Am 24. Juli 1915 schickt der Philosoph Ludwig Wittgenstein dem Schriftsteller Ludwig von Ficker eine Buchempfehlung: "Sie leben sozusagen im Dunkel dahin und haben das erlösende Wort nicht gefunden. Und wenn ich, der ich so grundverschieden von Ihnen bin, etwas raten will, so scheint das vielleicht eine Eselei. Ich wage es aber trotzdem. Kennen Sie die 'Kurze Erläuterung des Evangeliums' von Tolstoj? Dieses Buch hat mich seinerzeit geradezu am Leben erhalten. Würden Sie sich dieses Buch kaufen und es lesen? Wenn Sie es nicht kennen, so können Sie sich auch nicht denken, wie es auf den Menschen wirken kann." Bei der "Kurzen Darlegung des Evangeliums", hier neu ediert in der Übersetzung von Paul Lauterbach (1892), handelt es sich um einen Auszug aus dem großen Werk "Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien" (Sojedinjenije i perewod tschetyrjoch Jewangeli, 1879-1881). Jesus erschließt Leo N. Tolstoi zufolge die Einheit der menschlichen Familie und entlarvt die Gottlosigkeit jedes Krieges: "Wenn ihr es nur gut meint zu euren Landsleuten, werden alle es gleichfalls nur gut meinen zu ihren Landsleuten, und dies führt zu Kriegen. Ihr aber werdet zu allen Völkern dieselben sein und werdet Söhne Gottes sein. Alle Menschen sind seine Kinder, folglich sind alle eure Brüder ... Verhaltet euch zu fremden Völkern grade so, wie ich euch sagte ... Für den Vater aller Menschen gibt es keine Verschiedenheit der Völker, noch der Reiche: alle sind sie Brüder, alle Söhne eines Vaters. Unterscheidet nicht zwischen den Menschen nach Volk und Reich." Eingeleitet wird diese Neuedition mit einem Text von Käte Gaede über Tolstois Weg "vom Schriftsteller zum Bibelinterpreten" (1980). Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 4 (Signatur TFb_A004) Bearbeitet von Peter Bürger und Thomas Nauerth
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