Rolf Lapperts großer Roman über Freundschaft, Verlust und den Trost der Erinnerung.
Eine Aussteiger-Kommune auf dem Land, 1980: Die Behörden entdecken vier Kinder, die versteckt vor der Welt aufgewachsen sind. Ihre Schicksale werden auf Schlagzeilen reduziert, doch Frida, Ringo, Leander und Linus sind vor allem Menschen mit eigenen Geschichten. Aus der Isolation in die Wirklichkeit geworfen, blicken sie staunend um sich. Und leben die unterschiedlichsten Leben an zahllosen Orten: In Pflegefamilien und Internaten, auf Inseln und Bergen, als Hassende und Liebende. Wie finden sich Verlorene in der Welt zurecht? In seinem ganz eigenen zärtlich-lakonischen Ton erzählt Rolf Lappert in diesem großen Roman wie man sich von seiner Kindheit entfernt, ohne sie jemals hinter sich zu lassen.
Eine Aussteiger-Kommune auf dem Land, 1980: Die Behörden entdecken vier Kinder, die versteckt vor der Welt aufgewachsen sind. Ihre Schicksale werden auf Schlagzeilen reduziert, doch Frida, Ringo, Leander und Linus sind vor allem Menschen mit eigenen Geschichten. Aus der Isolation in die Wirklichkeit geworfen, blicken sie staunend um sich. Und leben die unterschiedlichsten Leben an zahllosen Orten: In Pflegefamilien und Internaten, auf Inseln und Bergen, als Hassende und Liebende. Wie finden sich Verlorene in der Welt zurecht? In seinem ganz eigenen zärtlich-lakonischen Ton erzählt Rolf Lappert in diesem großen Roman wie man sich von seiner Kindheit entfernt, ohne sie jemals hinter sich zu lassen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Martin Halter hat großen Respekt vor Rolf Lapperts epischer Erzählweise. Allein die vielen anachronistischen Wörter und Metaphern im Text und der langsam mäandernde Weg von vier Ex-Hippiekommunarden ins "echte" Leben, den Lappert à la John Irving beschreibt, ermüden den Rezensenten letztlich doch sehr. Wie liebevoll, detailgenau und vielseitig, mit Formaten wie Tagebuch, Minidrama, Interviews, der Autor seinen Figuren folgt, findet Halter aber dennoch besonders.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2020Vier Kälbchen
Rolf Lapperts „Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb“
„Leben“ ist, anders als der Titel behauptet, ein regelmäßiges Verb, aber der Autor meint es nicht grammatisch, und natürlich ist es ein schöner Titel. Auf ihn folgen fast 1000 Seiten, aber bei guter Lektüre, und das ist hier der Fall, verliert man keine Zeit, sondern gewinnt sie, und noch ein paar Leben dazu.
Es sind die Leben von Frida, Leander, Linus und Ringo. Sie wachsen in den 1970er-Jahren im „Kampstedter Bruch“ auf, einer von der Außenwelt abgeschotteten Agrarkommune irgendwo in Niedersachsen, im Rhythmus der Natur, eingespannt in die Landarbeit, behördlich nicht gemeldet, unbeschult. Einer der „Alten“ (die Zuordnung der Eltern ist mehr oder weniger unklar) liest ihnen abends die großen Werke der Weltliteratur vor, von „Don Quijote“ bis „Moby Dick“, ab und zu weht der Wind ein Zeitungsblatt heran, mit Meldungen über Flugzeuge, Fernsehen und Kriege, die ihnen noch fantastischer vorkommen als die Fiktion.
Die Welt draußen ist böse, trichtert man ihnen ein, aber in diese Welt werden sie hineingerissen, als die Kommune entdeckt und aufgelöst wird. Die Kinder – im Jahr 1980, als der Roman beginnt, sind sie etwa zwölf Jahre alt – werden getrennt und auf Pflegefamilien verteilt. Die Medien preisen die Aktion als „Befreiung“, den Kindern erscheint es eher, als habe man sie „ins Leere geworfen wie einen Sack mit neugeborenen Katzen in einen Fluss“.
