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Farbloses Lokalkolorit signalisiert eine Störung im Betriebsablauf der Erinnerungskultur: Jochen Schimmangs Köln-Roman.
Von Patrick Bahners
Man kennt das. Wer mit dem Zug nach Köln kommt, muss darauf gefasst sein, dass er vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof noch einmal außerplanmäßig zum Halten kommt. Es kommt einem fast planmäßig vor. Und wenn es nicht bei der Einfahrt von Westen geschieht, über dem Rhein, sondern bei der Einfahrt von Norden, mag es sein, dass man in die Wohnungen der Leute hineinsehen kann, die so nah am Bahnhof leben. Einer von ihnen ist der Icherzähler des Romans "Laborschläfer" von Jochen Schimmang,. Dieser Rainer Roloff hat ein Soziologiestudium abgeschlossen und gibt als Beruf Privatgelehrter an. Er teilt mit dem Autor das Geburtsjahr 1948 und ist in Köln geboren und aufgewachsen, wo Schimmang lange gelebt hat.
Roloffs Beschreibung seiner Wohnung ist eine soziologische Selbstauskunft: Der nur sporadisch und prekär Beschäftigte zahlt Miete für "ein Zweizimmerloch mit Kochnische und Nasszelle in der Nähe des Hansarings". Für Durchfahrer kann man hinzusetzen: Das ist direkt beim Saturn-Hochhaus. Der Roman erwähnt das kommerzielle Gegenstück zum Dom nicht, von dem er auch nichts Gutes zu sagen hat ("hässlich genug", blieb im Krieg nur stehen, damit die alliierten Flieger den Weg fanden). Er lässt den Straßennamen für sich sprechen, setzt ihn in dem Sinne als bekannt voraus, dass man entlang der Kölner Ringstraßen keine Sehenswürdigkeiten erwartet. Die Topographie des Romans ist exakt auch ohne die Details aus Postkartenpanoramen; aus allen Formen und Surrogaten der Nostalgie macht er sich nichts. So entsteht das paradoxe Phänomen eines farblosen Lokalkolorits.
Roloff erwähnt gleich bei der anfänglichen Offenlegung seiner Verhältnisse, dass ihm die Züge die Nachtruhe rauben und manchmal auf der Höhe seiner Fenster stehen bleiben. Später malt er diese Situation in der Manier von Edward Hopper aus. Er ist gerade von einem Ausflug in die Niederlande zurückgekommen, macht aber nicht den Eindruck eines Heimkehrers. "Zu Hause stehe ich lange am Küchenfenster und beobachte einen Zug, der auf seine Einfahrt in den Hauptbahnhof wartet. Ein ICE kann es nicht sein, denn mühelos kann ich durch die Fensterscheiben die Schemen der Reisenden erkennen, kleine, aber nicht winzige Figuren, wie bei einer Modelleisenbahn." Man möchte hier vielleicht bemerken, dass der Soziologe das Klassifizieren studiert hat. Aber die Zugtypen könnte jedermann unterscheiden. "Bei den Regionalzügen, in denen sich die Fenster noch öffnen lassen, kann man die einzelnen Personen, die auf die Weiterfahrt warten, noch deutlicher erkennen."
Schimmangs Erzähler ist Proustianer, las die "Recherche" schon in der Pubertät. Man kann an die Laterna magica des Kindes Marcel denken, wenn das Stehenbleiben des Zuges bewirkt, dass die Schemen hinter den Scheiben sich in Bewegung setzen. "Manche stehen auf und schauen direkt aus dem Fenster und in mein Küchenfenster." Es fehlt dem stummen Lichtspiel im Heimkino nur jeder legendäre Schimmer, als hätten die Flieger in Köln auch die Erinnerung an allen Goldgrund ausradiert. "Einige Male habe ich bei solchen Gelegenheiten gewinkt, und zweimal hat das Gegenüber zurückgewinkt: im Juni vor zwei Jahren ein Mann, ein paar Wochen später eine Frau." Roloff führt Buch, ein inneres Tagebuch. Der gesamte Roman hat Tagebuchform.
Die Szene am Küchenfenster markiert einen Aufbruch. Das ist ihr nicht abzulesen. Aber Roloff ist kurz davor, eine neue, ruhiger gelegene Wohnung in Augenschein und Besitz zu nehmen, die ihm seine als Ärztin arrivierte Schwester vermittelt hat. "White Cube ist das Erste, was ich denke, als wir das Apartment betreten." Und das Erste, was wir denken, ist: Du fändest Ruhe auch dort nicht, "an der Spichernstraße, gegenüber dem Stadtgarten und nicht weit von der Venloer". Schöner zu wohnen im Museumsambiente ist eine Illusion; jeden von uns müsste es überfordern, sein Leben zu kuratieren.
