Die Lügen unserer Zeit - Konrad Paul Liessmann liefert einen pointierten und provokanten Beitrag zu den Themen der Gegenwart. Halbwahrheiten, Meinungsblasen, Propaganda, Euphemismen, Fake News, Verschwörungstheorien - lauter Lügen. Schrill, unüberseh- und unüberhörbar dominieren sie die Medien und die Diskurse. Um in diesem Gewirr und auch abseits davon die Wahrheit zu erhaschen, bedarf es eines scharfen Blicks und Ohrs. Konrad Paul Liessmann seziert die Gegenwart, sowohl aus der Distanz und mit sanfter Ironie als auch engagiert und mit großem Ernst. Hinter den pathetischen Formeln unserer Kultur erkennt er deren beengte Verhältnisse, in den Alltäglichkeiten unseres Denkens entdeckt er die Signaturen der Epoche. Pointiert entwirft der Philosoph ein facettenreiches Panorama unserer Gesellschaft und ein Mosaik ihrer Irrtümer und Selbsttäuschungen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2023Signaturen der Zeit?
Konrad P. Liessmann übt knappe Zeitdiagnostik
In Stendhals Roman "Die Kartause von Parma" gerät der blutjunge Held in die Schlacht bei Waterloo. Sie zerfällt ihm in eine Ansammlung von Einzelheiten: Erzählt wird vom Kauf eines Pferdes, von der Requisition eines Frühstücks, von einer verführerischen Marketenderin, einer aus dem Augenwinkel beobachteten Beinamputation und einem Glas Branntwein zu viel, das bewirkt, dass der junge Mann den vorüberreitenden Kaiser Napoleon nicht sieht, weil er sich darauf konzentriert, nicht vom Pferd zu fallen. Er befand sich im Zentrum der Weltgeschichte des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Aber er ist sich bis zum Ende seines Abenteuers nicht sicher, ob es überhaupt eine Schlacht war, was er da - dies und jenes wahrnehmend - erlebt und überlebt hat.
Diese berühmte Passage zitiert der emeritierte Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann - langjähriger Leiter des österreichischen Philosophicums Lech - in der Einleitung zu einem Band mit Kolumnen, die er in den Jahren 2016 bis 2022 für Tageszeitungen geschrieben hat. Stendhals Schlachtbeschreibung sieht er als Beleg dafür, dass Zeitgenossenschaft Schwierigkeiten hat, sich selbst zu verstehen. Seinen eigenen Kolumnen dagegen stellt er die Aufgabe, "von markanten Vorkommnissen auf den Geist der Zeit zu schließen, in manchen Nachrichten die Signaturen der Epoche zu erkennen".
Je weiter man allerdings seinen Texten in das Buch hinein folgt - oft mit Zustimmung zu seinen Meinungen und Bewunderung für brillant zugespitzte Sentenzen -, desto unabweisbarer wird der Verdacht, dass Liessmanns Anspruch, den "Geist der Zeit" zu treffen, die Erkenntnischance gerade verfehlt, die in der von ihm gewählten essayistischen Form der Kolumne eigentlich steckt. Sieht man sich bei den Meistern und Meisterinnen einer solchen Form um - man könnte zu Franz Hessel greifen, zu Max Beerbohm, Michael Rutschky, aber auch zu Virginia Woolfs "Evening over Sussex: Reflections in a Motor Car" oder zu den explizit politischen Kolumnen des Amerikaners Walter Lippmann -, dann sieht man, dass die Erkenntnisse ja genau in versprengten Einzelheiten von der Art verborgen liegen, die dem Helden in Stendhals Roman zweifelhaft gemacht hatten, sie stünden überhaupt für irgendetwas.
