In Europa wurde die lateinamerikanische Literatur erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Kenntnis genommen. Maßgeblichen Anteil daran haben die Literaturnobelpreise an ver-schiedene lateinamerikanische Autoren. Die chilenische Lyrikerin Gabriela Mistral erhielt 1945 als erster lateinamerikanischer
Autor diese Auszeichnung, später folgten Miguel Angel Asturias (Guatemala, 1967), Pablo Neruda (Chile,…mehrIn Europa wurde die lateinamerikanische Literatur erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Kenntnis genommen. Maßgeblichen Anteil daran haben die Literaturnobelpreise an ver-schiedene lateinamerikanische Autoren. Die chilenische Lyrikerin Gabriela Mistral erhielt 1945 als erster lateinamerikanischer Autor diese Auszeichnung, später folgten Miguel Angel Asturias (Guatemala, 1967), Pablo Neruda (Chile, 1971), Gabriel Garcia Marquez (Kolumbien, 1982), Octavio Paz (Mexiko, 1990) und im Vorjahr der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa.
Bereits diese Auflistung macht deutlich, dass die lateinamerikanische Literatur keine nationale Literatur im üblichen Sinne ist. Das beginnt schon bei der Begriffsbestimmung „lateinamerikanisch“. Darunter verstehen wir (im Gegensatz zu „angelsächsisch“) alle Länder des amerikanischen Kontinents von Mexiko bis Feuerland. Bis auf die Ausnahme Brasilien (Portugiesisch) ist hier Spanisch die Landessprache, so dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff „Latein-Amerika“ herausbildete.
Die „Lateinamerikanische Literaturgeschichte“ aus dem Stuttgarter Metzler Verlag, die bereits in der dritten, erweiterten Auflage vorliegt, versucht, die Geschichte der reichhaltigen und vielgestaltigen Literatur Lateinamerikas in einem Band darzustellen.
Der Herausgeber Michael Rössner (Prof. für Romanische Philologie) und sein Autoren-kollektiv von zwölf renommierten Literaturwissenschaftlern hat die etwa zwanzig nationalen „Einzelliteraturen“ in literarische „Großräume“ gegliedert, die auch historische Gemeinsamkeiten besitzen: Mexiko, Mittelamerika, die spanischsprachige Karibik, Kolumbien und Venezuela, die Andenländer (Ecuador, Bolivien und Peru) und der sogenannte „Cono Sur“ (Paraguay, Chile, Argentinien und Uruguay). Zu diesen sechs spanischsprachigen „Großräumen“ tritt noch das portugiesische Brasilien hinzu.
Bei aller Differenzierung und Unterschiedlichkeit waren die Autoren bemüht, die Zusammenhänge der einzelnen Literaturen herauszuarbeiten, ohne dabei eine vollständige Homogenisierung der behandelten Literaturen anzustreben, etwa zu einem „künstlichen Panorama“ der lateinamerikanischen Literatur - vielmehr ging es ihnen um die Verschiedenartigkeit innerhalb der umfassenden lateinamerikanischen Literatur.
Ähnliche Probleme bereitete die Periodisierung der Literaturgeschichte, denn europäische Kategorien und Periodenbegriffe sind hier unbrauchbar. So werden die fünfhundert Jahre der literarischen Produktion in Lateinamerika in acht Zeitkapitel gegliedert - von der Literatur der Inka, Maya und Azteken bis zur zeitgenössischen Literatur des 21. Jahrhunderts. Besonders ausführlich werden dabei die Kolonialzeit und die gegenwärtigen Entwicklungen beleuchtet.
Die knapp 600 Seiten sind kein enzyklopädisches Lexikon, sie liefern vielmehr einen Überblick über die lateinamerikanische Literatur, wobei die Überschaubarkeit für den Leser im Mittelpunkt steht. Dazu tragen auch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos bei. Ein umfangreicher Anhang mit ausführlicher Bibliografie und detailliertem Personen- und Werkregister erleichtert nicht nur die Handhabung sondern gibt auch wertvolle Hinweise zur Vertiefung der Materie.
Fazit: Die „Lateinamerikanische Literaturgeschichte“ ist ein äußerst gelungener Versuch, die Literatur des mittel- und südamerikanischen Kontinents mit ihren vielfältigen Gesichtern dem deutschsprachigen Leser näher zu bringen und viele neue Lektüreanregungen zu geben.
Manfred Orlick