»Jede Biografie ist ein Evangelium«
Kurzes Buch über Tobias beschreibt in achtundvierzig Kapiteln das Leben des Schriftstellers, Pfarrers und Televangelisten Tobias Becker. Er wuchs in Niedersachsen auf und lebt in Berlin, spielt gern Tischtennis und will das Gute. Auf einer Reise nach Belgrad verliebt er sich in einen Mann namens Tobias und bekehrt sich zu Gott. Er wird Zeuge, wie Menschen zu Hasen werden, sich Liebe in Hass verwandelt und ein Flugzeug in den Alpen verbrennt. Wie viele Männer wähnt er einen Messias in sich. In Tobias Beckers Welt ist alles unausweichlich miteinander verwoben: Familie, Glauben, Subjekt und Gewalt. Es ist eine Welt voller Alpträume und Wunder.
Jakob Noltes neuer Roman ist eine moderne Heiligenerzählung, ein mystisches Rätsel. Er handelt von der Einsamkeit in der Heimat und der Verlorenheit in den Städten, von Allmacht und großer Unsicherheit, Spiritualität und dem Internet, der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und dem Streben nach Sinn. Er wirft alle Vorstellungen von biografischem oder autofiktionalem Schreiben über den Haufen und lotet auf einzigartige Weise den Reichtum der Literatur aus: Erzählen voller Witz und Wissen, voller Romantik, Traurigkeit und funkelndem Humor.
Kurzes Buch über Tobias beschreibt in achtundvierzig Kapiteln das Leben des Schriftstellers, Pfarrers und Televangelisten Tobias Becker. Er wuchs in Niedersachsen auf und lebt in Berlin, spielt gern Tischtennis und will das Gute. Auf einer Reise nach Belgrad verliebt er sich in einen Mann namens Tobias und bekehrt sich zu Gott. Er wird Zeuge, wie Menschen zu Hasen werden, sich Liebe in Hass verwandelt und ein Flugzeug in den Alpen verbrennt. Wie viele Männer wähnt er einen Messias in sich. In Tobias Beckers Welt ist alles unausweichlich miteinander verwoben: Familie, Glauben, Subjekt und Gewalt. Es ist eine Welt voller Alpträume und Wunder.
Jakob Noltes neuer Roman ist eine moderne Heiligenerzählung, ein mystisches Rätsel. Er handelt von der Einsamkeit in der Heimat und der Verlorenheit in den Städten, von Allmacht und großer Unsicherheit, Spiritualität und dem Internet, der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und dem Streben nach Sinn. Er wirft alle Vorstellungen von biografischem oder autofiktionalem Schreiben über den Haufen und lotet auf einzigartige Weise den Reichtum der Literatur aus: Erzählen voller Witz und Wissen, voller Romantik, Traurigkeit und funkelndem Humor.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Felix Stephan schlüsselt Jakob Noltes als einen "zutiefst eschatologischen" Roman auf. Der vielgelesene und -inszenierte Autor erzählt hier von einem frustrierten Jungschriftsteller, der nach einem gescheiterten Vortrag Priester wird und mit einer heimlich mitgefilmten Hass-Predigt viral geht. Dabei käme wieder Noltes eigenwillige Mischung aus ernsten Themen mit Zoten zum Tragen, die manche Leser an ihre Grenzen bringe, weiß Stephan. Speziell an diesem Roman scheint ihn aber die zirkuläre Form zu faszinieren, die er als anspruchsvolle Umsetzung des tragischen Teufelskreises aus Radikalität, Monetarisierung und Selbstoptimierung liest, in dem sich der Protagonist befinde. Darin sieht der Rezensent letztlich nicht nur eine Gesellschaftskritik, sondern auch einen vorsichtigen "technophilen Futurismus".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2021Wenden der Parabel
Jakob Nolte trickst
Tobias Becker ist ein junger Mann in Berlin, der sich nicht binden will, schnell von sich selbst gelangweilt ist, sich oberflächlich über seine Klamotten identifiziert und andere Menschen nach ihrer Belesenheit beurteilt. Tobias hat seit seiner Pubertät Hautprobleme. Religion sieht er kritisch, das Ritual des Pickelausdrückens aber lässt ihn abergläubisch werden, gelingt es ihm, deutet er es als gutes Omen.
