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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wir müssen lernen, ich zu sein, und scheitern: Rolf Lapperts Roman "Leben ist ein unregelmäßiges Verb" mäandert durch vierzig Jahre und um die halbe Welt
Natürlich ist leben kein unregelmäßiges Verb, sondern wird schwach und regelmäßig konjugiert. Aber das Leben im Irregulären und Konjunktivischen ist, wenn auch mehr im poetischen als im grammatischen Sinne, Material und Modus allen Erzählens, und als solches kommt es auch in den Romanen des Schweizer Autors Rolf Lappert in Hülle und Fülle vor. Mächtig ausladende, Welt und Epochen umspannende Familiendramen, eine schier endlose Abfolge von Unglücksfällen, Geschwisterzwist, schmerzlichen Trennungen und wunderbaren Errettungen, eingebettet in Heimweh und große Menschheitsfragen wie Umweltzerstörung und Tierwohl: Lappert greift mit großem epischen Schwung hinein ins volle Menschenleben. Nicht umsonst vergleicht man ihn gern mit John Irving.
"Leben ist ein unregelmäßiges Verb" erinnert aber auch ein wenig an Hanya Yanagiharas Roman "Ein wenig Leben": In diesen beiden ausufernden Werken geht es jeweils auf fast tausend Seiten um Freundschaft und Erwachsenwerden, Verwundung und Heilung von vier verlorenen Seelen. Allerdings erzählt Yanagihara von den Leiden schwuler New Yorker Intellektueller, während bei Lappert die Stadt des Teufels ist und Schreiben mehr Lebensform als Kunst. Nur auf dem Land, unter Kindern jeden Alters, gibt es noch eine Ahnung von Unschuld, Ruhe, utopischer Zuversicht; draußen dräut das Böse. So erzählten es die "Alten", und so erleben es dann auch vier Zwölfjährige, die nach der behördlich verfügten Schließung einer Hippiekommune namens Winnipeg in der niedersächsischen Pampa unsanft ins Leben geworfen werden. Winnipeg war ihre kleine heile Welt: Die Alten lebten in Eintracht mit der Natur und bestellten nach Art gewisser patriarchalischer Sekten die Felder mit Pferden. Die Kinder kannten weder Schule noch Fernseher und natürlich auch keinen Zivilisationsmüll wie Tiefkühlpizza, Regenschirm oder Gänsefüßchen. Dafür tollten sie viel mit den Tieren draußen in der freien Natur herum und genossen beim Homeschooling Graswurzel-Pädagogik: Konrad (die Verwandtschaftsbeziehungen in der Kommune bleiben vage) las den Kindern große Werke der Weltliteratur vor, "Robinson Crusoe" und "Huckleberry Finn", aber auch Dickens, Tolstoi und sogar Proust. Kein Wunder, dass die Kinder ihr Wolkenkuckucksheim irgendwann für einen Roman hielten und alle mehr oder weniger zu schreiben begannen.
Als die Kommune 1980 aufgehoben wurde, kamen sie bei Verwandten, Pflegeeltern oder im Internat unter. Die Trennung von der Großfamilie, die Individuation der kollektiven Urhorde war der Sündenfall im Paradies. Oder wie die vier im gemeinsamen "Logbuch" proklamieren: "Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind. Zu viert sind wir eine Geschichte mit einem Anfang und einem im Dachbodendunkel geduldig erwarteten Ende. Einzeln sind wir Wörter, unbegreifliche Sätze. Was uns ausmacht ist das Zurücklassen, das neu Anfangen, das Zurechtfinden und Verlorengehen. Wir müssen lernen, ich zu sein, und scheitern." Das ist schön formuliert und umschreibt auch Lapperts Erzählkonzept: Über vierzig Jahre hinweg, an wechselnden Orten (Deutschland, Holland, Australien, Amerika, Indien), mit einem ganzen Strauß von Erzählformaten (Dialog, Tagebuch, Romanentwurf, Minidrama, journalistische Interviews), folgt er den Schicksalen seiner Romankinder. Und leider mit gleicher, fast ungerichteter Aufmerksamkeit und Ausführlichkeit auch den Leben einer Vielzahl von Onkeln und Enkeln, Freunden, Lehrern, Verlegern, Geliebten.
