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Max Porter versammelt in seinem Roman "Lanny" eine Vielzahl von Stimmen, aus der ein Chor unserer in Misstrauen gefangenen Gesellschaft entsteht.
Von Andreas Platthaus
Stimmen. Sie kommen von überall her, als Fragmente von Sätzen, Gesprächen, Geflüster, Parolen, vermischen, überlagern sich und werden deshalb in diesem Buch gekrümmt gedruckt wie Strömungslinien, kursiv wie Zitate, abgehackt wie Trümmerstücke. Man liest diese Kakophonie wie einen Doppler-Effekt: als klänge aus weiter Ferne etwas auf, näherte sich immer lauter werdend und schwölle schließlich im Lärm wieder ab. Das sind die Geräusche, die Altvater Schuppenwurz hört.
Max Porter beginnt seinen neuen Roman "Lanny" in Fettdruck, mit dem Erwachen einer Figur, die hungrig ist auf diese Stimmen der paar hundert Menschen aus dem nahen Dorf. Dieser Alt- oder auch Totvater Schuppenwurz, im Original "dead papa toothwort", ist der Geist des Buches in mehrfacher Hinsicht. Ein höchst reales, weil immer wieder (und auch immer fettgedruckt) in die Handlung eingreifendes Gespenst. Ein beschworener Schrecken der lokalen Mythologie, benannt nach einer Schmarotzerpflanze, die nur zum kleineren Teil sichtbar ist, ein ausgedehntes Wurzelwerk besitzt, ihre Wirtspflanzen, meist Bäume, aussaugt, aber auch schöne Blüten hervortreibt. "Einen Mann ganz aus Efeu" stellt der kleine Lanny sich vor, unheimlich wie Goethes Erlkönig, auf den Porter überdeutlich anspielt. Ein böser Geist also, der von Beginn an die unheimliche Stimmung setzt in dieser eigentlich heimeligen Welt eines kleinen Dorfs etwa hundert Kilometer südlich von London, "keine fünfzig rote Backsteincottages, ein Pub, eine Kirche, die kleinen Reihenhäuser vom sozialen Wohnungsbau, ein paar verstreute Herrenhäuser". Hier leben Jolie und Robert Lloyd mit ihrem Sohn Lanny, zugezogen aus der Hauptstadt, in die Robert als Bankangestellter täglich pendelt, während Jolie ihre Schauspielerinnenkarriere an den Nagel gehängt hat und daheim an einem Thriller schreibt. Und sich um Lanny kümmert, wenn er aus der Schule kommt.
Es gab Probleme nach der Geburt des einzigen Kindes. Jolie litt an Depressionen, Lanny ist ein schwieriger Junge, offenbar übersinnlich begabt, "unser kleines Enigma", wie die Mutter ihn nennt. Der Umzug der Familie aufs Land war ein Neuanfang, aber dass dazu mehr gehört als allein guter Wille der Zugezogenen, macht Porters Roman schmerzlich klar. Denn die Alteinwohner im Dorf machen sich so ihre Gedanken, vor allem seit Lanny regelmäßig Peter Blythe, genannt "der irre Pete", besucht, den berühmten schwulen Künstler in seinem Cottage, der eher für sich bleiben möchte, aber die Gesellschaft des Jungen schätzt, weil Lanny so sensibel und wissbegierig ist. Und phantasiereich. Aber eines Tages verschwindet das Kind.
