht das einzige "Ich", das im 18. Jahrhundert oder überhaupt in der modernen Gesellschaft in Umlauf ist. Gerade Rousseau taugt als Kronzeuge gegen diese Lesart, denn er kennt auch - wie er in den "Träumereien des einsamen Spaziergängers" schreibt - ein "Ich", das mit den "Bewegungen" seiner "Seele" geradewegs in Korrespondenz steht zu der "Bewegung" seiner Umgebung. Die Kultur der Empathie oder des Mitgefühls geht doch Hand in Hand mit einer Kultur des Selbstgefühls, sie ist auf ein "Ich" angewiesen, wenn sie nicht auf körperliche Reaktionen oder irgendwelche selbstvergessene Ekstasen beschränkt bleiben soll. Mit guten Gründen verweist Breithaupt die Hoffnung in ihre Grenzen, "zur Verbesserung des Menschen" könne man "allein auf Empathie setzen". Und doch stellt sie eine starke, bis heute unterschätzte Herausforderung dar für die sogenannten "Ichlinge", für jene Menschen, deren größtes Glück darin liegt, die Welt auf Abstand zu halten.
DIETER THOMÄ
Fritz Breithaupt: "Kulturen der Empathie". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 204 S., br., 10,- [Euro].
Giacomo Rizzolatti, Corrado Sinigaglia: "Empathie und Spiegelneurone". Die biologische Basis des Mitgefühls. Aus dem Italienischen von Friedrich Griese. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 230 S., Abb., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In fremder Haut sieht die Welt gleich anders aus: Zwei Bücher widmen sich der Empathie und zeigen Biologie und Geisteswissenschaften im neuen Dialog.
Vielleicht eine Anekdote zum Auftakt. Ein kleiner Junge fragt seinen Vater: "Weißt du, Papa, warum ich kein Hund sein möchte?" Die Antwort gibt er gleich selbst: "Weil ich nicht wüsste, wie man mit dem Schwanz wedelt." Der Witz dieser Geschichte lebt von der Phantasie, sich in einen anderen hineinzuversetzen: Der kleine Junge wird halb angezogen von dem Gedanken, zur Abwechslung mal ein Hund zu sein, und halb abgeschreckt von der Fremdheit, die er sich da einhandelte. Was in diesem Fall am Schwanzwedeln scheitert, ist unter anderen Umständen aber ganz einfach: Wenn der Junge sähe, wie Robbenbabies totgeschlagen werden, würde er sich mit der Einfühlung leichttun. Er könnte nachvollziehen, was das Tier empfindet. Er würde mit Empathie reagieren. Damit sind wir beim Thema.
Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia haben ein handliches Buch vorgelegt, das einen hervorragenden Überblick über die aktuelle biowissenschaftliche Forschung zur Empathie bietet. Rizzolatti gilt als Entdecker der Spiegelneurone, die sich durch die verblüffende Eigenschaft auszeichnen, sowohl dann zu "feuern", wenn ein Lebewesen motorisch aktiv ist, wie auch, wenn es bei einem anderen die gleiche Aktion beobachtet. Bewegung und Beobachtung überschneiden sich, man lässt den anderen so nah an sich heran, dass man drauf und dran ist, ihn mit sich zu verwechseln. Das Gehirn ist gut genug konstruiert, um diese Verwechslung zu verhindern. Aber es gilt auch: Es ist gut genug konstruiert, um solche Neuronen mit an Bord zu haben, denn sie haben eine tragende Funktion bei der Koordination des Zusammenlebens nicht nur von Tieren, sondern auch von Menschen.
Rizzolatti ist es, der die eingangs erwähnte Geschichte von dem kleinen Jungen erzählt. Er hält es nämlich für höchst bedeutsam, dass der Junge gerade mit dem Schwanzwedeln hadert, nicht etwa mit der Frage, ob er sich ein braunes Fell zulegen könnte. Weil die Spiegelneurone speziell für motorische Abläufe oder Aktionen zuständig sind, binden sich die Spiele der Empathie oder der "Resonanz" nicht an Gegenstände, sondern an Bewegungen oder komplexere Handlungen.
Es sieht so aus, also könnte damit auch eine neue Phase im Dialog zwischen Lebens- und Geisteswissenschaften eingeläutet werden. Bis heute meinen viele, dieser Dialog stehe im Zeichen von Physik und Metaphysik: Man streitet um Kausalität und Freiheit, Determinismus und Autonomie. Doch dieser metaphysische Krach war vielleicht nur viel Lärm um wenig: nicht ein Endspiel um das Menschenbild, sondern Vorspiel für eine neue, viel ergiebigere Debatte. Eine pragmatische Wende im Dialog von Lebens- und Geisteswissenschaften zeichnet sich ab.
