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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ulrich Ladurner hat ein Buch über Lampedusa geschrieben, eine Insel zwischen Afrika und Italien, die mehr bietet als traurige Nachrichten über Flüchtlinge
Ein Buch über Lampedusa, über einen winzigen Felsen im Mittelmeer. Ein Ort, der mittlerweile traurige Berühmtheit erlangt hat. Unzählige Male hat man von der Insel gelesen oder gehört und die immer wieder gleichen Bilder gesehen: dichtgedrängte Flüchtlinge, die von winzigen Booten an Land gebracht werden. Ab und zu kommt ein Einheimischer ins Bild, der die Gastfreundschaft der Inselbewohner bekräftigt, gleichzeitig aber wütend über die italienische Regierung und die Europäische Gemeinschaft herzieht, von denen sich die Lampedusaner im Stich gelassen fühlen. Damit ist, meint man, über Lampedusa alles gesagt.
Ulrich Ladurner versucht uns eines Besseren zu belehren. Bei seinem ersten Besuch auf der Insel im Jahr 1992 habe er nicht ahnen können, dass Lampedusa im Laufe der Jahre zu einem Symbol werden würde. Journalisten, die für wenige Stunden oder Tage mit der kleinen Propellermaschine nach Lampedusa fliegen, haben neben der Berichterstattung über dramatische Ereignisse meist keine Zeit (und oft auch keine Lust), den Spuren von Lampedusas Historie zu folgen. Die Höhlen der Insel zum Beispiel, denen der Autor ein Kapitel widmet, sind auf den ersten Blick unbedeutend, zum Verständnis der historischen, geographischen und religiösen Lage taugen sie dem Autor aber gut als Vorwand für einen Theatercoup im Wortsinn: Shakespeares 1611 uraufgeführtes Stück "Der Sturm" könnte auf Lampedusa spielen. König Alonso von Neapel erleidet Schiffbruch auf seiner Rückreise von Tunis, Shakespeare lässt ihn auf einem verlassenen Eiland stranden; Lampedusa wäre das nächstliegende.
Für die Selbstversorgung ist die Insel ungeeignet und für den Gütertransport von Sizilien aus elend weit entfernt. Das ist wohl ein Grund, warum ihre Besiedlung erst vor kaum mehr als hundertfünfzig Jahren und unter größten Schwierigkeiten erfolgte. Hinzu kommt, dass diese Siedler dann Raubbau betrieben. Lampedusa war einst eine dichtbewaldete Insel mit Wild und Vögeln. Doch ihr wertvoller Baumbestand wurde in kurzer Zeit restlos zu Holzkohle verarbeitet. Wind und Regen spülten den Humus ins Meer, seither ist die Insel kahl.
Was aber an ihrer geostrategischen Bedeutung nichts änderte. Ausführlich erzählt Ladurner, wie Lampedusa bereits dem expandierenden Russischen Reich unter Peter dem Großen ein wichtiger Stützpunkt im Mittelmeer zu sein schien. Ladurners Lampedusa-Kompendium ist reich an Zitaten, von Fernand Braudel über Miguel de Cervantes bis hin zu Pier Paolo Pasolini. Zitate, die vom Schicksal der Seefahrer in allen Jahrhunderten künden und Fluchten schildern.
Hart ins Gericht geht der Autor mit dem europäischen Gezänk über Flüchtlingszahlen, das bei jeder neuen Welle von Anlandungen und Schiffstragödien ausbricht. Aber Ladurners Anklage ist nur ein Teilaspekt. Ihn fasziniert die überraschend facettenreichen Inselgeschichte, in der Lampedusa sogar zum Königreich wird. Am 12. Juni 1943 musste der britische Bomberpilot Syd Cohen auf Lampedusa notlanden, weil ihm das Benzin ausgegangen war. Die italienischen Soldaten nahmen den Kriegsgegner aber nicht fest, sondern ergaben sich dem völlig überraschten Piloten bedingungslos. Ein halbes Jahr später hatte im jüdischen Volkstheater in London das Theaterstück "Der König von Lampedusa" Premiere. Eine bissige Satire in jiddischer Sprache, die aus dem von einem britischen Bomberpiloten jüdischer Abstammung befreiten Lampedusa das gelobte Land machte.
Ladurners Quellenforschung ergibt ein schillerndes Bild von einem kargen Felsen, der zu ausufernden Phantasien reizte, ja sogar zur imaginären Heimstatt von Königen und Ort utopischer Reiche wurde. Sein Buch ist ein Inselführer nicht nur zu dem wenigen, was die Insel heute an Geschichtsresten zu bieten hat, sondern auch ein Eintauchen in das Meer von Phantasien, auf dem Lampedusa durch die Jahrhunderte trieb. Ladurner erzählt viel über Lampedusa, aber längst nicht alles. Es gäbe noch andere Geschichten.
Zum Beispiel von den Lampedusanern, die vor nicht allzu langer Zeit massenhaft nach Afrika auswanderten, um genau das zu tun, was heute junge Tunesier versuchen, die über Lampedusa nach Europa kommen: sich eine Existenz aufzubauen. Oder von Lampedusa als jenem Ort, an dem die Menschen mehr als sonst irgendwo in Europa an die Zukunft glauben, wenn sie denn lebend an Land gelangen.
KARL HOFFMANN
Ulrich Ladurner: "Lampedusa". Große Geschichte einer kleinen Insel.
Residenz Verlag, St. Pölten 2014. 144 S., geb., 19,90 [Euro].
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