Tobias, der Titelheld in Jakob Noltes neuem Roman "Kurzes Buch über Tobias", war nicht immer ein zwischen Berlin und Hildesheim pendelnder Student mit wechselnden Beziehungen. Er war auch Kind in Barsinghausen, hat einen Vater, eine Mutter, die mal ein Junge war und einen Bruder. Außerdem wird Tobias ein erfolgreicher Autor, wird Prediger, wird Youtube-Guru, wird obdachlos und stirbt. Weil dieses Leben aber nicht chronologisch erzählt wird, springt man zwischen den Lebensstationen scheinbar willkürlich vor und zurück, oft haben die Passagen keinen direkten Zusammenhang, die eigentliche Handlung bleibt einem streckenweise verborgen.
Auch Noltes frühere Bücher haben mit Raum und Zeit, Horror, Milieustudien, mit musikalischer Nostalgie und Mystik experimentiert. Im neuen wird das wie in einer surrealistischen Collage auf die Spitze getrieben. Ein durchschnittlicher Millennial (wie Tobias) dürfte dieses sprunghafte Lesen gewohnt sein: Der öffnet einen Wikipedia-Artikel, stößt auf einen weiterführenden Link, öffnet diesen, um erneut auf einen weiterführenden Link zu stoßen. So sammeln sich geöffnete Fenster mit scheinbar unzusammenhängenden Artikeln. Die Aufmerksamkeit reicht nicht, um einen davon auch zu Ende zu lesen. Auch auf Tobias' Handy sind 48 geöffnete Fenster, die nicht geschlossen werden, weil er "befürchtete, dass das Wissen, das in den offenen Tabs stand, verschwinden würde, wenn er sie schlösse".
Die 48 Kapitel dieses Werks könnten ebenso als geöffnete Tabs verstanden werden, die aber gelesen werden müssen, weil es sich immer noch um ein gebundenes Buch handelt, Anfang und Ende mit Händen zu fassen. Oder man liest es als moderne Heiligengeschichte, welche eher kumulativ interpretationsoffene Antworten in Form von Parabeln liefert. Biblische Parallelen serviert Nolte fast ein bisschen zu offensichtlich: Tobias' beste Freundin Alina verwandelt sich im Berliner Park Hasenheide in einen österlichen Hasen. Tobias' eigene Auferstehung, ebenfalls in der Hasenheide, ist einer der vielen Höhepunkte des Buchs. Außerdem heißt Tobias' On-off-Freund auch Tobias, er lernt ihn auf einem Trip nach Belgrad kennen. Der heilige Tobias ist Schutzpatron der Reisenden und erkennt seinen göttlichen Begleiter erst am Ende seiner Reise.
Man kann das Buch aber auch autobiographisch lesen: Nolte, in Barsinghausen geboren, wird oft mit Thomas Pynchon verglichen. Tobias hasst Pynchon und empfindet den Literaturbetrieb als "Lärmverschmutzung".
Am Ende überkommt einen vor allem das Bedürfnis, das Buch auseinanderzunehmen und die Kapitel neu zu sortieren - in der Reihenfolge, in welcher sich die Handlung abspielt. Das Bedürfnis entsteht, weil man erst am Ende des Buchs überblickt, dass das, was man da gelesen hat, keinen Anfang und kein Ende hat. Und aus Angst, doch etwas verpasst zu haben, beginnt man von vorne, auch weil die Geschichte genau dort beginnt, wo sie endet: mit einem symbolisch aufgeblasenen Helikopterflug.
Analoge Zyklen wie ein Leben von Geburt bis Tod, ob in der Bibel, in einer Autorenbiographie oder einer Geschichte über einen Millennial, gehören in eine Vergangenheit ohne digitale Gleichzeitigkeit. Tobias' Leben vom Praktikum zur Obdachlosigkeit, von der Auferstehung zur Kindheit und umgekehrt oder andersherum verläuft synchron. Immer wieder begegnet Tobias einem älteren, einem jüngeren oder einem weiblichen Ich, das erkennt er aber genauso wenig wie der Leser.