Staunend sieht Lappert seinen altklugen, "naseweisen" Kindern über die Schulter, wie sie ratlos und staunend vor den Herausforderungen eines "normalen" Lebens stehen und, jedenfalls nach landläufigen Maßstäben, scheitern. Leander, ein Träumer mit autistischen Zügen, wird von einer Helikopter-Tante und einem Psychotherapeuten bemuttert; sein Erinnerungsbuch "Geraubte Kindheit" wird ein Erfolg, sein Leben eher nicht. Frida gerät unter die Fittiche ihrer kalten, strengen Großmutter; für das aufsässige Mädchen eine Katastrophe wie einst Fräulein Rottenmeier für Heidi. Auch Ringo erlebt seine "Befreiung" als Gefangenschaft: Eben noch als Held gefeiert, wird er wenig später von den Medien verteufelt; das macht ihn psychisch labil und fast zum Dschungelcamp-Kandidaten. Linus schließlich fingiert nach seiner Vertreibung aus Winnipeg einen Selbstmord. Heillos herumirrend, wird er später den Hühnerstall der Kommune aus der Erinnerung im Maßstab eins zu fünf nachbauen.
Lapperts Figuren haben großes Vertrauen in die Präge- und Bindungskraft der klassischen Hochkultur. Aber der Bildungsroman vom gemeinsamen Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen funktioniert heute nicht mehr: Leander, der Möchtegernschriftsteller, wird von Creative-Writing-Bubis, Schnösel-Lektoren und Kritikern gemobbt, Linus' Bücher werden als "Berichterstattung ohne eigene Stimme" gerügt, nur Frida schafft nach einer langen Durststrecke als Lyrikerin den Durchbruch zur Prosaautorin.
Lappert hatte seinen ersten Erfolg 2008 mit dem Roman "Nach Hause schwimmen" über einen tiefmelancholischen jungen Mann, der seinen Platz in der Welt sucht; seither gilt er weithin als Kultautor. Seine Bücher sprechen aus, was viele denken und fühlen: Wir in Winnipeg oder sonstwo abseits der schlechten Welt, ihrem Betrieb entfremdet, aber vertraut mit der Natur und den Klassikern, halten gegen alle Widrigkeiten und Widerstände zusammen. Lappert beschreibt auf diese Weise Probleme der Jungen mit den Mitteln der Alten: langsame, poetisch ausschweifende Sätze, gut geplante, selten überraschende Metaphern, anachronistische Wörter wie "fürwahr", "derweil", "inniglich" oder auch mal "bezaubernde Mimin". Lappert erzählt oft ziellos, aber immer sorgfältig und achtsam. Er beschreibt und erklärt alles, was ihm begegnet. Er baut verlorene Kindheitswelten in kleinerem Maßstab wieder auf, und das macht seinen Roman bei aller epischen Totalität dann doch ermüdend. Romane, schimpft ein alter holländischer Romanautor im Roman (es wimmelt darin von mit sich hadernden Schriftstellern), ödeten ihn nur noch an: "Dieses Draufloserfinden. Dieser Einfallsreichtum und dessen Zurschaustellung. Dieser Fleiß beim Bündeln roter Fäden. Diese ganze elende Epik."
Das Festhalten des Autors an den Idealen der alten Hippies und Tolstoianer ist aller Ehren wert. Aber das Leben, wie Rolf Lappert es in diesem Roman beschreibt, ist doch ein ziemlich langer, träge mäandernder Fluss, ein endloser Strom von Schwemm- und Treibgut, der am Ende wohl eher in die "Kapelle der beleidigten Seelen" als ins Meer großer Literatur führt.
MARTIN HALTER
Rolf Lappert: "Leben ist
ein unregelmäßiges Verb". Roman.
Hanser Verlag, München 2020. 976 S., geb., 32,- [Euro].
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"Das alles ist sprachlich wie formal gekonnt erzählt, die vier Biografien werden verfolgt und in Rückblenden das Kommunenleben dargestellt ... - so wie das heute die wahren Könner ihres Faches eben tun." Peer Teuwsen, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.20
"Lappert ist ein Epiker, der seine Geschöpfe mit zärtlicher Sorge begleitet. Ein Epiker ganz großen Formats." Martin Ebel, Süddeutsche Zeitung, 26.08.20