Jan Karski war einer der wichtigsten Kuriere der polnischen Untergrundbewegung im Zweiten Weltkrieg. 1942/43 versorgte er die Alliierten mit detaillierten Informationen über das Schicksal der Juden in Polen. Doch seine Hoffnung, sie zu einem Eingreifen zu bewegen, erfüllte sich nicht. 2011 erschien sein noch im Krieg verfasster "Bericht an die Welt" erstmals auf Deutsch und erregte großes Interesse. Jetzt legt Marta Kijowska die erste deutschsprachige Biografie vor, die sein ganzes Leben erzählt, auch die frühen Jahre und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Jan Karski wurde 1914 in Lodz geboren und hatte eine Diplomatenkarriere vor sich, als die Wehrmacht Polen überfiel. Unter der deutschen Okkupation wurde er zu einem der aktivsten Mitglieder der polnischen Untergrundbewegung und zu einem ihrer wichtigsten Kuriere. Im Herbst 1942 wurde er auf einer speziellen Mission in den Westen geschickt. Er sollte die polnische Exilregierung und die Alliierten über die Arbeit des Untergrunds, aber auch über das Schicksal der polnischen Juden informieren. Um einen möglichst glaubwürdigen Bericht zu liefern, ließ er sich vorher ins Warschauer Ghetto und in ein Transitlager im Osten Polens einschleusen. Doch seine Versuche, die Welt zu alarmieren, blieben ohne Wirkung: Er wurde zwar in London u.a. von Außenminister Anthony Eden und in Washington sogar von Präsident Franklin D. Roosevelt empfangen, doch entweder schenkte man seinem Bericht keinen Glauben oder man blieb gleichgültig. Schockiert und enttäuscht, wollte Karski über seine Erlebnisse nie wieder sprechen. Er ließ sich in Washington nieder, wo er viele Jahre an der Georgetown University lehrte. Erst Ende der 70er Jahre gelingt es Claude Lanzmann ihn für seinen Dokumentarfilm "Shoah" vor die Kamera zu holen. Erneut betätigt Karski sich als Kurier, diesmal als Kurier der Erinnerung.
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Wer ihn einmal gehört hat, wird ihn nie mehr vergessen
Marta Kijowskas Biographie von Jan Karski, der den Alliierten vom Warschauer Getto und den Vernichtungslagern berichtete
Jan Karski (eigentlich Kozielewski) wäre letzte Woche hundert Jahre alt geworden. Er war ein eleganter, sympathischer und heroischer Repräsentant der polnischen Bourgeoisie der Zwischenkriegszeit. Das soziale Milieu dieser Familien hatte zusammen mit den liberalen Fraktionen des polnischen Adels die zweite Republik getragen und die kulturelle Blüte jener Jahre geprägt. Ihre ästhetischen und moralisch-politischen Werte sind bis heute eines der wichtigsten immateriellen Erbstücke unseres östlichen Nachbarlands. Wenig später - man weiß es, aber man macht sich nicht oft klar, was es politisch und kulturell bedeutet hat - haben Stalin und Hitler die europäisch gesinnte Bildungselite Polens in einer Serie von Großverbrechen (von denen Auschwitz und das sowjetische Massaker von Katyn nur die bekanntesten sind) fast vollständig vernichtet.
Marta Kijowska legt jetzt die materialreiche und gut geschriebene Biographie eines polnischen Gentleman der Zwischenkriegsjahre vor, der die Jahre der Doppelokkupation Polens durch Nazideutschland und durch die Sowjetunion nicht nur überlebte, sondern später in den Vereinigten Staaten als Professor der Georgetown University und bis zu seinem Tod im Jahr 2000 die Erinnerung an die Jahre der zweiten polnischen Republik wachhielt und verkörperte.
Wer Claude Lanzmanns Film "Shoah" gesehen hat, wird das Interview mit Jan Karski nicht vergessen können, in dessen Verlauf er von den entsetzlichen Erinnerungen an seinen Besuch im Warschauer Getto mehrmals übermannt wird. Er hatte sich in Begleitung von Vertretern des jüdischen Widerstands durch einen Tunnel in diese Hölle begeben, um als Kurier der polnischen Heimatarmee der Londoner Exilregierung und den westlichen Politikern aus erster Hand über die Lage der Juden unter der deutschen Besetzung berichten zu können. Diese Berichte haben unglaublicherweise nicht nur in London, sondern später auch in den Vereinigten Staaten zum größten Teil merkwürdig beiläufige und halb desinteressierte Reaktionen hervorgerufen.