Das Bedürfnis des Neusortierens muss also unterdrückt werden, es gibt keine Ordnung ohne Raum und Zeit, und es kommt der Verdacht auf, dass Nolte technisch so genial ist, dass die Reihenfolge der Kapitel keine Rolle spielt. Man könnte in der Mitte beginnen, sich zum Anfang vorarbeiten, um dann das Ende zu lesen. Verstärkt wird das durch ein ständiges, inhaltlich logisches Abwechseln der Erzählperspektive: Briefwechsel, Aufzählungen, Anekdoten, Dialog, Nolte kann und will sich nicht entscheiden, und ganz offensichtlich muss er das auch nicht.
Man gibt sich geschlagen und akzeptiert, dass der wilde Ritt einerseits sehr anstrengend ist, einen anderseits aber so eng an den Protagonisten bindet, dass man sich nicht darüber wundert, dass nie wirklich aufgelöst wird, ob Tobias über eine sehr lebhafte Phantasie verfügt oder tatsächlich ein Heiliger beziehungsweise Gott selbst ist.
TOBIAS LANGLEY-HUNT
Jakob Nolte, "Kurzes Buch über Tobias". Suhrkamp, 231 Seiten, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jakob Nolte trickst
Tobias Becker ist ein junger Mann in Berlin, der sich nicht binden will, schnell von sich selbst gelangweilt ist, sich oberflächlich über seine Klamotten identifiziert und andere Menschen nach ihrer Belesenheit beurteilt. Tobias hat seit seiner Pubertät Hautprobleme. Religion sieht er kritisch, das Ritual des Pickelausdrückens aber lässt ihn abergläubisch werden, gelingt es ihm, deutet er es als gutes Omen.
Tobias, der Titelheld in Jakob Noltes neuem Roman "Kurzes Buch über Tobias", war nicht immer ein zwischen Berlin und Hildesheim pendelnder Student mit wechselnden Beziehungen. Er war auch Kind in Barsinghausen, hat einen Vater, eine Mutter, die mal ein Junge war und einen Bruder. Außerdem wird Tobias ein erfolgreicher Autor, wird Prediger, wird Youtube-Guru, wird obdachlos und stirbt. Weil dieses Leben aber nicht chronologisch erzählt wird, springt man zwischen den Lebensstationen scheinbar willkürlich vor und zurück, oft haben die Passagen keinen direkten Zusammenhang, die eigentliche Handlung bleibt einem streckenweise verborgen.
Auch Noltes frühere Bücher haben mit Raum und Zeit, Horror, Milieustudien, mit musikalischer Nostalgie und Mystik experimentiert. Im neuen wird das wie in einer surrealistischen Collage auf die Spitze getrieben. Ein durchschnittlicher Millennial (wie Tobias) dürfte dieses sprunghafte Lesen gewohnt sein: Der öffnet einen Wikipedia-Artikel, stößt auf einen weiterführenden Link, öffnet diesen, um erneut auf einen weiterführenden Link zu stoßen. So sammeln sich geöffnete Fenster mit scheinbar unzusammenhängenden Artikeln. Die Aufmerksamkeit reicht nicht, um einen davon auch zu Ende zu lesen. Auch auf Tobias' Handy sind 48 geöffnete Fenster, die nicht geschlossen werden, weil er "befürchtete, dass das Wissen, das in den offenen Tabs stand, verschwinden würde, wenn er sie schlösse".
Die 48 Kapitel dieses Werks könnten ebenso als geöffnete Tabs verstanden werden, die aber gelesen werden müssen, weil es sich immer noch um ein gebundenes Buch handelt, Anfang und Ende mit Händen zu fassen. Oder man liest es als moderne Heiligengeschichte, welche eher kumulativ interpretationsoffene Antworten in Form von Parabeln liefert. Biblische Parallelen serviert Nolte fast ein bisschen zu offensichtlich: Tobias' beste Freundin Alina verwandelt sich im Berliner Park Hasenheide in einen österlichen Hasen. Tobias' eigene Auferstehung, ebenfalls in der Hasenheide, ist einer der vielen Höhepunkte des Buchs. Außerdem heißt Tobias' On-off-Freund auch Tobias, er lernt ihn auf einem Trip nach Belgrad kennen. Der heilige Tobias ist Schutzpatron der Reisenden und erkennt seinen göttlichen Begleiter erst am Ende seiner Reise.