Da sind schon hundert Seiten vergangen, fast die Hälfte von Porters schmalem Roman. Zuvor wurden vier Hauptfiguren - die Lloyds, Pete und Altvater Schuppenwurz - mittels sich abwechselnder innerer Monologe eingeführt; über die fünfte, die Titelfigur des Buchs, wird von ihnen nur gesprochen. Und dann waren da immer wieder die in sich verschränkten Stimmen des Dorfes, typographisch charakterisiert auf jene erwähnte Weise, an der Laurence Sterne, der Ahnherr aller literarischen Lust an origineller Buchgestaltung, seine wahre Freude gehabt hätte. Nun aber, im zweiten Teil der Handlung, eingeleitet durch drei Seiten, die fast nur mit verstreuten Kreuzchen gefüllt sind wie eine Schatzkarte oder auch ein Gräberfeld, treten aus dem Chor der Dorfbewohner einzelne Stimmen hervor und in Dialog mit den Hauptfiguren: Nachbarn, die etwas gesehen haben wollen, zumindest schon immer etwas geahnt, die sich das Maul zerreißen und jetzt auch den Platz dafür bekommen, in stetem Wechsel mit den immer verzweifelteren Stimmen der Eltern und der fassungslosen von Pete. Neue Stimmen kommen hinzu: die der Großeltern von Lanny, erst übers Telefon vernehmbar, dann beteiligt am Rätselraten vor Ort, und die der Ermittler, die Pete verhören. Man muss selbst herausfinden, wer da jeweils spricht, denn es gibt keine explizite Zuordnung wie noch im ersten Teil. Und auch keine typographischen Kunststücke mehr, denn der lauernde Altvater Schuppenwurz ist aus der Handlung verschwunden. Nicht aber sein böser Geist.
Max Porter hat einen Psychothriller geschrieben und eine Sozialstudie, einen Kriminalfall, ein Gespensterbuch und eine Komödie (ja, auch die, man lese nur den Besuch von Jolie Lloyd bei ihrer Nachbarin Mrs. Larton). Vor allem aber ein psychologisches Meisterstück, dem man die Schulung an den frühen Romanen von Julian Barnes anmerkt, etwa "Metroland" oder vor allem "Darüber reden" mit dessen multiplen Perspektiven. Zugleich aber findet Porter seinen ganz eigenen Stil, der schon das Debüt des 1981 geborenen englischen Schriftstellers prägte: den vor vier Jahren erschienenen, noch schmaleren Roman "Trauer ist das Ding mit Federn", in dem ein seltsames Tier eine Familie besucht, deren Mutter gerade jung gestorben ist - eine Heimsuchung der tröstlichen Art, aber auch schon irritierend im subtilen Gespür Porters für die literarische Verstörungskraft des Übersinnlichen. Was damals noch plakativ war und einigermaßen geradlinig erzählt durch die Fokussierung auf den Witwer und seine beiden Söhne, wird in "Lanny" nun zum verschwimmenden Kaleidoskop der Ansichten - zu einem Erzählstrang, so gewunden und verschlungen, wie es die Typographie der Schuppenwurzschen Wahrnehmung ist. Was die Übersetzer Uda Strätling und Matthias Göritz gerade im Hinblick auf die verschiedenen Tonfälle, die die Unterscheidung der Sprechenden erleichtern, ausgezeichnet bewahrt haben.
Die Sache mit Lanny eskaliert, natürlich, möchte man sagen, in einer Zeit, in der Wachsamkeit zu Verfolgungswahn und Fürsorge zu Paternalismus pervertiert wird. Aber Porter begeht nicht den Fehler, auch den Stoff selbst eskalieren zu lassen. Im dritten, dem schmalsten, zugleich aber auch in den Phantasmen ausuferndsten Teil bekommen wir zwar einen Traum erzählt, in dem Altvater Schuppenwurz zurückkehrt, doch er bietet den Schlüssel zur Lösung. Die nicht mehr verhindern kann, dass alle Beteiligten sich verändern werden, wie schon in "Trauer ist das Ding mit Federn", jedoch zum Besseren. In der drastischen Handlung von Jolie Lloyds in Arbeit befindlichem Thriller wird eine Schreibhaltung - "zur Unterhaltung erfinde ich schreckliche Dinge" - vorgeführt, die an niedere literarische Instinkte appelliert: "ein Erwachsenenkrimi", wie sie ihrem Sohn hilflos erklärt, als Lanny einmal ein Stück daraus in der Textdatei gelesen hat. Das ist etwas anderes als ein erwachsener Krimi. So könnte man Max Porters neuen Roman nennen und würde ihm damit doch nur in Teilen gerecht, weil dieser Erzähler so viel mehr zu bieten hat.
Max Porter: "Lanny". Roman.
Aus dem Englischen von Uda Strätling und Matthias Göritz. Verlag Kein & Aber, Zürich 2019. 220 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
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