Das Buch beschreibt, wie Mythen und Rituale den indischen Alltag prägen und zu spirituellen Erfahrungen anleiten. Darüber hinaus wird deutlich, wie Rituale in neuer Weise Bedeutung für unsere Lebenspraxis gewinnen können: Sie ermöglichen Kreativität, schaffen Abstand von starren Alltagszwängen und ermutigen zu individueller Freiheit in sozialen Bindungen. In unübersichtlichen modernen Lebenswelten können Rituale Halt geben und neue Perspektiven für eine bewusste Lebensgestaltung eröffnen.
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Vom Umgang mit dem Heiligen in modernen Lebenswelten: Zwei Bücher gehen recht verschiedene Wege, um ein Bild von Religion und Spiritualität in Indien zu entwerfen.
Geht es um Indien, so haben es die Deutschen gerne esoterisch und spirituell. Unfreiwillige Wegbereiter dieses romantisierenden Indienbildes, das meist soziale, politische und ökonomische Realitäten ausblendet, waren durchaus nüchterne britische Reiseberichte des achtzehnten Jahrhunderts, die von deutschen Übersetzern aber heftig geschönt wurden. So sah Johann Gottfried Herder, der diese Literatur kannte, in Indien die "Kindertage der Menschheit" verwirklicht, wo sich Religion, Poesie und Wissenschaft zu einer Einheit verbinden. Dieses verklärende Bild wirkt bis heute nach, wie auch das Buch von Regina und Michael von Brück über Religion und Spiritualität in Indien belegt.
Der Münchner Professor für Religionswissenschaft und seine Frau, die als freie Autorin und Übersetzerin tätig ist, bereisen Indien seit Jahrzehnten und suchen dort oft den Gnanananda Ashram, eine Art religiöse Herberge, auf, um an Ritualen des spirituellen Meisters Swami Nityananda Giri teilzunehmen. Aus diesen Begegnungen ist ihr Buch erwachsen. Es handelt sich um eine Mischung aus Erfahrungsberichten, Gesprächen mit dem Guru und Darstellungen von Ritualen. Der Schwerpunkt liegt auf dem hinduistischen Gottesdienst, namentlich der Puja, und lebenszyklischen Ritualen rund um Geburt, Initiation, Hochzeit und Tod. Die Quellen sind vor allem Übersetzungen klassischer Sanskrittexte und eigene Beobachtungen. Eingewoben sind Betrachtungen zu wichtigen Gottheiten und den klassischen Lebenszielen eines Hindu.
Die Autoren möchten vor allem verdeutlichen, wie Rituale gerade in unübersichtlichen modernen Lebenswelten Halt geben können. Der Blick auf die indische, vor allem hinduistische Kultur soll zeigen, dass Rituale keineswegs verstaubte oder unglaubwürdig gewordene Überlieferungen sind, sondern sich mit ihnen die Entfaltung von Kreativität und spirituelle Erfahrungen verknüpfen lassen.
Neuere Theorien zur Ritualforschung, bei denen durchaus auch negative Effekte von Ritualpraktiken in den Blick kommen und Aspekte wie Handlungsmacht, Performativität, Reflexivität oder Struktur hervorgehoben werden, beziehen die Autoren nicht ein. Sie verlassen sich überwiegend auf das, was sie aus eigenen Interpretationen oder denen des Gurus beziehen. Das Ganze wirkt bisweilen, als seien sie auf das Wesen von Ritualen aus. Womit sie in der Tradition älterer Religionswissenschaftler wie Mircea Eliade, Gustav Mensching oder Friedrich Heiler stehen, die eine Religion hinter den einzelnen Religionen vermuteten, die aufzudecken dem Religionswissenschaftler obliegt. Und sie stehen in der Tradition eines Indienbildes, das selbst die gelebte Religiosität eher aus mythologischen und normativen Schriften denn aus der religiösen Praxis zu verstehen sucht.
Anders nähert sich der britische, in Indien ansässige Reiseschriftsteller und Historiker William Dalrymple der "Spiritualität" Indiens. Seine Bücher, etwa über den Untergang Delhis im Jahre 1857 ("The Last Mughal") oder über die Liebesbeziehung des britischen Beamten James Kirckpatrick zu einer indischen Prinzessin in Hyderabad ("White Mughals. Love and Betrayal in Eigteenth-century India"), sind in Indien und England äußerst populär. Nun erscheint zum ersten Mal ein Buch dieses Autors auf Deutsch, wobei die schöne Übersetzung von Matthias Fienbork bisweilen einer indienkundlichen Beratung bedurft hätte. Dalrymples Buch, monatelang in Indien auf dem ersten Platz der Bestsellerliste, befasst sich mit neun Menschen, deren Leben durch religiöse Erfahrungen, aber auch durch soziale und politische Turbulenzen geprägt wurde.