Dass der junge Diplomat und Offizier der Heimatarmee damals die Westmächte über den Holocaust informiert hat, ist trotzdem seine eigentliche historische Leistung gewesen, der weltgeschichtliche Moment des Jan Karski, auch wenn dieser Moment damals politisch und militärisch weitgehend folgenlos vorübergegangen ist. Wie ja auch das zweite Ziel des polnischen Untergrundstaats und der Londoner Exilregierung, nach dem gemeinsam mit den Westmächten gewonnenen Krieg ein demokratisches Polen wiederherzustellen, eine derartig halbherzige Unterstützung seitens der Demokratien erfuhr, dass Stalin das Land für lange Jahrzehnte der totalitären Machtsphäre einverleiben konnte.
In ihrer biographischen Erzählung hält sich Kijowska bis 1944 eng an Jan Karskis mittlerweile klassisch gewordene Autobiographie "Mein Bericht an die Welt: Geschichte eines Staates im Untergrund", deren brillante Prosa sie teils zitiert, teils paraphrasiert, teils mit Augenzeugenberichten und sogar literarischen Kurzauftritten anderer Autoren anreichert - eine Erzähltechnik, die in gelungener Weise an Verfahren des historischen Dokumentarfilms anknüpft. Die bleierne Zeit des Kalten Kriegs nach 1945, die Jahrzehnte einer prekären Stabilisierung der polnischen Volksrepublik, verbrachte Karski in den Vereinigten Staaten - als Zeitzeuge und als Professor an der School of Foreign Service in Georgetown. Er war ein wissenschaftlicher Gewährsmann der amerikanischen Sowjetologie, Marxismusforschung und psychologischen Kriegsführung, Berater des Pentagon und von Radio Free Europe. Bill Clinton studierte bei ihm, Madeleine Albright wurde seine Nachfolgerin, und er schrieb ein Standardwerk zur polnischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. 1965 heiratete er die jüdisch-polnische Tänzerin Pola Nirenska.
Über seine Missionen als Kurier des polnischen Untergrunds sollte er erst in den späten siebziger Jahren wieder öffentlich sprechen. Claude Lanzmann suchte die Bekanntschaft des mittlerweile emeritierten Autors von "Story of a Secret State. My Report to the World" und überredete ihn, sich für "Shoah" interviewen zu lassen. Sein durch diesen Film erneuerter öffentlicher Ruhm trug ihm die Ehrung durch Israel als "Gerechter unter den Völkern" ein, führte ihn auf ausgedehnte Vortragsreisen (auch nach Deutschland, das er jahrzehntelang nicht betreten hatte) und schließlich auch wieder auf erste offizielle Besuche in seiner alten Heimat, wo er nach 1990 zu einem elder statesman des neuen Polen wurde.
In dieser letzten Phase seines Lebens ist Karski - wie andere große Figuren des intellektuellen und politischen Polen - nationales Denkmal und Ketzer zugleich gewesen. Er sah Polen von seiner zweiten, der amerikanischen Heimat aus. Er redete seinen Landsleuten nicht nach dem Mund, und er sagte über die nationalen Mythen, was er aufgrund seiner persönlichen Erfahrung wusste und dachte. Das galt für die Beurteilung des Warschauer Aufstands ebenso wie für die Präsidentschaft Lech Walesas. Die Kandidatur Aleksander Kwasniewskis unterstützte Karski zum Entsetzen vieler seiner Bewunderer, und die Geschichte sollte ihm recht geben, denn es war der Postkommunist Kwasniewski, der Polen erfolgreich und umsichtig in die Nato und in die EU geführt hat.
Als Träger der höchsten polnischen Auszeichnung, des Weißen Adlerordens, machte Karski sich unbeliebt, indem er immer wieder betonte, er persönlich hätte dieselbe Ehre sowohl Lech Walesa als auch General Wojciech Jaruzelski zuerkannt, denn ihnen gemeinsam sei es zu verdanken, dass sich Polen ohne Blutvergießen von einer Diktatur zu einer Demokratie gewandelt habe. "Ich bin schon ein alter Mann", schrieb er an Jaruzelski, "habe 84 Jahre auf dem Buckel. Mein Herz schlägt polnisch, aber meine Weltanschauung verdanke ich meiner zweiten Heimat Amerika, von der ich so viel Freundlichkeit und Anerkennung erfahren habe. Wahrscheinlich deshalb betrachte ich den Lauf der Dinge in Polen anders als viele Patrioten, die dort leben. Ich sehe den Wald, sie - die Bäume."