Man kann das Buch aber auch autobiographisch lesen: Nolte, in Barsinghausen geboren, wird oft mit Thomas Pynchon verglichen. Tobias hasst Pynchon und empfindet den Literaturbetrieb als "Lärmverschmutzung".
Am Ende überkommt einen vor allem das Bedürfnis, das Buch auseinanderzunehmen und die Kapitel neu zu sortieren - in der Reihenfolge, in welcher sich die Handlung abspielt. Das Bedürfnis entsteht, weil man erst am Ende des Buchs überblickt, dass das, was man da gelesen hat, keinen Anfang und kein Ende hat. Und aus Angst, doch etwas verpasst zu haben, beginnt man von vorne, auch weil die Geschichte genau dort beginnt, wo sie endet: mit einem symbolisch aufgeblasenen Helikopterflug.
Analoge Zyklen wie ein Leben von Geburt bis Tod, ob in der Bibel, in einer Autorenbiographie oder einer Geschichte über einen Millennial, gehören in eine Vergangenheit ohne digitale Gleichzeitigkeit. Tobias' Leben vom Praktikum zur Obdachlosigkeit, von der Auferstehung zur Kindheit und umgekehrt oder andersherum verläuft synchron. Immer wieder begegnet Tobias einem älteren, einem jüngeren oder einem weiblichen Ich, das erkennt er aber genauso wenig wie der Leser.
Das Bedürfnis des Neusortierens muss also unterdrückt werden, es gibt keine Ordnung ohne Raum und Zeit, und es kommt der Verdacht auf, dass Nolte technisch so genial ist, dass die Reihenfolge der Kapitel keine Rolle spielt. Man könnte in der Mitte beginnen, sich zum Anfang vorarbeiten, um dann das Ende zu lesen. Verstärkt wird das durch ein ständiges, inhaltlich logisches Abwechseln der Erzählperspektive: Briefwechsel, Aufzählungen, Anekdoten, Dialog, Nolte kann und will sich nicht entscheiden, und ganz offensichtlich muss er das auch nicht.
Man gibt sich geschlagen und akzeptiert, dass der wilde Ritt einerseits sehr anstrengend ist, einen anderseits aber so eng an den Protagonisten bindet, dass man sich nicht darüber wundert, dass nie wirklich aufgelöst wird, ob Tobias über eine sehr lebhafte Phantasie verfügt oder tatsächlich ein Heiliger beziehungsweise Gott selbst ist.
TOBIAS LANGLEY-HUNT
Jakob Nolte, "Kurzes Buch über Tobias". Suhrkamp, 231 Seiten, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.04.2021Ewiger
Frieden
Was, wenn der Messias als Schriftsteller in Berlin
lebt? Jakob Noltes „Kurzes Buch über Tobias“
VON FELIX STEPHAN
In Tschechows Stück „Der Kirschgarten“ kommt am Ende noch einmal der greise Diener Firs auf die Bühne. Das Stück ist vorbei, eine Epoche zu Ende, alle anderen haben das Haus der Familie verlassen, um woanders ein neues Leben zu beginnen, die Bühne ist fast dunkel, und dann kommt eben noch einmal der Diener, den eigentlich alle schon vergessen hatten. Bei der Uraufführung des Stücks, so hat es Tschechow vorgesehen, sollte Firs an dieser Stelle in lautes Lachen ausbrechen, und niemand würde wissen, worüber er lachte. Lukas Bärfuss hat dieses Lachen in einem Essay vor Kurzem so gedeutet: Wenn nur noch Firs und das Publikum anwesend seien, könne eigentlich nur das Publikum gemeint sein. „Der Dramatiker lacht über uns, die Zuschauer.“
Dieses Lachen zieht sich auch durch die Stücke und Romane von Jakob Nolte, und das Publikum, das Schmeicheleien gewohnt ist, nimmt ihm das gelegentlich übel. Nolte ist gerade Anfang dreißig, aber es gibt schon heute kaum mehr ein großes deutschsprachiges Theater, das noch nie eines seiner Stücke gespielt hat, teilweise laufen sieben, acht gleichzeitig. Falls einem danach ist, könnte man eine Deutschlandreise machen von einer Nolte-Aufführung zur nächsten. Außerdem schreibt Nolte Romane, neuerdings erscheinen sie bei Suhrkamp. In „Kurzes Buch über Tobias“ geht es um einen deutschen Schriftsteller, der Tobias Becker heißt, im Literaturbetrieb der Gegenwart einen gewissen Rang einnimmt und mitten in einer Sinnkrise steckt. Die Versuchung ist groß, dahinter den Autor selbst zu vermuten, und natürlich kommt diese Selbstverdopplung im Roman auch vor: Tobias entdeckt im Laufe der Geschichte seine Homosexualität, sein neuer Freund, mit dem er auch eine Weile zusammenwohnt, heißt auch Tobias, und wenn sie sich streiten, rufen sie: „Fick dich, Tobias.“ „Verpiss dich, Tobias.“