Aus dem Wir, das sie in einer Art kollektivem Tagebuch festgehalten haben, werden isolierte Ichs, die sich in einer unverständlichen und verständnislosen Umwelt durchschlagen müssen. Davon, von den Jahrzehnten der Anpassungsversuche und Ausbrüche, des Ankommen- und Verschwindenwollens handelt der Roman.
Die unstete Frida, das Mädchen, will Schriftstellerin werden, Leander, ein sensibler Junge mit autistischen Zügen, durchleidet verschiedene, teilweise satirisch geschilderte Bildungsanstalten, bis er Beerbaum in die Hände fällt, einem gescheiterten Theatermacher, der zufällig auf das Tagebuch der „Kommunekinder“ gestoßen ist und damit einen literarischen Coup landen will.
Wie der unwillige Leander zum Schriftstellerdarsteller gestylt wird, was er in verschiedenen Schreibklausen erlebt, das ist köstlich und schrecklich zu lesen und nährt sich aus den Erfahrungen und Empfindungen des Autors. Ringo, der dritte, gerät dreimal in den Fokus der Medienöffentlichkeit: Erst trägt er – volltrunken, deshalb angstfrei – acht Greise aus einem brennenden Altersheim. Ein paar Jahre später wird er, aus Fahrlässigkeit, schuldig am Tod zweier Menschen, schließlich rettet er einen Hund aus einem vollaufenden Gully. Held, Schandfleck, Held. Noch radikaler Linus schließlich, der sich seinen Namen von der „Peanuts“-Figur mit der Schmusedecke geholt hat. Er täuscht einen Selbstmord vor, damit er unbelastet von der Vergangenheit ein neues Leben führen kann: unerkannt, unauffällig, unaufgeregt, „ein Leben im Mittelfeld der möglichen Gemütsverfassungen“.
In Rolf Lapperts Roman „Auf den Inseln des letzten Lichts“ von 2010 gab es die Szene einer Kälbchentotgeburt: „tot in seiner Fruchtblase, klein wie eine Katze, hell, beinahe durchsichtig, die Augen geschlossen, friedlich, wie selig darüber, nie in diese Welt hineingeboren zu werden.“ Die vier Helden des neuen Roman sind vier Kälbchen, die mit offenen Augen durch eine Welt gehen müssen, die sie nicht gewählt haben. In der es ihnen nicht gelingt, Bindungen einzugehen, Fuß in der Arbeitswelt zu fassen, irgendwo heimisch zu werden.
In ihrem Tagebuch hatten sie im Präsens eine Welt ewiger Gegenwart geschildert, jetzt werden sie mit ständig wechselnden Situationen und Herausforderungen konfrontiert. Sie erleben individuell, was man soziologisch „Modernisierungsschock“ nennt, und der Autor, erklärter Vegetarier und Tierrechtsverteidiger, ist da ganz auf ihrer Seite.
Er leiht uns die Augen der vier Kälbchen, zwingt uns, mit ihnen das uns Vertraute als fremd zu erleben, ein literarisches Verfahren, das seit Montesquieus „Persischen Briefen“ immer wieder funktioniert hat. Das tut es auch hier. Aber Rolf Lappert ist kein Ideologe, auch kein strenger Antinatalist in der Schopenhauer-Nachfolge, sondern ein Epiker, der seine Geschöpfe mit zärtlicher Sorge begleitet.
Ein Epiker ganz großen Formats. Denn natürlich muss man noch einmal über die Länge sprechen. Fast tausend Seiten über vier (nach unseren Kategorien) scheiternde Lebensentwürfe. Rolf Lappert schildert sie makro- wie mikroskopisch. Er entwirft riesengroße Bögen, wechselt Perspektiven und Formen, vom Bericht an eine Journalistin zum Romanexposé, vom kollektiven Tagebuch zum fiktiven Dialog.
Neben den vier Protagonisten bietet er ein reiches Tableau an Nebenfiguren auf, im Vorder-, Seiten- oder Hintergrund. Hier wird sein Stil manchmal quasi durchsichtig, wenn er, wie beim Literaturimpresario Beerbaum, zugleich Innen- und Außensicht zeigt: Man fühlt sich ein, ohne den manipulativen, egozentrischen, mephistophelischen und zugleich lächerlichen Charakter dieses Typen zu verkennen. Und eben auch nicht, dass es sich um einen (Zeit-)Typus handelt.