Statt nach dem freien Geist im Gehirn zu suchen, hält sich Rizzolatti an die Verbindung zwischen Gehirnvorgängen und äußeren Bewegungsabläufen; zu ihnen gehören komplexe Handlungen, in denen die Intentionen einer Person zum Ausdruck kommen. Deshalb bevorzugt er ausdrücklich eine "pragmatische" Sichtweise und beruft sich zum Teil begeistert auf die großen Theoretiker des Pragmatismus wie William James und George Herbert Mead. Demnach stellt sich der Raum, in dem ein Mensch sich bewegt, nicht als Ansammlung von Objekten mit "abstrakten physikalischen" Eigenschaften dar, sondern als Raum voll "praktischer Gelegenheiten". Die Frage nach den Freiräumen des Handelns verlagert sich damit auf die Beschreibung eines "potentiell geteilten Handlungsraums", der "immer kompliziertere Interaktionsformen" ermöglicht.
Koordiniert wird diese Interaktion vielfach von der "Empathie", deren Wirkung freilich vom Kontext abhängt: "Wenn wir zum Beispiel ein schmerzverzerrtes Gesicht sehen, veranlasst uns das nicht automatisch, Mitgefühl zu empfinden . . . Das Mitleid hängt außer vom Erkennen des Schmerzes noch von anderen Faktoren ab, zum Beispiel davon, wer der andere ist, welche Beziehungen wir zu ihm haben, ob wir uns in seine Lage versetzen können." Die Quintessenz aus Rizzolattis Befunden ist ebenso einfach wie gewichtig: Es geht nicht darum, "das Netz unserer interindividuellen und sozialen Beziehungen" kognitionswissenschaftlich zu determinieren, sondern darum, die Spiegelneurone als pragmatische Ressource erster Güte für die Koordination und Kooperation unter Menschen einzusetzen. Darin liegt ihre soziale und letztlich auch ethische Relevanz.
An einer Stelle gehen Rizzolatti und sein Koautor über ihre pragmatische Lesart hinaus: Sie zitieren den großen Regisseur Peter Brook, der erklärt hat, "die Neurowissenschaften hätten mit der Entdeckung der Spiegelneurone zu verstehen begonnen, was das Theater seit jeher gewusst habe". Er meint hier die Fähigkeit der Schauspieler, sich mitzuteilen und die Zuschauer zur "unmittelbaren Teilhabe" zu bewegen. In der Tat ist frappant, dass viele aktuelle Analysen zur Empathie fast wortwörtlich wiedergeben, was in der Ästhetik und Ethik - bei Aristoteles, Lessing, Adam Smith und anderen - unter den Titeln des Mitleids und der Sympathie bereits sehr präzise beschrieben worden ist. Rizzolatti selbst kümmert sich um diese Vorgeschichte leider mit keinem Wort, wohl aber der Germanist Fritz Breithaupt in seinem Buch "Kulturen der Empathie".
Breithaupt springt - manchmal inspirierend, manchmal auch arg waghalsig - zwischen den Befunden der Hirnforschung und der Kultur und Literatur der Moderne hin und her. Im Prinzip setzt er genau bei der sozialen Vernetzung des menschlichen Agierens und Reagierens an, die Rizzolatti und seine Mitstreiter in den Mittelpunkt stellen. Mit den Spiegelneuronen ist demnach eine "biologische Basis der Intersubjektivität" gegeben, die kulturell ausgestaltet wird. Breithaupt folgt Michael Tomasellos These, wonach die Empathie beim Menschen besonders stark ausgeprägt ist, der sich "tiefer" mit seinen Artgenossen identifiziert als ein Tier. Doch damit wird die Empathie nicht zum Naturgesetz. Automatisch wird sie nur in "klar determinierten" Situationen ausgelöst, und die sind im Alltag Mangelware. Breithaupt weiß dies und nimmt den Leser mit auf eine an Überraschungen reiche Tour zu den kulturellen Praktiken, in denen Empathie inszeniert, aber auch gefiltert oder blockiert wird. Einen besonderen Stellenwert bei diesen "Kulturen der Empathie" weist Breithaupt der "Narration" zu, also der erzählerischen Ausgestaltung von Situationen; sie wird von ihm allerdings unnötiger- und unverständlicherweise ganz nah an "kausale" Erklärungen herangerückt.