Liessmann dagegen, scheint es, weiß zu viel und vieles zu genau zu früh. Die Nachrichten und Einzelheiten, von denen er allenfalls berichtet, sind bei ihm von vornherein Belege für schon feststehende Meinungen. Seine Meinungsfreude lässt den Details keine Luft. "Der moderne Mensch", beginnt Liessmann zum Beispiel einen Abschnitt, "ist kein besonderer Freund von Ritualen." Woher weiß er es? Welche versprengte - vielleicht sogar interessante, komische oder rührende - Einzelheit hat ihn auf diese vermeintliche Signatur der Zeit geführt? Wir erfahren es nicht; was wir erfahren ist, dass er über Rituale und den modernen Menschen schon Bescheid weiß. Wer erwartet, dass die Pointen der Texte aus dem Ephemeren hervorspringen, wird enttäuscht. Liessmann plaudert sie allzu oft schon zu Beginn aus - und gibt sie dann bis zum Schluss nicht mehr aus der Hand. Seine Ansichten - es sind, wie erwähnt, oft überaus bedenkenswerte, vernünftige, sogar originelle und trennscharfe - sind immer schon erklärt; Einzelheit, Nachricht, Detail haben nur noch als Illustration eine Chance, und eigentlich braucht er sie gar nicht mehr.
Vielleicht ist der Grund für die erdrückende Meinungspräponderanz dieser Kolumnen durch die Zeit ihrer Entstehung zu erklären, die eine des besonders erbitterten Meinungsstreits war. Die Flüchtlingskrise und ihre Folgen; der Import identitätspolitischer Wokeness aus den amerikanischen humanities departments; Corona und das "Querdenkertum"; der russische Überfall auf die Ukraine. Da galt es, entschieden Stellung zu nehmen, schon gar als Kolumnist. Aber inzwischen wünscht man sich doch, dass ein so gebildeter, kluger und sprachgewandter Autor wie Liessmann länger beim Ephemeren verweilte, ohne gleich Signaturen der Gegenwart mitzuteilen.
Um bei Stendhal und der Schlacht von Waterloo zu bleiben: Man möchte mehr von Pferdekäufen, Frühstücken, Branntweingläsern und Marketenderinnen lesen. Dafür würden wir es sogar in Kauf nehmen, wenn wir über all dem den "Weltgeist zu Pferde" gar nicht rechtzeitig und auch nicht deutlich zu Gesicht bekommen. STEFAN WACKWITZ
Konrad Paul Liessmann: "Lauter Lügen".
Zsolnay Verlag, Wien 2023. 256 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Konrad P. Liessmann übt knappe Zeitdiagnostik
In Stendhals Roman "Die Kartause von Parma" gerät der blutjunge Held in die Schlacht bei Waterloo. Sie zerfällt ihm in eine Ansammlung von Einzelheiten: Erzählt wird vom Kauf eines Pferdes, von der Requisition eines Frühstücks, von einer verführerischen Marketenderin, einer aus dem Augenwinkel beobachteten Beinamputation und einem Glas Branntwein zu viel, das bewirkt, dass der junge Mann den vorüberreitenden Kaiser Napoleon nicht sieht, weil er sich darauf konzentriert, nicht vom Pferd zu fallen. Er befand sich im Zentrum der Weltgeschichte des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Aber er ist sich bis zum Ende seines Abenteuers nicht sicher, ob es überhaupt eine Schlacht war, was er da - dies und jenes wahrnehmend - erlebt und überlebt hat.
Diese berühmte Passage zitiert der emeritierte Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann - langjähriger Leiter des österreichischen Philosophicums Lech - in der Einleitung zu einem Band mit Kolumnen, die er in den Jahren 2016 bis 2022 für Tageszeitungen geschrieben hat. Stendhals Schlachtbeschreibung sieht er als Beleg dafür, dass Zeitgenossenschaft Schwierigkeiten hat, sich selbst zu verstehen. Seinen eigenen Kolumnen dagegen stellt er die Aufgabe, "von markanten Vorkommnissen auf den Geist der Zeit zu schließen, in manchen Nachrichten die Signaturen der Epoche zu erkennen".