Allgemein gilt für die Welt dieses Romans: Ortswechsel machen die Lage nicht besser. Es wird viel gereist, Roloff nimmt durchaus häufig selbst den Zug. So begibt er sich an den Bodensee, um an eine jahrzehntealte Kneipenfreundschaft anzuknüpfen. Aber er macht nach einer Übernachtung kehrt, ohne dass die Luftveränderung die Wiederentdeckerfreude stimuliert hätte. Die Devise, die solche Ernüchterung klassisch fixiert und damit ein für allemal vorweggenommen hat, wird im Roman zitiert, Gottfried Benns rhetorische Frage nach Zürich. Vom akademischen Habitus ist dem gescheiterten Soziologen eine Routine des Belegens geblieben, die auch das Nächstliegende nicht ausspart. Inhaltlich wie formal strebt der Roman nach Rätsellosigkeit. Man kann ihn geradezu der Trivialliteratur zuschlagen, insofern er die Anmutung des Erlesenen und Gewählten vermeidet; das ist Schimmangs Version von Prousts Poetik der unwillkürlichen Erinnerung.
Methodisch hervorkitzeln möchte die Erinnerungen das Projekt, das dem Roman den Titel gibt. Roloff verdient seine Miete als Proband eines Schlaflabors in Düsseldorf und wird dort im Pensionsalter sogar zum wissenschaftlichen Mitarbeiter befördert, obwohl sich das Unternehmen, aus den Erinnerungsfetzen von Aufwachenden das von Gelehrten wie Jan und Aleida Assmann postulierte kollektive Gedächtnis zusammenzusetzen, als sinnlos darstellt. Auch diese Sinnlosigkeit wird uns keineswegs als Lösung eines Rätsels präsentiert; sie liegt von Beginn an zutage. Auch die Reise ans Ende der Nacht führt nicht in eine andere Welt. Auch inwendig gibt es keine tiefere Stadt.
Der Direktor des Labors schreibt mit Füller in eine grüne Kladde. Roloff spekuliert, dass daraus ein Roman entstehe. Als er das Manuskript schließlich lesen kann, sind es Tagebuchaufzeichnungen, wie er selbst sie fabriziert, ein Nicht-Roman im Roman. Eine Notiz des Direktors hat die Modelleisenbahn seiner Kindheit zum Gegenstand. "Wie leicht ich wechseln konnte zwischen dem Blickwinkel der Zugreisenden und dem der Leute, die in den Häusern wohnten." Das ist das Programm für einen Roman - den Jochen Schimmang nicht geschrieben hat.
Roloff reiht Anekdoten und Aphorismen einer Lebenszeit aneinander, die mit der Geschichte der Bundesrepublik zusammenfällt. Je nach Alter wird der Leser viel bis sehr viel wiedererkennen, und gleichzeitig wird er davon abgehalten, mit ihm tauschen zu wollen: Der Erzähler bleibt so etwas wie ein Kneipenbekannter.
Was soll das Ganze? Vielleicht kommt man der literarischen Absicht des Romans mit einem Vergleich auf die Spur. Wie W. G. Sebald betreibt Schimmang unverhohlene autobiographische Camouflage, collagiert Lesefrüchte vor dem täuschend weißen Hintergrund des Wiederaufbaus eines völlig zerstörten Landes. Aber wo Sebalds Erzähler-Autor als Kollektivsubjekt auftritt, da ist Schimmang diese Identitätsfiktion suspekt, die Einheit von Ich und Wir, auch schon die Einheit des Wir und sogar die Einheit des Ich.
In Roloffs Jahren am Hansaring winkte das Gegenüber zweimal zurück. Wäre es nur einmal passiert, hätten wir eine Urszene romantischer Wunscherfüllung vor uns. So hat Schimmang eine gesellschaftliche Konstellation entworfen. Man schlägt das Buch auf, und ein Mann in einem Rahmen wird sichtbar. Kein Spiegelbild. Das Buch bleibt zurück, die Reise geht weiter, und fast ist man traurig.
Jochen Schimmang: "Laborschläfer". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2022. 328 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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