Die Frage, ob man all das wissen muss, was über Episoden, Eskapaden und Nebenfiguren in unzähligen brillanten Miniaturen ausgeführt wird, kommt gar nicht auf. Man sieht sich in eine literarische Welt entführt, die gerade die kleinsten Details glaubhaft machen, wenn etwa in einem nachgeschobenen Teilsatz erzählt wird, dass über dem Bett der Prostituierten, die in ein paar Zeilen an uns vorbeigleitet, ein Bild Konrad Adenauers hängt.
„Epischen Überschuss“ hat Daniel Kehlmann solche Details einmal genannt, Elemente, die für die Konstruktion des Werks nicht nötig sind und gerade seinen Reichtum ausmachen. Die ausmachen, dass man sich einem Autor anvertraut, ihm fast tausend Seiten lang folgt durch einen Raum, in dem das Zeitregime der Gegenwart nicht gilt und in dem leben tatsächlich ein unregelmäßiges Verb ist.
MARTIN EBEL
Rolf Lappert: Leben ist ein unregelmäßiges Verb. Roman. Hanser, München 2020. 974 S., 32 Euro.
Wir müssen über die Länge
reden: fast tausend Seiten über
vier scheiternde Lebensentwürfe
Über dem Bett der
Prostituierten hängt ein Bild
von Konrad Adenauer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Rolf Lapperts „Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb“
„Leben“ ist, anders als der Titel behauptet, ein regelmäßiges Verb, aber der Autor meint es nicht grammatisch, und natürlich ist es ein schöner Titel. Auf ihn folgen fast 1000 Seiten, aber bei guter Lektüre, und das ist hier der Fall, verliert man keine Zeit, sondern gewinnt sie, und noch ein paar Leben dazu.
Es sind die Leben von Frida, Leander, Linus und Ringo. Sie wachsen in den 1970er-Jahren im „Kampstedter Bruch“ auf, einer von der Außenwelt abgeschotteten Agrarkommune irgendwo in Niedersachsen, im Rhythmus der Natur, eingespannt in die Landarbeit, behördlich nicht gemeldet, unbeschult. Einer der „Alten“ (die Zuordnung der Eltern ist mehr oder weniger unklar) liest ihnen abends die großen Werke der Weltliteratur vor, von „Don Quijote“ bis „Moby Dick“, ab und zu weht der Wind ein Zeitungsblatt heran, mit Meldungen über Flugzeuge, Fernsehen und Kriege, die ihnen noch fantastischer vorkommen als die Fiktion.
Die Welt draußen ist böse, trichtert man ihnen ein, aber in diese Welt werden sie hineingerissen, als die Kommune entdeckt und aufgelöst wird. Die Kinder – im Jahr 1980, als der Roman beginnt, sind sie etwa zwölf Jahre alt – werden getrennt und auf Pflegefamilien verteilt. Die Medien preisen die Aktion als „Befreiung“, den Kindern erscheint es eher, als habe man sie „ins Leere geworfen wie einen Sack mit neugeborenen Katzen in einen Fluss“.
Aus dem Wir, das sie in einer Art kollektivem Tagebuch festgehalten haben, werden isolierte Ichs, die sich in einer unverständlichen und verständnislosen Umwelt durchschlagen müssen. Davon, von den Jahrzehnten der Anpassungsversuche und Ausbrüche, des Ankommen- und Verschwindenwollens handelt der Roman.
Die unstete Frida, das Mädchen, will Schriftstellerin werden, Leander, ein sensibler Junge mit autistischen Zügen, durchleidet verschiedene, teilweise satirisch geschilderte Bildungsanstalten, bis er Beerbaum in die Hände fällt, einem gescheiterten Theatermacher, der zufällig auf das Tagebuch der „Kommunekinder“ gestoßen ist und damit einen literarischen Coup landen will.
