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Anne Tylers Milieu ist die dysfunktionale Familie: In "Launen der Zeit" lässt die Autorin eine Amerikanerin den Aufstand proben
Anne Tyler verfügt über die unversiegbare Fabulierfreude und den Kultstatus der angelsächsischen Schriftsteller, die ihren Ton und ihr Publikum ein für allemal gefunden haben. John Updike nannte sie einmal wickedly good, also etwa auf hinterlistige Weise gut; und der literarisch hochangesehene "Guardian" verkündete: "Die größte lebende Romanautorin? Ganz einfach: Anne Tyler."
Zuletzt hat sie Shakespeares skandalöse Zähmung der Widerspenstigen in eine migrantenfreundliche Greencard-Komödie umgeschrieben, die der Vorlage den Stachel nimmt. Sie mag Außenseiter, aus dem Alltagstrott ausscherende Frauen und komische Käuze. Ihr Milieu ist die dysfunktionale amerikanische Normalfamilie, ihr Stil ein gleichmäßiger, syntaktisch unkomplizierter Erzählton mit eher lapidaren Dialogen. Das Wichtigste steht oft zwischen den Zeilen. Dies ist ihr zweiundzwanzigster Roman, und die deutsche Version, die diesen Ton bewundernswert genau trifft, erscheint gleichzeitig mit dem Original.
Dort heißt das Buch "Clock Dance", nach einem Kindertanz, bei dem ruckartige Armbewegungen den Lauf des Uhrzeigers nachahmen. Auf Deutsch hat man ihm den faden Titel "Launen der Zeit" verpasst, und das ebenso irrelevante Umschlagbild zeigt zwei seilhüpfende kleine Lockenmädchen. Die Autorin lässt die Uhr im Leben ihrer unheldischen Heldin Willa Drake ordentlich ruckeln. 1967, 1977 und 1997 spielen die drei Episoden des ersten Drittels. Sie zeigen eine Willa, die eher die Konfliktscheu ihres Vaters als das aufbrausende Wesen ihrer Mutter geerbt hat.
In kritischen Situationen reagiert sie hilflos und kuscht vor Derek, ihrem College-Freund, als er auf dem Abbruch ihres Sprachstudiums zum Zweck sofortiger Heirat besteht. Sich selbst sieht sie als eine Frau, "deren Hauptziel darin bestand, als selbstverständlich betrachtet zu werden". Dereks Anspruch auf lebenspraktische Überlegenheit äußert sich nicht zuletzt in seinem aggressiven Fahrstil, der Willa in einem Anfall ungezügelter road rage nach knapp zwanzig Ehejahren zur Witwe macht.
Den Präliminarien folgt der Hauptteil. Nach einem halben Jahrhundert sind wir in der Gegenwart des Jahres 2017 angelangt. Der neue Gatte Peter tituliert Willa gern als "Kleines" und ist auch sonst keine echte Alternative zu dem Verflossenen. Die beiden Söhne kümmern sich wenig um ihre Mutter, seelische Vereinsamung droht. Wir ahnen, es wird langsam Zeit für einen Ausbruch aus dem Puppenhaus und für ein Accelerando der Geschichte. In solchen Fällen hilft zuverlässig ein bewährtes Requisit, die geladene Pistole. Ihr erster Auftritt anno 1977, als ein Sitznachbar im Flugzeug der jungen Frau etwas Hartes in die Seite rammt und sie anzischt: "Das ist eine Waffe. Sie ist geladen. Eine Bewegung und ich schieße", diente nur dazu, sie in ihrer verzagten Hilflosigkeit vorzuführen. Es gab keinen Eklat, keine Aufklärung des Vorfalls.
Doch diesmal ist die Pistole losgegangen, auf offener Straße, scheinbar aus dem Nichts, und hat Denise, die Exfreundin des älteren Sohnes, ins Bein getroffen. Der etwas ruppige Anruf einer genervten Nachbarin - unbedingt und schnellstens müsse sie ihrer eingegipsten Tochter helfen und ihre Enkelin Cheryl versorgen - bringt Willa zum ersten spontanen Entschluss ihres Lebens und katapultiert sie aus dem vertrauten Arizona in ein abenteuerlich fremdes Baltimore.
Aber die Nachbarin irrt sich, die Kleine ist gar nicht das Kind des Sohnes. Wider die Vernunft und unter Missachtung aller männlichen Bedenken folgt Willa trotzdem dem Ruf in eine Welt, die den gepflegten Leerlauf ihrer bisherigen Existenz gründlich durcheinanderbringt. Ein schäbiges Viertel in einer Stadt ohne Glamour (Wohnort der Autorin und Schauplatz vieler ihrer Bücher), wo die uramerikanische Tugend der Nachbarschaftshilfe noch nicht ausgestorben ist und wo Willa sich gebraucht und gemocht fühlen darf. Hier ist Anne Tyler, die aus einer Quakerfamilie stammt, in ihrem Element.
Unter den liebenswerten Spinnern und Misfits der neuen Umgebung findet Willa eine neue Familie, lernt Selbstvertrauen und sogar Autofahren auf unbekanntem Terrain. Die humpelnde und scharfzüngige Denise wächst ihr regelrecht ans Herz - man ahnt bald, dass sie eine bessere Gefährtin für den Sohn abgegeben hätte als die affektierte Blondine, die er seiner Mutter bei einem Lokalbesuch vorstellt.
Im Zentrum der Anziehung steht die gar nicht so kleine, alles andre als hilflose Cheryl, dank ihrer ungeschminkten Sprache eine Offenbarung für die verhinderte Linguistin und bald schon Wunsch-Enkelkind ihrer unechten Oma. Sie streichelt das Gipsbein der Mutter, kuschelt mit dem Hund Airplane (ja, er hat Flügelohren) und backt Ingwerplätzchen. Wenn Willa sich über sie beugt, atmet sie "tief und genüsslich den buttrigen Popcorngeruch von Cheryls Haar ein". Anders als der Duft von Popcorn hat diese - durchaus klischeeverdächtige - Vorstadtidylle nichts Süßliches an sich. Sie erinnert an das Symbol des Saguaro oder Säulenkaktus, Willas Lieblingspflanze, die in Form eines Miniablegers von Arizona an die Ostküste wandert: stachelbewehrte Sukkulenz aus kargem Boden. Am Ende macht sich Willa auf den Heimflug, zurück zu ihrem Gatten mit seinen Geschäftsfreunden und Golfkumpels. Aber halt: "Beim Betreten des Terminals überkam sie das Gefühl, alle Menschen hätten für die Dauer ihrer Abwesenheit mitten in der Bewegung verharrt... Sie alle wirkten wie gemalt, wie Puppen, deren Puppenhaus der Flughafen war." Mitten unter den Rucksack- und Laptoptaschenträgern sieht sie sich nach den Ticketschaltern um. Ein Rückflug ist angesagt.
WERNER VON KOPPENFELS
Anne Tyler: "Launen der Zeit". Roman.
Verlag Kein & Aber. Zürich, Berlin 2018. 303 S., geb. 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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