Je weiter man allerdings seinen Texten in das Buch hinein folgt - oft mit Zustimmung zu seinen Meinungen und Bewunderung für brillant zugespitzte Sentenzen -, desto unabweisbarer wird der Verdacht, dass Liessmanns Anspruch, den "Geist der Zeit" zu treffen, die Erkenntnischance gerade verfehlt, die in der von ihm gewählten essayistischen Form der Kolumne eigentlich steckt. Sieht man sich bei den Meistern und Meisterinnen einer solchen Form um - man könnte zu Franz Hessel greifen, zu Max Beerbohm, Michael Rutschky, aber auch zu Virginia Woolfs "Evening over Sussex: Reflections in a Motor Car" oder zu den explizit politischen Kolumnen des Amerikaners Walter Lippmann -, dann sieht man, dass die Erkenntnisse ja genau in versprengten Einzelheiten von der Art verborgen liegen, die dem Helden in Stendhals Roman zweifelhaft gemacht hatten, sie stünden überhaupt für irgendetwas.
Liessmann dagegen, scheint es, weiß zu viel und vieles zu genau zu früh. Die Nachrichten und Einzelheiten, von denen er allenfalls berichtet, sind bei ihm von vornherein Belege für schon feststehende Meinungen. Seine Meinungsfreude lässt den Details keine Luft. "Der moderne Mensch", beginnt Liessmann zum Beispiel einen Abschnitt, "ist kein besonderer Freund von Ritualen." Woher weiß er es? Welche versprengte - vielleicht sogar interessante, komische oder rührende - Einzelheit hat ihn auf diese vermeintliche Signatur der Zeit geführt? Wir erfahren es nicht; was wir erfahren ist, dass er über Rituale und den modernen Menschen schon Bescheid weiß. Wer erwartet, dass die Pointen der Texte aus dem Ephemeren hervorspringen, wird enttäuscht. Liessmann plaudert sie allzu oft schon zu Beginn aus - und gibt sie dann bis zum Schluss nicht mehr aus der Hand. Seine Ansichten - es sind, wie erwähnt, oft überaus bedenkenswerte, vernünftige, sogar originelle und trennscharfe - sind immer schon erklärt; Einzelheit, Nachricht, Detail haben nur noch als Illustration eine Chance, und eigentlich braucht er sie gar nicht mehr.
Vielleicht ist der Grund für die erdrückende Meinungspräponderanz dieser Kolumnen durch die Zeit ihrer Entstehung zu erklären, die eine des besonders erbitterten Meinungsstreits war. Die Flüchtlingskrise und ihre Folgen; der Import identitätspolitischer Wokeness aus den amerikanischen humanities departments; Corona und das "Querdenkertum"; der russische Überfall auf die Ukraine. Da galt es, entschieden Stellung zu nehmen, schon gar als Kolumnist. Aber inzwischen wünscht man sich doch, dass ein so gebildeter, kluger und sprachgewandter Autor wie Liessmann länger beim Ephemeren verweilte, ohne gleich Signaturen der Gegenwart mitzuteilen.
Um bei Stendhal und der Schlacht von Waterloo zu bleiben: Man möchte mehr von Pferdekäufen, Frühstücken, Branntweingläsern und Marketenderinnen lesen. Dafür würden wir es sogar in Kauf nehmen, wenn wir über all dem den "Weltgeist zu Pferde" gar nicht rechtzeitig und auch nicht deutlich zu Gesicht bekommen. STEFAN WACKWITZ
Konrad Paul Liessmann: "Lauter Lügen".