Das ist es dann, dieses tschechowsche Lachen, das so vielen den letzten Nerv raubt, wenn sie Nolte lesen: Einerseits geht es in diesen Romanen und Stücken so gescheit und virtuos und moralisch zu, wie es in einer Generation wirklich nicht häufig vorkommt, andererseits aber reißen da alle erbarmungslos eine Zote nach der anderen, als wäre an den Themen, von denen in den Büchern die Rede ist, als wäre also an Genoziden, Vereinzelung und Depression irgendetwas lustig. Bei einer Veranstaltung im Literaturhaus Wien soll Tobias einen zehnminütigen Vortrag über Thomas Pynchons Erzählung „Die Versteigerung von No. 49“ halten. Der innere Widerstand ist groß, aber das Honorar okay, und bei Veranstaltungen wie diesen, denkt er sich, hört man meistens freundliche Bemerkungen über seine eigenen Bücher. Außerdem teilt er das Podium mit einer Büchner-Preisträgerin, einem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, einer Autorin mit der Ernst-Jünger-Medaille und der „amtierenden Verteidigerin des Jonke-Artmann-Gürtels“, also sagt er zu.
Bei der Vorbereitung stellt er dann fest, dass er die Erzählung mit jeder Faser seines Körpers hasst, und als er bei der Veranstaltung einen Text liest, in dem er diese Abscheu öffentlich macht, wendet sich der ganze Raum gegen ihn. An Thomas Pynchons sei nichts auszusetzen, heißt es, wahrscheinliche liege das Problem bei ihm, in seiner Verkrampftheit und einer verdrängten Depression. Unter Buhrufen kriecht er auf allen vieren aus dem Saal.
Diese Szene, die eigentlich den Ausgangspunkt bildet für alles Kommende, findet sich in der Mitte des Buches, denn: Die Zeit verläuft hier nicht linear. Alles ist gleichzeitig schon passiert und passiert erst noch. Die Struktur des Bildungsromans löst sich auf, als wäre eine chinesische Porzellanvase vom Sockel gefallen, der Text folgt einer scheinbar zufälligen Ordnung, der Anfang und das Ende sind dieselbe Szene.
Auch deshalb merkt man erst spät, dass man hier einen zutiefst eschatologischen Roman vor sich hat, die Bildungsgeschichte des Messias, wenn er im Jahr 2021 um die dreißig und ein deutscher Schriftsteller wäre. Vom Bildungsroman unterscheidet er sich insofern, als Tobias Becker keinerlei persönliche Entwicklung durchmacht, er findet nicht zur Erkenntnis oder so etwas, wir sind hier nicht bei Siddharta. Aber er vollbringt ein Wunder, er stirbt und ersteht wieder auf, er redet in Zungen.
An einer Stelle überlebt Tobias einen Flugzeugabsturz, aber anders als etwa bei dem Flugzeugabsturz von Max Frischs Ingenieur Walter Faber ergibt sich daraus keine Wiederverzauberung der Welt, sondern genau nichts, beziehungsweise schlimmer noch, weniger als nichts: ein Buchvertrag. Der Verlag würde ihm „einfach einen Vertrag mit einer Summe schicken“, wenn er sich bereit erkläre, über den Absturz zu schreiben, „den er am eigenen Leib erlebt“ habe, schreibt ihm seine Agentin, das Einstiegsangebot liege bei 60 000 Euro. Tobias jedoch „büffelte gerade für die Einführung in die wissenschaftliche Exegese biblischer Texte und antwortete seiner Agentin innerhalb einer halben Stunde, dass er an der Lärmverschmutzung, die der Literaturbetrieb war, nicht weiter teilhaben wollte“.