Da ist die jainistische Nonne, die sich, als sie an Tuberkulose erkrankt, zu Tode fastet, aber sich vorher noch modernsten medizinischen Untersuchungen unterzieht. Da erzählt ein Brunnenbauer, der am Wochenende auch als Gefängniswärter arbeitet, wie er drei Monate im Jahr in Tranceritualen zum Gott Vishnu wird und damit in den Dörfern Südindiens selbst als Kastenloser höchstes Ansehen erlangt. Da ist die "Gottesdienerin" (Devadasi), die als junges Mädchen von ihrer Mutter aus purer Not zu einer Tempelprostituierten gemacht wurde, zeitlebens darunter leidet, aber dennoch ihren Töchtern das gleiche Schicksal zumutet. Oder es berichtet ein tibetischer Mönch, wie er nach dem Einfall der Chinesen nach Tibet sein Gelübde aufgab, um Tibet zu verteidigen, dann aber nach Indien floh, wo er in einer Spezialeinheit der Indischen Armee im indisch-pakistanischen Krieg 1971 eingesetzt wurde; weil er dabei Menschen tötete, will er nun nichts anderes, als besonders gute buddhistische Gebetsfahnen herstellen, um so möglichst viel seiner Schuld zu tilgen. Und im indo-pakistanischen Konflikt wurzelt auch das Ungemach einer gottergebenen Sufi-Mystikerin, die es von Bangladesh in den Sindh (Pakistan) verschlug, wo sie sich unvermutet der Angriffe der Wahabiten und Taliban zu erwehren hat, denen religiös tätige Frauen ein Dorn im Auge sind, zumal wenn sie öffentlich Lieder singen.
Dalrymple verknüpft Einzelschicksale mit der großen Politik und dem Weltgeschehen. Er zeigt auf, wie heutzutage selbst extreme und weit voneinander entfernt angesiedelte Lebenssituationen transkulturell miteinander verwoben sind. Der Tantriker, dessen Bettelschale eine menschliche Schädeldecke ist und dessen in den Vereinigten Staaten als Arzt arbeitender Sohn sich seines Vaters schämt, hat dabei genauso seinen Auftritt wie der Epensänger, der auf dem angesehenen Literaturfestival von Jaipur auftritt - womit auch auf die beeindruckenden mündlichen Traditionen Indiens aufmerksam gemacht wird.
Bei dieser Technik bleiben Widersprüche nicht aus. Dalrymple balanciert zwischen einer am Geschehen orientierten Ethnographie und literarischer Aufbereitung, so dass sich der Leser fragt, wie authentisch eigentlich die Geschichten sind. Die narrativen Schlaglichter beruhen auf Interviews, die mit Hilfe von Dolmetschern in acht verschiedenen indischen Sprachen geführt wurden. Da verwundert es, wenn die Lebensberichte sprachlich irgendwie alle gleich klingen. Originale Zitate sind es kaum, eher Dalrymples Zusammenfassungen. Und doch klingt in den Biographien der Einzelne durch. Dalrymple hat sich für seine Gesprächspartner viel Zeit genommen und stellt sie weder als vorbildliche Heilsuchende noch als wirre Fanatiker dar. Seine Protagonisten sind schicksalhaft getriebene Menschen, die sich auf die Suche nach Gott, Glück und sich selbst begeben haben.
Es zeigt sich so, wie bei den Reisebeschreibungen des achtzehnten Jahrhunderts, im Vergleich beider Bücher erneut ein eher realistischer ("britischer") und ein eher idealisierender ("deutscher") Zugang zu Indien. Dalrymples Werk trägt im Original den Untertitel "In Search of the Sacred in Modern India". In der deutschen Übersetzung wird daraus bezeichnenderweise: "Unterwegs ins Herz Indiens".
AXEL MICHAELS
Regina und Michael von Brück: "Leben in der Kraft der Rituale". Religion und Spiritualität in Indien.
Verlag C.H. Beck, München 2011. 304 S., Abb., geb., 22,95 [Euro].
Wiliam Dalrymple: "Neun Leben". Unterwegs ins Herz Indiens.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Berlin Verlag, Berlin 2011. 336 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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