Wie der unwillige Leander zum Schriftstellerdarsteller gestylt wird, was er in verschiedenen Schreibklausen erlebt, das ist köstlich und schrecklich zu lesen und nährt sich aus den Erfahrungen und Empfindungen des Autors. Ringo, der dritte, gerät dreimal in den Fokus der Medienöffentlichkeit: Erst trägt er – volltrunken, deshalb angstfrei – acht Greise aus einem brennenden Altersheim. Ein paar Jahre später wird er, aus Fahrlässigkeit, schuldig am Tod zweier Menschen, schließlich rettet er einen Hund aus einem vollaufenden Gully. Held, Schandfleck, Held. Noch radikaler Linus schließlich, der sich seinen Namen von der „Peanuts“-Figur mit der Schmusedecke geholt hat. Er täuscht einen Selbstmord vor, damit er unbelastet von der Vergangenheit ein neues Leben führen kann: unerkannt, unauffällig, unaufgeregt, „ein Leben im Mittelfeld der möglichen Gemütsverfassungen“.
In Rolf Lapperts Roman „Auf den Inseln des letzten Lichts“ von 2010 gab es die Szene einer Kälbchentotgeburt: „tot in seiner Fruchtblase, klein wie eine Katze, hell, beinahe durchsichtig, die Augen geschlossen, friedlich, wie selig darüber, nie in diese Welt hineingeboren zu werden.“ Die vier Helden des neuen Roman sind vier Kälbchen, die mit offenen Augen durch eine Welt gehen müssen, die sie nicht gewählt haben. In der es ihnen nicht gelingt, Bindungen einzugehen, Fuß in der Arbeitswelt zu fassen, irgendwo heimisch zu werden.
In ihrem Tagebuch hatten sie im Präsens eine Welt ewiger Gegenwart geschildert, jetzt werden sie mit ständig wechselnden Situationen und Herausforderungen konfrontiert. Sie erleben individuell, was man soziologisch „Modernisierungsschock“ nennt, und der Autor, erklärter Vegetarier und Tierrechtsverteidiger, ist da ganz auf ihrer Seite.
Er leiht uns die Augen der vier Kälbchen, zwingt uns, mit ihnen das uns Vertraute als fremd zu erleben, ein literarisches Verfahren, das seit Montesquieus „Persischen Briefen“ immer wieder funktioniert hat. Das tut es auch hier. Aber Rolf Lappert ist kein Ideologe, auch kein strenger Antinatalist in der Schopenhauer-Nachfolge, sondern ein Epiker, der seine Geschöpfe mit zärtlicher Sorge begleitet.
Ein Epiker ganz großen Formats. Denn natürlich muss man noch einmal über die Länge sprechen. Fast tausend Seiten über vier (nach unseren Kategorien) scheiternde Lebensentwürfe. Rolf Lappert schildert sie makro- wie mikroskopisch. Er entwirft riesengroße Bögen, wechselt Perspektiven und Formen, vom Bericht an eine Journalistin zum Romanexposé, vom kollektiven Tagebuch zum fiktiven Dialog.
Neben den vier Protagonisten bietet er ein reiches Tableau an Nebenfiguren auf, im Vorder-, Seiten- oder Hintergrund. Hier wird sein Stil manchmal quasi durchsichtig, wenn er, wie beim Literaturimpresario Beerbaum, zugleich Innen- und Außensicht zeigt: Man fühlt sich ein, ohne den manipulativen, egozentrischen, mephistophelischen und zugleich lächerlichen Charakter dieses Typen zu verkennen. Und eben auch nicht, dass es sich um einen (Zeit-)Typus handelt.
Die Frage, ob man all das wissen muss, was über Episoden, Eskapaden und Nebenfiguren in unzähligen brillanten Miniaturen ausgeführt wird, kommt gar nicht auf. Man sieht sich in eine literarische Welt entführt, die gerade die kleinsten Details glaubhaft machen, wenn etwa in einem nachgeschobenen Teilsatz erzählt wird, dass über dem Bett der Prostituierten, die in ein paar Zeilen an uns vorbeigleitet, ein Bild Konrad Adenauers hängt.