Tobias Becker wird also Priester, scheitert aber auch dort, weil seine Blaise-Pascal’sche Wahrheitsraserei mit den Konventionen kollidiert und er dem Publikum nicht erzählt, was es hören mag. Als er in einer Predigt auf den Amoklauf von Christchurch zu sprechen kommt und auf den Hass, der ihm vorkomme „wie ein Dämon, eine gigantische Bestie im Schatten der Mittelschicht“, geht er in die Knie, verliert sich in seiner Verzweiflung und spürt plötzlich „ein Geheimnis in sich, als spräche nicht er, sondern ein Engel durch ihn, ein Geheimnis, das auf einer fremden Zunge lag, aber durch ihn wirkte, und da wusste er, dass er, würde er nur weiterreden, irgendwann in der Lage wäre, es zu Wort werden zu lassen“. Seiner Gemeinde erzählt er, dass ihnen und der gesamten Christenwelt, „wenn sie ehrlich wären vor Gott“, der Täter näherstehe als die Opfer, dass sie „wüssten, wie es in den Köpfen der Teufel aussah, aber noch nie eine Moschee oder eine Synagoge von innen gesehen hätten“. Nach dieser Predigt betritt Tobias, der Häretiker, zwar nie wieder eine Kirche. Aber weil ein Junge die Predigt, die eigentlich eher ein Anfall war, gefilmt und hochgeladen hat, wird er zum weltweiten Viralhit, mit einer treu ergebenen, kirchenkritischen Online-Gemeinde.
Und das ist die eigentliche Tragödie des Tobias Becker: Immer wenn er tatsächlich etwas zu sagen hat, das ihm ernst ist, entsteht daraus nichts weiter als ein solides Monetarisierungsmodell. Als geschichtliches Subjekt aber existiert er nicht, die Gesellschaft möchte von seinem moralischen Empfinden nichts wissen. Die Medialisierung macht jede Radikalität unmöglich, Tobias ist gefangen in der Hölle der Selbstoptimierung: Je erfolgreicher er wird, je größer die Vorschüsse und Klickzahlen werden, desto größer ist auch seine Passivität.
Von diesem Dilemma könnte ein konventionell aufgebauter Roman nur berichten, die zirkuläre Struktur dieses Romans aber ist die formale Konsequenz: Der Text wird zum Datenträger, auf dem die spirituelle Reise bis in alle Ewigkeit abgespielt wird, zum infinite loop. Und eigentlich gibt es keinen Anlass, das ausschließlich als Gesellschaftskritik zu lesen und nicht vielmehr als technophilen Futurismus, der in diesem konsequenzlosen Affektmanagement auch milde eine Art Idealzustand sieht.
Eine persönliche Entwicklung,
eine Erkenntnis gibt es nicht,
wir sind hier nicht bei Siddharta
Jakob Nolte: Kurzes
Buch über Tobias.
Roman. Suhrkamp,
Berlin 2021.
231 Seiten, 22 Euro.
Die Medialisierung schluckt jede Radikalität: Der Schriftsteller und Dramatiker Jakob Nolte, hier im Berliner Kino Zoo Palast zu sehen.