Zwei steile Thesen werden in dem Buch aufgestellt; sie sind hochinteressant und fragwürdig zugleich. Nach Breithaupts erster These ist Empathie letztlich nicht eine Konstellation zwischen zwei Personen, sondern "die Zugehörigkeit, die man empfindet, wenn man die Partei für den einen (und nicht den anderen) ergriffen hat". Er führt das Mitgefühl also auf eine agonale Struktur, auf Kampf und Konkurrenz zurück. Mir ist unverständlich, warum man diese Parteinahme als "Empathie" (und nicht etwa als Solidarisierung) bezeichnet und warum das Mitgefühl, das man für einen Leidenden empfindet, auf eine bewusste Entscheidung gegen einen anderen Leidenden gegründet sein muss.
Breithaupts zweite steile These betrifft das Verhältnis zwischen der Empathie und dem "Ich". Zu Recht weist er darauf hin, dass der Diskurs um Sympathie und Mitleid eben zu jener Zeit Konjunktur hatte - nämlich im 18. Jahrhundert -, als auch das substantivierte "Ich", das berühmt-berüchtigte Subjekt die Bühne betrat. Nach Breithaupt ist dies alles andere als ein Zufall: Im "Ich" sieht er den Träger eines "Individualitätsfetischismus", mit dem "das Band zwischen den Menschen" zerschlissen wird und ein Kult der "Nicht-Ähnlichkeit" zwischen den Menschen in Gang kommt. Zwischen diesem Kult und der "Empathie", die ihm als "Antipode" gegenübersteht, kommt es Breithaupt zufolge zu einer Art Machtspiel: Beide Seiten blockieren und kontrollieren einander und schaukeln sich gegenseitig hoch.
Breithaupt beschreibt mit Rousseau die "Egozentrik" des "Ichs", das sich in "Eigenliebe" ergeht. Dies ist aber nicht das einzige "Ich", das im 18. Jahrhundert oder überhaupt in der modernen Gesellschaft in Umlauf ist. Gerade Rousseau taugt als Kronzeuge gegen diese Lesart, denn er kennt auch - wie er in den "Träumereien des einsamen Spaziergängers" schreibt - ein "Ich", das mit den "Bewegungen" seiner "Seele" geradewegs in Korrespondenz steht zu der "Bewegung" seiner Umgebung. Die Kultur der Empathie oder des Mitgefühls geht doch Hand in Hand mit einer Kultur des Selbstgefühls, sie ist auf ein "Ich" angewiesen, wenn sie nicht auf körperliche Reaktionen oder irgendwelche selbstvergessene Ekstasen beschränkt bleiben soll. Mit guten Gründen verweist Breithaupt die Hoffnung in ihre Grenzen, "zur Verbesserung des Menschen" könne man "allein auf Empathie setzen". Und doch stellt sie eine starke, bis heute unterschätzte Herausforderung dar für die sogenannten "Ichlinge", für jene Menschen, deren größtes Glück darin liegt, die Welt auf Abstand zu halten.
DIETER THOMÄ
Fritz Breithaupt: "Kulturen der Empathie". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 204 S., br., 10,- [Euro].
Giacomo Rizzolatti, Corrado Sinigaglia: "Empathie und Spiegelneurone". Die biologische Basis des Mitgefühls. Aus dem Italienischen von Friedrich Griese. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 230 S., Abb., br., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Hin und Her zwischen Hirnforschung und literarischer und kultureller Moderne, wie es Fritz Breithaupt in diesem Band praktiziert, findet Dieter Thomä so inspirierend wie gewagt. Überrascht von Breithaupts Darstellung verschiedener spezifisch menschlicher Praktiken der Empathie (oder der Empathieblockierung), merkt Thomä dennoch, wie der Autor die Narration allzu sehr kausal auffasst. Ebenso fragwürdig (bei aller Begeisterung für den Wagemut des Autors) erscheint dem Rezensenten mitunter Breithaupts Empathiebegriff. Und wenn Breithaupt Rousseau als Gewährsmann für Egozentrik anführt, fallen Thomä auch noch andere ein. Vor allem aber weiß er, dass die Kultur des Mitgefühls Hand in Hand geht mit einer Kultur des Selbstgefühls.
© Perlentaucher Medien GmbH
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