Zsolnay Verlag, Wien 2023. 256 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Konrad Paul Liessmann kann den Anspruch, mit seinen Zeitungskolumnen über sechs Jahre den Zeitgeist eingefangen zu haben, nicht einlösen, findet Rezensent Stephan Wackwitz. Das Problem des Buches sei nicht nur, dass der im Ruhestand befindliche österreichische Philosophieprofessor sich mit seiner Selbsteinschätzung von Meistern des Fachs abheben will, sondern seine persönlichen Beobachtungen zu Fakten erklärt. Zwar seien seine Kolumnen von 2016 bis 2022 "brillant zugespitzte Sentenzen", die Wackwitz inhaltlich meistens teilt, aber ihn stört, dass Liessmann für seine Ansichten keinerlei nachvollziehbare Begründungen liefert. Dadurch entsteht für den Rezensenten nicht mehr als eine "erdrückende Meinungspräponderanz" des gelehrten Autors.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Dass Philosophie jeden angeht, wirklich jeden, dass jeder willkommen ist beim gemeinsamen Denken, dafür steht Konrad Paul Liessmann, der ein Glücksfall für die Geisteswissenschaft ist." Michael Köhlmeier
"Konrad Paul Liessmanns Kolumnen sind wahre Meisterwerke." Erhard Schütz, der Freitag, 21.04.23
"Auch dort, wo Liessmann entschieden Widerspruch einlegt, bleibt sein Stil Ausdruck von Differenzierung und demokratischem Pluralismus. Das ist ein großes Lesevergnügen für alle, denen das Selbstdenken noch nicht zu schwer geworden ist." Eberhard Falcke, SWR2 Lesenswert, 14.04.23
"Dem Kenner der Sinnenkonzepte Kierkegaards und Nietzsches gelingt es, in verschwörungstheoretischen Zeiten die politische Aktualität von Erkenntnistheorie aufzuzeigen." Christian Geyer, FAZ, 13.04.23
"Konrad Paul Liessmann erforscht die eher halbdunklen Zonen unseres Selbstverständnisses. Dabei mobilisiert er die besten Kräfte der abendländischen Philosophiegeschichte, um sie sorgfältig gezielt gegen Großsprecher und Wichtigtuer zu richten." Ronald Pohl, Der Standard, 13.04.23
"Bei all dem ist Konrad Paul Liessmann ein stets eleganter Formulierer, einer, der es genießt, auf geistesgegenwärtig-wortgewandte Weise gegen den Stachel des politisch korrekten Mainstreams zu löcken." Günter Kaindlstorfer, Dlf Andruck, 27.02.23
"Just weil er sich zum Unzeitgemäßen bekennt, ist Liessmann ein hellsichtiger Betrachter der Zeitläufte." Thomas Kramar, Die Presse, 27.02.2023
"Konrad Paul Liessmanns Kolumnen sind wahre Meisterwerke." Erhard Schütz, der Freitag, 21.04.23
"Auch dort, wo Liessmann entschieden Widerspruch einlegt, bleibt sein Stil Ausdruck von Differenzierung und demokratischem Pluralismus. Das ist ein großes Lesevergnügen für alle, denen das Selbstdenken noch nicht zu schwer geworden ist." Eberhard Falcke, SWR2 Lesenswert, 14.04.23
"Dem Kenner der Sinnenkonzepte Kierkegaards und Nietzsches gelingt es, in verschwörungstheoretischen Zeiten die politische Aktualität von Erkenntnistheorie aufzuzeigen." Christian Geyer, FAZ, 13.04.23
"Konrad Paul Liessmann erforscht die eher halbdunklen Zonen unseres Selbstverständnisses. Dabei mobilisiert er die besten Kräfte der abendländischen Philosophiegeschichte, um sie sorgfältig gezielt gegen Großsprecher und Wichtigtuer zu richten." Ronald Pohl, Der Standard, 13.04.23
"Bei all dem ist Konrad Paul Liessmann ein stets eleganter Formulierer, einer, der es genießt, auf geistesgegenwärtig-wortgewandte Weise gegen den Stachel des politisch korrekten Mainstreams zu löcken." Günter Kaindlstorfer, Dlf Andruck, 27.02.23
"Just weil er sich zum Unzeitgemäßen bekennt, ist Liessmann ein hellsichtiger Betrachter der Zeitläufte." Thomas Kramar, Die Presse, 27.02.2023