Foto: Friedrich Bungert
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frieden
Was, wenn der Messias als Schriftsteller in Berlin
lebt? Jakob Noltes „Kurzes Buch über Tobias“
VON FELIX STEPHAN
In Tschechows Stück „Der Kirschgarten“ kommt am Ende noch einmal der greise Diener Firs auf die Bühne. Das Stück ist vorbei, eine Epoche zu Ende, alle anderen haben das Haus der Familie verlassen, um woanders ein neues Leben zu beginnen, die Bühne ist fast dunkel, und dann kommt eben noch einmal der Diener, den eigentlich alle schon vergessen hatten. Bei der Uraufführung des Stücks, so hat es Tschechow vorgesehen, sollte Firs an dieser Stelle in lautes Lachen ausbrechen, und niemand würde wissen, worüber er lachte. Lukas Bärfuss hat dieses Lachen in einem Essay vor Kurzem so gedeutet: Wenn nur noch Firs und das Publikum anwesend seien, könne eigentlich nur das Publikum gemeint sein. „Der Dramatiker lacht über uns, die Zuschauer.“
Dieses Lachen zieht sich auch durch die Stücke und Romane von Jakob Nolte, und das Publikum, das Schmeicheleien gewohnt ist, nimmt ihm das gelegentlich übel. Nolte ist gerade Anfang dreißig, aber es gibt schon heute kaum mehr ein großes deutschsprachiges Theater, das noch nie eines seiner Stücke gespielt hat, teilweise laufen sieben, acht gleichzeitig. Falls einem danach ist, könnte man eine Deutschlandreise machen von einer Nolte-Aufführung zur nächsten. Außerdem schreibt Nolte Romane, neuerdings erscheinen sie bei Suhrkamp. In „Kurzes Buch über Tobias“ geht es um einen deutschen Schriftsteller, der Tobias Becker heißt, im Literaturbetrieb der Gegenwart einen gewissen Rang einnimmt und mitten in einer Sinnkrise steckt. Die Versuchung ist groß, dahinter den Autor selbst zu vermuten, und natürlich kommt diese Selbstverdopplung im Roman auch vor: Tobias entdeckt im Laufe der Geschichte seine Homosexualität, sein neuer Freund, mit dem er auch eine Weile zusammenwohnt, heißt auch Tobias, und wenn sie sich streiten, rufen sie: „Fick dich, Tobias.“ „Verpiss dich, Tobias.“
Das ist es dann, dieses tschechowsche Lachen, das so vielen den letzten Nerv raubt, wenn sie Nolte lesen: Einerseits geht es in diesen Romanen und Stücken so gescheit und virtuos und moralisch zu, wie es in einer Generation wirklich nicht häufig vorkommt, andererseits aber reißen da alle erbarmungslos eine Zote nach der anderen, als wäre an den Themen, von denen in den Büchern die Rede ist, als wäre also an Genoziden, Vereinzelung und Depression irgendetwas lustig. Bei einer Veranstaltung im Literaturhaus Wien soll Tobias einen zehnminütigen Vortrag über Thomas Pynchons Erzählung „Die Versteigerung von No. 49“ halten. Der innere Widerstand ist groß, aber das Honorar okay, und bei Veranstaltungen wie diesen, denkt er sich, hört man meistens freundliche Bemerkungen über seine eigenen Bücher. Außerdem teilt er das Podium mit einer Büchner-Preisträgerin, einem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, einer Autorin mit der Ernst-Jünger-Medaille und der „amtierenden Verteidigerin des Jonke-Artmann-Gürtels“, also sagt er zu.
Bei der Vorbereitung stellt er dann fest, dass er die Erzählung mit jeder Faser seines Körpers hasst, und als er bei der Veranstaltung einen Text liest, in dem er diese Abscheu öffentlich macht, wendet sich der ganze Raum gegen ihn. An Thomas Pynchons sei nichts auszusetzen, heißt es, wahrscheinliche liege das Problem bei ihm, in seiner Verkrampftheit und einer verdrängten Depression. Unter Buhrufen kriecht er auf allen vieren aus dem Saal.
Diese Szene, die eigentlich den Ausgangspunkt bildet für alles Kommende, findet sich in der Mitte des Buches, denn: Die Zeit verläuft hier nicht linear. Alles ist gleichzeitig schon passiert und passiert erst noch. Die Struktur des Bildungsromans löst sich auf, als wäre eine chinesische Porzellanvase vom Sockel gefallen, der Text folgt einer scheinbar zufälligen Ordnung, der Anfang und das Ende sind dieselbe Szene.
Auch deshalb merkt man erst spät, dass man hier einen zutiefst eschatologischen Roman vor sich hat, die Bildungsgeschichte des Messias, wenn er im Jahr 2021 um die dreißig und ein deutscher Schriftsteller wäre. Vom Bildungsroman unterscheidet er sich insofern, als Tobias Becker keinerlei persönliche Entwicklung durchmacht, er findet nicht zur Erkenntnis oder so etwas, wir sind hier nicht bei Siddharta. Aber er vollbringt ein Wunder, er stirbt und ersteht wieder auf, er redet in Zungen.