„Epischen Überschuss“ hat Daniel Kehlmann solche Details einmal genannt, Elemente, die für die Konstruktion des Werks nicht nötig sind und gerade seinen Reichtum ausmachen. Die ausmachen, dass man sich einem Autor anvertraut, ihm fast tausend Seiten lang folgt durch einen Raum, in dem das Zeitregime der Gegenwart nicht gilt und in dem leben tatsächlich ein unregelmäßiges Verb ist.
MARTIN EBEL
Rolf Lappert: Leben ist ein unregelmäßiges Verb. Roman. Hanser, München 2020. 974 S., 32 Euro.
Wir müssen über die Länge
reden: fast tausend Seiten über
vier scheiternde Lebensentwürfe
Über dem Bett der
Prostituierten hängt ein Bild
von Konrad Adenauer
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2021Die Vereinzelung der Urhorde
Wir müssen lernen, ich zu sein, und scheitern: Rolf Lapperts Roman "Leben ist ein unregelmäßiges Verb" mäandert durch vierzig Jahre und um die halbe Welt
Natürlich ist leben kein unregelmäßiges Verb, sondern wird schwach und regelmäßig konjugiert. Aber das Leben im Irregulären und Konjunktivischen ist, wenn auch mehr im poetischen als im grammatischen Sinne, Material und Modus allen Erzählens, und als solches kommt es auch in den Romanen des Schweizer Autors Rolf Lappert in Hülle und Fülle vor. Mächtig ausladende, Welt und Epochen umspannende Familiendramen, eine schier endlose Abfolge von Unglücksfällen, Geschwisterzwist, schmerzlichen Trennungen und wunderbaren Errettungen, eingebettet in Heimweh und große Menschheitsfragen wie Umweltzerstörung und Tierwohl: Lappert greift mit großem epischen Schwung hinein ins volle Menschenleben. Nicht umsonst vergleicht man ihn gern mit John Irving.
"Leben ist ein unregelmäßiges Verb" erinnert aber auch ein wenig an Hanya Yanagiharas Roman "Ein wenig Leben": In diesen beiden ausufernden Werken geht es jeweils auf fast tausend Seiten um Freundschaft und Erwachsenwerden, Verwundung und Heilung von vier verlorenen Seelen. Allerdings erzählt Yanagihara von den Leiden schwuler New Yorker Intellektueller, während bei Lappert die Stadt des Teufels ist und Schreiben mehr Lebensform als Kunst. Nur auf dem Land, unter Kindern jeden Alters, gibt es noch eine Ahnung von Unschuld, Ruhe, utopischer Zuversicht; draußen dräut das Böse. So erzählten es die "Alten", und so erleben es dann auch vier Zwölfjährige, die nach der behördlich verfügten Schließung einer Hippiekommune namens Winnipeg in der niedersächsischen Pampa unsanft ins Leben geworfen werden. Winnipeg war ihre kleine heile Welt: Die Alten lebten in Eintracht mit der Natur und bestellten nach Art gewisser patriarchalischer Sekten die Felder mit Pferden. Die Kinder kannten weder Schule noch Fernseher und natürlich auch keinen Zivilisationsmüll wie Tiefkühlpizza, Regenschirm oder Gänsefüßchen. Dafür tollten sie viel mit den Tieren draußen in der freien Natur herum und genossen beim Homeschooling Graswurzel-Pädagogik: Konrad (die Verwandtschaftsbeziehungen in der Kommune bleiben vage) las den Kindern große Werke der Weltliteratur vor, "Robinson Crusoe" und "Huckleberry Finn", aber auch Dickens, Tolstoi und sogar Proust. Kein Wunder, dass die Kinder ihr Wolkenkuckucksheim irgendwann für einen Roman hielten und alle mehr oder weniger zu schreiben begannen.
