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Macht und Missbrauch im alten Venedig: Lea Singers neuer Roman "La Fenice"
Mit dem Kahn kommt sie nach Venedig zurück, die sechzehnjährige Angela, genannt Zaffetta. Am Karfreitag 1531. Von der Laguneninsel Chioggia. Bloß eine Nacht ist sie weg gewesen, und schon steht's an jeder Wand: "Die Zaffetta trieb es mit allen." Nur gut, dass im Italienischen "der Vogel Phönix bekanntlich weiblich" ist. Angela schert sich zwar nicht um das österliche Zeichen, sie liebäugelt auch keinesfalls mit einer "Laufbahn als Märtyrerin", aber: "Ohne Kreuzigung keine Auferstehung und keine Himmelfahrt." Sieben Jahre später soll sie ihre Geschichte erzählen, mit triumphierender Stimme.
Ihre Lebensziele hat sich die Ich-Erzählerin früh gesteckt: finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, sich nicht vorm eigenen Spiegelbild zu schämen und zu erblonden. Nebenbei soll auch die Lebensfreude nicht zu kurz kommen. Ihre Eltern sind indes nicht reich, ihr Vater, der einzige unbestechliche Beamte weit und breit, stolpert über ebendiese Redlichkeit und wird hernach zu Spitzeldiensten verdonnert, muss sich als zaffo durchschlagen. Das trägt Angela ihren Spitznamen ein und zeigt ihr einmal mehr: Ehrlich währt am kürzesten. Was also tun? Ihre Eltern haben immerhin für Hausunterricht gesorgt. Als sie ihrer Mutter allerdings berichtet, dass der Geistliche sie befummelt, kriegt sie zwar nicht zu hören, ihr Rock sei zu kurz oder ihre Witzzeichnung zu respektlos, aber doch, ihr Blick sei zu frech, womit also sie die Schuld für den Übergriff treffe. Diese Einstellung der Mutter erstaunt sie nicht, denn "das musste sie tun, um den Mann Gottes zu entlasten. Sonst wäre ihr mit Weihen und Wundern vollgerammeltes Glaubensgebäude in sich zusammengebrochen und hätte das mühsam erbetete und erkniete Seelenheil unter sich begraben." Damit steht Angelas Entschluss fest: Sie wird Kurtisane, eine andere Arbeitsmöglichkeit gibt es nicht.
Diese Entscheidung war nicht ganz alternativlos. Zuvor hatte Angela die Zweifelssäerin Cassandra Fedele kennengelernt, eine hochgebildete Frau, die sie anhält, den eigenen Kopf zu gebrauchen. Später läuft ihr dann Pietro Aretino über den Weg, der bereits mit derb-obszönen Sonetten hervorgetreten ist und sich als Venedigs erfolgreichster Netzwerker etabliert hat. Mit einem Blick erkennt er das Potential, das in Angela steckt. Die Elite braucht Kurtisanen. Die reichen Venezianer investieren zwar Unsummen in den Erwerb einer Ehefrau, damit alle Welt sieht, dass sie ihr "Geld in Schönheit umsetzen konnten", doch das "Heimtückische an dieser Anschaffung war, dass sie nicht vor Diebstahl sicher war". Deshalb wurde sie, also die Frau, weggesperrt und hatte nur bei Festlichkeiten Ausgang. Etwaige Galane brauchten daher Beschäftigung und Ablenkung. Wer eine Kurtisane vermitteln konnte, durfte die Nase noch ein wenig höher tragen.
Eines Abends schickt Angela einen Freier weg, Lorenzo Venier, aus altem Adelsgeschlecht. Das soll Folgen haben: Venier organisiert ihre Vergewaltigung in Chioggia. Einunddreißig Männer fallen über sie her, er selbst hält das Geschehen in einer Spottschrift fest, die Angela als dreckige Hure zeichnet, die sich einen Verstoß gegen die natürliche, sprich patriarchale Ordnung hat zuschulden kommen lassen. Dafür habe sie ihre verdiente Strafe erhalten. Obendrein sorgt er für Graffiti in Venedig: Das Opfer ist beim Namen genannt, der Ankläger bleibt anonym, wirkungsvoller geht es kaum. Schon Fedele wusste, "dass Lügen und Gerüchte nicht totzukriegen sind".
Doch Angela will sich nicht unterkriegen lassen. Sie will sich nicht einmal vorschreiben lassen, was sie empfinden soll. "Es gibt Leute, die wollen einem Opfer einreden, dass es keine Lebensfreude mehr haben dürfe." Dank Aretino gelingt ihr über deutsche Freier der Wiedereinstieg ins Hurengeschäft, obendrein legt sie ebenfalls mit seiner Hilfe eine atemraubende Karriere als Modell Tizians hin. "Ich musste das Bild korrigieren, das Venier von mir in Umlauf gebracht hatte", denkt sie sich - und wird als "Venus von Urbino" unsterblich. Sieben Jahre später hat sie einen Sohn und einen Salon, wo einmal im Monat disputiert wird. Darum auch ihre Geschichte. Sie "ist ein Gesprächsangebot".
Lea Singer hat in ihrem neuen Roman einen überzeugenden Ton für diese Angela gefunden, der die Mischung aus Abgebrühtheit und Naivität der jungen Frau hervorragend einfängt. Die Vergewaltigung stellt Singer klugerweise sparsam dar, wodurch sie die Brutalität umso besser vermittelt. Nach dieser Untat büßt der Ton seine nassforsche Komponente leicht ein, bleibt aber kraftvoll.
Das Verbrechen ist mittlerweile historisch verbürgt. Singer nutzt es, um von allgemeiner Frauenunterdrückung und dem individuellen Umgang damit zu erzählen. Ihrer Angela legt sie bei aller Modernität und Kritik keine feministischen Parolen in den Mund, sondern schildert, wie Frauen trotz unterschiedlicher Standpunkte solidarisch miteinander umgehen. Weniger politisch ausgedrückt: Wie sie sich helfen und lieben. Fedele unterstützt Angela, obwohl sie Aretino und seine Machenschaften nicht leiden kann. Angela würde ihrer Mutter zuliebe sogar beten, obwohl sie von Kirche nichts hält.
Singer hat gut recherchiert, deutet den historischen Hintergrund jedoch nur zart an. Entstehender Protestantismus und beginnender Untergang Venedigs, Korruption und Denunziation, Kinderehen und Schwulendiskriminierung, die gönnerhafte Einstellung von Männern, die "das Mittelalter zur Welt der Finsternis erklärten" und ihren hellen Geist beweisen, indem sie gelegentlich eine Frau als denkendes Geschöpf akzeptieren, desgleichen das Kokettieren mit dem Volk, dem man gern aufs Maul schaue, und, und, und. Man muss ja nicht die Gegenwart beschreiben, um von ihr zu erzählen. Auf diese Weise entsteht ein Text voller Kraft, Lakonie und Humor, der klar davor gefeit ist, mit einer Programmschrift verwechselt zu werden.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Lea Singer: "La Fenice". Roman.
Kampa Verlag, Zürich 2020. 304 S., geb., 23,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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