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Schicksalsmelodie: Pascal Merciers Künstlermelodram "Lea"
Schreibt er Frauenbücher für Männer oder Männerbücher für Frauen? Peter Bieri alias Pascal Mercier legt jetzt eine neue Novelle vor, in der alles drin ist: Herz, Schmerz und viel Schicksal - ein echter Schmachtfetzen.
Frauen, die lesen, gelten als gefährlich. Iris Berben wollte ihr Leben ändern, nachdem sie "Nachtzug nach Lissabon" verschlungen hatte, und ähnlich erging es 1,5 Millionen anderen Lesern und vor allem Leserinnen. Pascal Mercier, als Philosophieprofessor und Schweizer auch unter dem redlichen Namen Peter Bieri bekannt, komponiert barocken Weltekel, romantischen Weltschmerz und zeitgenössisch "gewaltlose Stärke" zu aufwühlenden Schicksalssinfonien. Mensch, werde wesentlich, sagt der Vordenker der Willensfreiheit gegen die Hirnforschung, lass ab von eitlem Tand, Geld- und Ruhmbegier und bedenke: Was die Erfolgreichen, Selbstsicheren Glück nennen, ist fadenscheinig und nur geliehen. Dem Manne ziemt es, Verantwortung zu übernehmen, und wenn er strauchelt, so bleibt er doch gerechtfertigt, solange er sanft gekämpft und tapfer gelitten hat.
Schreibt Mercier Frauenliteratur für Männer oder Männergeschichten für Frauen? Das Fragezeichen ist jedenfalls sein Markenzeichen, die krisenhafte Selbsterkenntnis und Umkehr älterer Männer sind sein Erfolgsrezept. Erfolgreiche Sprachwissenschaftler ("Perlmanns Schweigen"), erfolglose Künstler ("Der Klavierstimmer"), ausgebrannte Lehrer ("Nachtzug nach Lissabon"): Alle werden plötzlich und schmerzhaft vom Anhauch radikaler Selbstzweifel getroffen, aus der "natürlichen Selbstverständlichkeit des Lebens" heraus- und hineingerissen in unerhörte Abenteuer der Seele, Dramen von Verbrechen und Erleuchtung, Schuld und Sühne.
"Plötzlich und mit tückischer Lautlosigkeit öffnet sich eine Falltür", heißt es auch in "Lea", Merciers neuem Roman, "wir fallen ins Bodenlose, und alles, was war, wird zur Fata Morgana." Mercier reiht seine alten Motive wie an einer Perlenschnur auf, und keines tanzt vorwitzig aus der Reihe. "Lea" ist eine spätromantische Künstlernovelle mit allem Drum und Dran: Genie und Wahnsinn, Liebe und Verrat, Raserei und Selbstzerstörung, hübsch übersichtlich geordnet. Auf der einen Seite die Väter, stark im Labor und Büro, Versager in der Liebe und in der "Leidenschaft des Verstehens"; am weiblichen Wärmepol: Töchter, Mütter, Frauen, beseelt, nachdenklich, unglücklich. Kühle Vernunft steht gegen künstlerische Ekstase, Schach- gegen Geigenspiel, Biokybernetik gegen Hingabe und Schmerz, Leben und Tod.
Der erfolgreiche Biokybernetiker Martijn van Vliet will seiner vernachlässigten Tochter Lea den Himmel voller Geigen hängen und vergeigt dabei alles: Karriere, Ruf, Leas und sein eigenes Leben. Lea erwachte mit acht Jahren vom Mädchen zur eigenwilligen Frau, als sie im Berner Bahnhof eine Straßenmusikantin Bachs Violinpartita in E-Dur spielen hörte. Da ist es um sie geschehen. Lea, die Heilige und "Hohepriesterin" der Musik, will einen "Dom aus Klarheit und nachtschwarzem Azur", eine "unvergleichliche Kathedrale aus sakralen Tönen" erbauen, die "heilige Messe der gestrichenen Töne" zelebrieren.
Papa, geschieden und schuldbewusst, würde ihr gern dabei helfen, reißt aber mit seiner Fürsorglichkeit, Angst und Eifersucht den herrlichen Sakralbau immer wieder ein. Lea wird immer störrischer und seltsamer, erwählt sich gegen den Willen des Vaters Marie Pasteur (charismatisch wie Marie Curie und Louis Pasteur zusammen) zur Lehrerin und den affigen alten Franzosen David zum Liebhaber. Wie im Tennis einst Vater Graf und Steffi, so entfremden sich van Vliet und "Fräulein Bach" auf langen Tourneen. Als Lea unter der "Tyrannei ihrer Begabung" zusammenbricht, sieht der Vater seine Chance gekommen: In der Hoffnung, die Tochter mit der teuersten Geige der Welt, einer Guarneri del Gesù, für sich und die Musik zurückzugewinnen, unterschlägt er Forschungsgelder und fährt nach Cremona. Die Folie à deux zwischen Vater und Wunderkind kann nur in einer Tragödie enden. Lea macht aus der Wundergeige und Vaters Seelenfrieden Kleinholz.