Historiker, heißt es, seien rückwärtsgewandte Propheten. Aber wer Geschichte betrachtet, macht sich unwillkürlich auch Gedanken über historische Paralleluniversen und mögliche Geschichtsverläufe. Wer auf das Jahrhundert Hitlers und Stalins zurückschaut, dem drängt sich das Gedankenexperiment auf, dass es auch das Jahrhundert Jan Karskis hätte werden können. Marta Kijowskas schöne Biographie des Diplomaten, Untergrundkämpfers, Kuriers, Politikers und Wissenschaftlers ist eine Art Lesebuch über die besseren Möglichkeiten der letzten hundert Jahre.
STEPHAN WACKWITZ
Marta Kijowska: "Kurier der Erinnerung". Das Leben des Jan Karski.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 382 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marta Kijowskas Biographie von Jan Karski, der den Alliierten vom Warschauer Getto und den Vernichtungslagern berichtete
Jan Karski (eigentlich Kozielewski) wäre letzte Woche hundert Jahre alt geworden. Er war ein eleganter, sympathischer und heroischer Repräsentant der polnischen Bourgeoisie der Zwischenkriegszeit. Das soziale Milieu dieser Familien hatte zusammen mit den liberalen Fraktionen des polnischen Adels die zweite Republik getragen und die kulturelle Blüte jener Jahre geprägt. Ihre ästhetischen und moralisch-politischen Werte sind bis heute eines der wichtigsten immateriellen Erbstücke unseres östlichen Nachbarlands. Wenig später - man weiß es, aber man macht sich nicht oft klar, was es politisch und kulturell bedeutet hat - haben Stalin und Hitler die europäisch gesinnte Bildungselite Polens in einer Serie von Großverbrechen (von denen Auschwitz und das sowjetische Massaker von Katyn nur die bekanntesten sind) fast vollständig vernichtet.
Marta Kijowska legt jetzt die materialreiche und gut geschriebene Biographie eines polnischen Gentleman der Zwischenkriegsjahre vor, der die Jahre der Doppelokkupation Polens durch Nazideutschland und durch die Sowjetunion nicht nur überlebte, sondern später in den Vereinigten Staaten als Professor der Georgetown University und bis zu seinem Tod im Jahr 2000 die Erinnerung an die Jahre der zweiten polnischen Republik wachhielt und verkörperte.
Wer Claude Lanzmanns Film "Shoah" gesehen hat, wird das Interview mit Jan Karski nicht vergessen können, in dessen Verlauf er von den entsetzlichen Erinnerungen an seinen Besuch im Warschauer Getto mehrmals übermannt wird. Er hatte sich in Begleitung von Vertretern des jüdischen Widerstands durch einen Tunnel in diese Hölle begeben, um als Kurier der polnischen Heimatarmee der Londoner Exilregierung und den westlichen Politikern aus erster Hand über die Lage der Juden unter der deutschen Besetzung berichten zu können. Diese Berichte haben unglaublicherweise nicht nur in London, sondern später auch in den Vereinigten Staaten zum größten Teil merkwürdig beiläufige und halb desinteressierte Reaktionen hervorgerufen.
Dass der junge Diplomat und Offizier der Heimatarmee damals die Westmächte über den Holocaust informiert hat, ist trotzdem seine eigentliche historische Leistung gewesen, der weltgeschichtliche Moment des Jan Karski, auch wenn dieser Moment damals politisch und militärisch weitgehend folgenlos vorübergegangen ist. Wie ja auch das zweite Ziel des polnischen Untergrundstaats und der Londoner Exilregierung, nach dem gemeinsam mit den Westmächten gewonnenen Krieg ein demokratisches Polen wiederherzustellen, eine derartig halbherzige Unterstützung seitens der Demokratien erfuhr, dass Stalin das Land für lange Jahrzehnte der totalitären Machtsphäre einverleiben konnte.
