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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
und Vision
„Lange Fluchten“: Daniela Danz
erzählt eine alte Legende neu
Daniela Danz‘ neuer Roman „Lange Fluchten“ beginnt mit einer Aufzählung ganz greifbarer, benennbarer Dinge: Geweihe, eine Jacke am Fleischerhaken, ein paar wenige Bücher, ein klebriger Tisch, auf dem ein Gurkenglas voller Kippen und Asche steht. „In einem Sessel daneben sitzt er.“ Es ist wie eine Inventur, und die stumm dahockende Hauptfigur reiht sich seltsam unauffällig ein in dieses staubige Stillleben. So karg wie die Inneneinrichtung sind auch die Sätze von Daniela Danz. Sie führen sofort vor Augen, in welch heikler Gemütsverfassung sich ihr Protagonist befindet. Dieser transzendental Heimatlose haust in einem Container, das Provisorium ist längst zu etwas Endgültigem geworden.
Man ahnt auf der ersten Seite, dass Hoffnung oder Glück hier Fremdwörter sind oder nur noch undeutlich mit einem anderen, längst zurückgelassenen Leben zusammenhängen. Alltagsgegenstände werden zu Menetekeln. Oder – wie die kaputte Schaukel im Garten – zu Bildern des inneren Ungleichgewichts. Wo das Profane so offensiv ausgestellt wird, ist das Mythische allerdings nicht fern.
Die 1976 in Eisenach geborene Daniela Danz erzählt die Geschichte eines Verlorengehens als moderne Heiligenlegende. Ihr nicht gerade beständiger Held Constantin, genannt Cons, ist die Reinkarnation einer Märtyrerfigur, ein Schmerzensmann, der sein Leid selbst nicht zu fassen vermag. Einst hatte er bei der Bundeswehr angeheuert, sich mit voller Hingabe ins Soldatenleben gestürzt. Der Karriere an der Waffe stand nicht viel im Weg. Er wurde für einen Kosovo-Einsatz ausgebildet.
Dann aber kam dieser eine unerklärliche Moment: Während einer Übung entfernt er sich unerlaubt von der Truppe, ihn zieht es wie von Geisterhand in den Wald; später nennt er das einen „Aussetzer“, der alles ins Wanken brachte. Was damals jedoch genau geschah, bleibt im Dunkeln. Nun gilt Cons als unzuverlässig, ist der mit dem Knacks, dem nicht über den Weg zu trauen ist. Und er wird zu jemandem, der sich und anderen nicht mehr zu vertrauen vermag. Das, wofür er ausgebildet wurde, kann er nicht mehr bewältigen; der Auslandseinsatz wird gestrichen. Für den Soldaten eine Schmach, für die Familie eine Katastrophe. Das Befremden über sich selbst entfernt ihn von seiner Frau Anne und den beiden Söhnen. Das geplante Haus bleibt Baustelle; die übereinander gestapelten Wohncontainer daneben sind das äußere Zeichen für das Scheitern dieses modernen Hiob. „Ich weiß nicht“, sagt der Schweigsame zu seinem todkranken Freund Henning, „warum ich so neben mir steh, seit Jahren eigentlich, inzwischen weiß ich auch nicht mehr, wie es wäre, nicht neben mir zu stehen.“
Cons’ Fluchten führen immer wieder in die nächtliche Einsamkeit des Waldes. Er hockt stundenlang auf dem Hochsitz, das Gewehr im Anschlag. Auf der Jagd kommt er zur Ruhe. Der Jäger durchstreift sein Revier allerdings mehr wie ein waidwundes Tier. Einmal, während eines Gewitters, hat er auf einer Lichtung eine Erscheinung. „Als er sich aufrichten will, sieht er im Schein eines starken Blitzes ein paar Meter hinter sich am Waldrand einen Hirsch. Hell und reglos steht er da und sieht Cons an. Sein vom Bast überzogenes Geweih schimmert weich und verletzlich. Sein Blick ist Hennings Blick.“ Daniela Danz, die in ihrer Lyrik gerne antike Mythen nachhallen lässt, übersetzt hier eine frühchristliche Märtyrergeschichte in die Gegenwart.
Dem Feldherrn Placidus erschien vor fast 2000 Jahren auf der Jagd ein Hirsch, in dessen Geweih der Gekreuzigte gleißend erstrahlte. Der römische Legionär wurde bekehrt, nannte sich fortan Eustachius, musste etliche Prüfungen bestehen und floh mit seiner Familie auf ein Schiff. Auch Cons landet am Ende mit Anne und den Söhnen auf einem Boot, in einer fiebrigen, albtraumhaft anmutenden Szenerie. Wie der Fährmann Eustachius‘ Frau als Pfand für die Überfahrt nach Ägypten für sich behalten wollte, so greift nun auch bei Danz der Kapitän nach Anne. Cons gleitet in eine surreale Zwischenwelt aus Ängsten und Visionen. Aus dem prägnanten, pathosfreien erzählerischen Realismus wird ein magisches Mysterienspiel. In ihre simple Story aus der ostdeutschen Provinz zieht Daniela Danz eine unheimliche, irrationale Ebene ein. Die religiös-mythische Aufladung ist der stärkste Kontrast zur Leere ihrer Figur, allerdings zugleich die größte Gefahr für das Buch: Die Analogie zwischen dem heiligen Eustachius und dem verzweifelten Cons stößt an die Grenze der säkularen Gegenwart; das Gleichnis geht nicht auf. Die Bekehrung bleibt eher Behauptung, Constantin darf sich im Verlauf von 150 Seiten kaum ein Stückchen fortentwickeln.
Und so lässt Danz ihren Helden wie ihre Leser in einer schwebenden, kursiv gesetzten Ungewissheit zurück. Der traumhaft-offene Schlussakkord des Romans raunt von einer Versöhnung, von einer Erlösung in der Natur, von einer vielleicht schon jenseitigen Heimkehr. Aber die lange Flucht endet eben in einer Kreisbewegung dort, wo sie angefangen hat: im Dickicht des Waldes, in der Undurchdringlichkeit des verlorenen Ichs.
ULRICH RÜDENAUER
Daniela Danz: Lange Fluchten. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 146 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Am Ende steht eine
schwebende, kursiv gesetzte
Ungewissheit
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