Dass es so kommen wird, steht von vornherein fest. Mercier spart weder an düster-ahnungsvollen Prophezeiungen noch an den passenden Fragen: "Was hatte er falsch gemacht? Was musste er sich vorwerfen? Falsches Tun? Falsches Empfinden?" Die Antworten sind vorhersehbar, die Klischees bekannt; aber immerhin ist "Lea" druckvoll erzählt und solide gebaut. Van Vliet erzählt seine traurige Geschichte einer Zufallsbekanntschaft im Provence-Urlaub. Auf der Fahrt in die Heimatstadt Bern entdeckt der Zuhörer, ein posttraumatisch zitternder Starchirurg, in der Schicksalssinfonie des Fremden seine eigene; bald beginnen die Männerfreunde einander scheue Zärtlichkeiten, Wunden und Tränen zu zeigen.
Mercier geht verschwenderisch um mit Adjektiven wie "sakral", "geheimnis-" und vor allem "seelenvoll". Es leuchtet nicht ganz ein, warum sein Biokybernetiker den Lackaffen David für Wörter wie "sublime" tadelt, wo er doch selber "hallucinant" verwendet und immer ins Französische, Italienische und Kursive fällt, wo es um Delikates oder Schicksalhaftes geht, was sich auf deutsch kitschig anhören würde. So geht die "geheimnisvolle Violinprinzessin" den langen "entsagungsvollen Weg durch die Welt der Töne in einem verzehrenden Fieber" bis zum bittersüßen Ende. "Lea" ist ein Schmachtfetzen erster Güte, auf kostbar getrimmt von der altarmenischen Grabinschrift des Mottos bis zu den Chintz-Orgien Leas. Mercier zitiert Dichter wie Auden und Whitman, tapeziert seine Provence mit Van-Gogh-Bildern und französischen Autorenfilmen; Lea hat er nach dem Ebenbild von Emmanuelle Béart in "Ein Herz im Winter" gemalt.
Fremd und schemenhaft bleibt uns die seelenvolle "Charakterfee" trotzdem. Der Erzähler vergleicht die späte Lea in ihrer roboterhaften "sakralen Sprödheit" mit einer Porzellanfigur vor dem Zerspringen; sie ist eher ein Spielball alternder Männer. "Wo stünde ich heute, wenn ich mich nicht der ungeheuren Herausforderung durch Leas Begabung gegenübergesehen hätte, der ich in keiner Weise gewachsen war?", fragt van Vliet. Er stünde vermutlich noch mitten im Leben und müsste nicht vor den Sublimen und Arroganten den plumpen Holländer aus dem Berner Viertel Bümpliz spielen - und Peter Bieri nicht Pascal Mercier, den braven Berner im Spitzenjabot des französischen Philosophen.
Im "Nachtzug nach Lissabon" entgleiste ein Lehrer; diesmal holt Mercier - weniger philosophisch, dafür eintöniger, pathetischer orgelnd - auf die alte Künstlertragödie aus dem Geigenkasten. Wäre es nur dabei geblieben!
MARTIN HALTER
Pascal Mercier: "Lea". Novelle. Hanser Verlag, München 2007. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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"Perfekt gebaut, spannend, unterhaltsam und rätselhaft genug, um im Gedächtnis zu bleiben." Ditta Rudle, Buchkultur, August/September 07
"Eine gute Novelle verschlingt man in einem Zug. "Lea" schaffen Sie in einer Nacht." Brigitte, 09.05.07
"Ein beeindruckender Roman über die Gewalt der Gefühle und die Fremdheit der Menschen untereinander." ZDF Aspekte, 04.05.07
"Eine spätromantische Künstlernovelle mit allem Drum und Dran: Genie und Wahnsinn, Liebe und Verrat, Raserei und Selbstzerstörung, hübsch übersichtlich geordnet." Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.05.07
"Ein Buch, das so viele Bilder in sich trägt, dass man es einfach verfilmen muss, und Sätze, dass man weinen möchte, weil sie so schön sind." Christian Jürgens und Süleyman Kayaalp, Bücher, 4/07
"Perfekt gebaut, spannend, unterhaltsam und rätselhaft genug, um im Gedächtnis zu bleiben." -- Buchkultur
"Ein Buch, das so viele Bilder in sich trägt, dass man es einfach verfilmen muss, und Sätze, dass man weinen möchte, weil sie so schön sind." -- Bücher