In ihrer biographischen Erzählung hält sich Kijowska bis 1944 eng an Jan Karskis mittlerweile klassisch gewordene Autobiographie "Mein Bericht an die Welt: Geschichte eines Staates im Untergrund", deren brillante Prosa sie teils zitiert, teils paraphrasiert, teils mit Augenzeugenberichten und sogar literarischen Kurzauftritten anderer Autoren anreichert - eine Erzähltechnik, die in gelungener Weise an Verfahren des historischen Dokumentarfilms anknüpft. Die bleierne Zeit des Kalten Kriegs nach 1945, die Jahrzehnte einer prekären Stabilisierung der polnischen Volksrepublik, verbrachte Karski in den Vereinigten Staaten - als Zeitzeuge und als Professor an der School of Foreign Service in Georgetown. Er war ein wissenschaftlicher Gewährsmann der amerikanischen Sowjetologie, Marxismusforschung und psychologischen Kriegsführung, Berater des Pentagon und von Radio Free Europe. Bill Clinton studierte bei ihm, Madeleine Albright wurde seine Nachfolgerin, und er schrieb ein Standardwerk zur polnischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. 1965 heiratete er die jüdisch-polnische Tänzerin Pola Nirenska.
Über seine Missionen als Kurier des polnischen Untergrunds sollte er erst in den späten siebziger Jahren wieder öffentlich sprechen. Claude Lanzmann suchte die Bekanntschaft des mittlerweile emeritierten Autors von "Story of a Secret State. My Report to the World" und überredete ihn, sich für "Shoah" interviewen zu lassen. Sein durch diesen Film erneuerter öffentlicher Ruhm trug ihm die Ehrung durch Israel als "Gerechter unter den Völkern" ein, führte ihn auf ausgedehnte Vortragsreisen (auch nach Deutschland, das er jahrzehntelang nicht betreten hatte) und schließlich auch wieder auf erste offizielle Besuche in seiner alten Heimat, wo er nach 1990 zu einem elder statesman des neuen Polen wurde.
In dieser letzten Phase seines Lebens ist Karski - wie andere große Figuren des intellektuellen und politischen Polen - nationales Denkmal und Ketzer zugleich gewesen. Er sah Polen von seiner zweiten, der amerikanischen Heimat aus. Er redete seinen Landsleuten nicht nach dem Mund, und er sagte über die nationalen Mythen, was er aufgrund seiner persönlichen Erfahrung wusste und dachte. Das galt für die Beurteilung des Warschauer Aufstands ebenso wie für die Präsidentschaft Lech Walesas. Die Kandidatur Aleksander Kwasniewskis unterstützte Karski zum Entsetzen vieler seiner Bewunderer, und die Geschichte sollte ihm recht geben, denn es war der Postkommunist Kwasniewski, der Polen erfolgreich und umsichtig in die Nato und in die EU geführt hat.
Als Träger der höchsten polnischen Auszeichnung, des Weißen Adlerordens, machte Karski sich unbeliebt, indem er immer wieder betonte, er persönlich hätte dieselbe Ehre sowohl Lech Walesa als auch General Wojciech Jaruzelski zuerkannt, denn ihnen gemeinsam sei es zu verdanken, dass sich Polen ohne Blutvergießen von einer Diktatur zu einer Demokratie gewandelt habe. "Ich bin schon ein alter Mann", schrieb er an Jaruzelski, "habe 84 Jahre auf dem Buckel. Mein Herz schlägt polnisch, aber meine Weltanschauung verdanke ich meiner zweiten Heimat Amerika, von der ich so viel Freundlichkeit und Anerkennung erfahren habe. Wahrscheinlich deshalb betrachte ich den Lauf der Dinge in Polen anders als viele Patrioten, die dort leben. Ich sehe den Wald, sie - die Bäume."
Historiker, heißt es, seien rückwärtsgewandte Propheten. Aber wer Geschichte betrachtet, macht sich unwillkürlich auch Gedanken über historische Paralleluniversen und mögliche Geschichtsverläufe. Wer auf das Jahrhundert Hitlers und Stalins zurückschaut, dem drängt sich das Gedankenexperiment auf, dass es auch das Jahrhundert Jan Karskis hätte werden können. Marta Kijowskas schöne Biographie des Diplomaten, Untergrundkämpfers, Kuriers, Politikers und Wissenschaftlers ist eine Art Lesebuch über die besseren Möglichkeiten der letzten hundert Jahre.
STEPHAN WACKWITZ
Marta Kijowska: "Kurier der Erinnerung". Das Leben des Jan Karski.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 382 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
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