An einer Stelle überlebt Tobias einen Flugzeugabsturz, aber anders als etwa bei dem Flugzeugabsturz von Max Frischs Ingenieur Walter Faber ergibt sich daraus keine Wiederverzauberung der Welt, sondern genau nichts, beziehungsweise schlimmer noch, weniger als nichts: ein Buchvertrag. Der Verlag würde ihm „einfach einen Vertrag mit einer Summe schicken“, wenn er sich bereit erkläre, über den Absturz zu schreiben, „den er am eigenen Leib erlebt“ habe, schreibt ihm seine Agentin, das Einstiegsangebot liege bei 60 000 Euro. Tobias jedoch „büffelte gerade für die Einführung in die wissenschaftliche Exegese biblischer Texte und antwortete seiner Agentin innerhalb einer halben Stunde, dass er an der Lärmverschmutzung, die der Literaturbetrieb war, nicht weiter teilhaben wollte“.
Tobias Becker wird also Priester, scheitert aber auch dort, weil seine Blaise-Pascal’sche Wahrheitsraserei mit den Konventionen kollidiert und er dem Publikum nicht erzählt, was es hören mag. Als er in einer Predigt auf den Amoklauf von Christchurch zu sprechen kommt und auf den Hass, der ihm vorkomme „wie ein Dämon, eine gigantische Bestie im Schatten der Mittelschicht“, geht er in die Knie, verliert sich in seiner Verzweiflung und spürt plötzlich „ein Geheimnis in sich, als spräche nicht er, sondern ein Engel durch ihn, ein Geheimnis, das auf einer fremden Zunge lag, aber durch ihn wirkte, und da wusste er, dass er, würde er nur weiterreden, irgendwann in der Lage wäre, es zu Wort werden zu lassen“. Seiner Gemeinde erzählt er, dass ihnen und der gesamten Christenwelt, „wenn sie ehrlich wären vor Gott“, der Täter näherstehe als die Opfer, dass sie „wüssten, wie es in den Köpfen der Teufel aussah, aber noch nie eine Moschee oder eine Synagoge von innen gesehen hätten“. Nach dieser Predigt betritt Tobias, der Häretiker, zwar nie wieder eine Kirche. Aber weil ein Junge die Predigt, die eigentlich eher ein Anfall war, gefilmt und hochgeladen hat, wird er zum weltweiten Viralhit, mit einer treu ergebenen, kirchenkritischen Online-Gemeinde.
Und das ist die eigentliche Tragödie des Tobias Becker: Immer wenn er tatsächlich etwas zu sagen hat, das ihm ernst ist, entsteht daraus nichts weiter als ein solides Monetarisierungsmodell. Als geschichtliches Subjekt aber existiert er nicht, die Gesellschaft möchte von seinem moralischen Empfinden nichts wissen. Die Medialisierung macht jede Radikalität unmöglich, Tobias ist gefangen in der Hölle der Selbstoptimierung: Je erfolgreicher er wird, je größer die Vorschüsse und Klickzahlen werden, desto größer ist auch seine Passivität.
Von diesem Dilemma könnte ein konventionell aufgebauter Roman nur berichten, die zirkuläre Struktur dieses Romans aber ist die formale Konsequenz: Der Text wird zum Datenträger, auf dem die spirituelle Reise bis in alle Ewigkeit abgespielt wird, zum infinite loop. Und eigentlich gibt es keinen Anlass, das ausschließlich als Gesellschaftskritik zu lesen und nicht vielmehr als technophilen Futurismus, der in diesem konsequenzlosen Affektmanagement auch milde eine Art Idealzustand sieht.
Eine persönliche Entwicklung,
eine Erkenntnis gibt es nicht,
wir sind hier nicht bei Siddharta
Jakob Nolte: Kurzes
Buch über Tobias.
Roman. Suhrkamp,
Berlin 2021.
231 Seiten, 22 Euro.
Die Medialisierung schluckt jede Radikalität: Der Schriftsteller und Dramatiker Jakob Nolte, hier im Berliner Kino Zoo Palast zu sehen.
Foto: Friedrich Bungert
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»Sprunghaft, absurd und sehr lustig.« Julia Hubernagel taz am wochenende 20211212