Als die Kommune 1980 aufgehoben wurde, kamen sie bei Verwandten, Pflegeeltern oder im Internat unter. Die Trennung von der Großfamilie, die Individuation der kollektiven Urhorde war der Sündenfall im Paradies. Oder wie die vier im gemeinsamen "Logbuch" proklamieren: "Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind. Zu viert sind wir eine Geschichte mit einem Anfang und einem im Dachbodendunkel geduldig erwarteten Ende. Einzeln sind wir Wörter, unbegreifliche Sätze. Was uns ausmacht ist das Zurücklassen, das neu Anfangen, das Zurechtfinden und Verlorengehen. Wir müssen lernen, ich zu sein, und scheitern." Das ist schön formuliert und umschreibt auch Lapperts Erzählkonzept: Über vierzig Jahre hinweg, an wechselnden Orten (Deutschland, Holland, Australien, Amerika, Indien), mit einem ganzen Strauß von Erzählformaten (Dialog, Tagebuch, Romanentwurf, Minidrama, journalistische Interviews), folgt er den Schicksalen seiner Romankinder. Und leider mit gleicher, fast ungerichteter Aufmerksamkeit und Ausführlichkeit auch den Leben einer Vielzahl von Onkeln und Enkeln, Freunden, Lehrern, Verlegern, Geliebten.
Staunend sieht Lappert seinen altklugen, "naseweisen" Kindern über die Schulter, wie sie ratlos und staunend vor den Herausforderungen eines "normalen" Lebens stehen und, jedenfalls nach landläufigen Maßstäben, scheitern. Leander, ein Träumer mit autistischen Zügen, wird von einer Helikopter-Tante und einem Psychotherapeuten bemuttert; sein Erinnerungsbuch "Geraubte Kindheit" wird ein Erfolg, sein Leben eher nicht. Frida gerät unter die Fittiche ihrer kalten, strengen Großmutter; für das aufsässige Mädchen eine Katastrophe wie einst Fräulein Rottenmeier für Heidi. Auch Ringo erlebt seine "Befreiung" als Gefangenschaft: Eben noch als Held gefeiert, wird er wenig später von den Medien verteufelt; das macht ihn psychisch labil und fast zum Dschungelcamp-Kandidaten. Linus schließlich fingiert nach seiner Vertreibung aus Winnipeg einen Selbstmord. Heillos herumirrend, wird er später den Hühnerstall der Kommune aus der Erinnerung im Maßstab eins zu fünf nachbauen.
Lapperts Figuren haben großes Vertrauen in die Präge- und Bindungskraft der klassischen Hochkultur. Aber der Bildungsroman vom gemeinsamen Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen funktioniert heute nicht mehr: Leander, der Möchtegernschriftsteller, wird von Creative-Writing-Bubis, Schnösel-Lektoren und Kritikern gemobbt, Linus' Bücher werden als "Berichterstattung ohne eigene Stimme" gerügt, nur Frida schafft nach einer langen Durststrecke als Lyrikerin den Durchbruch zur Prosaautorin.
Lappert hatte seinen ersten Erfolg 2008 mit dem Roman "Nach Hause schwimmen" über einen tiefmelancholischen jungen Mann, der seinen Platz in der Welt sucht; seither gilt er weithin als Kultautor. Seine Bücher sprechen aus, was viele denken und fühlen: Wir in Winnipeg oder sonstwo abseits der schlechten Welt, ihrem Betrieb entfremdet, aber vertraut mit der Natur und den Klassikern, halten gegen alle Widrigkeiten und Widerstände zusammen. Lappert beschreibt auf diese Weise Probleme der Jungen mit den Mitteln der Alten: langsame, poetisch ausschweifende Sätze, gut geplante, selten überraschende Metaphern, anachronistische Wörter wie "fürwahr", "derweil", "inniglich" oder auch mal "bezaubernde Mimin". Lappert erzählt oft ziellos, aber immer sorgfältig und achtsam. Er beschreibt und erklärt alles, was ihm begegnet. Er baut verlorene Kindheitswelten in kleinerem Maßstab wieder auf, und das macht seinen Roman bei aller epischen Totalität dann doch ermüdend. Romane, schimpft ein alter holländischer Romanautor im Roman (es wimmelt darin von mit sich hadernden Schriftstellern), ödeten ihn nur noch an: "Dieses Draufloserfinden. Dieser Einfallsreichtum und dessen Zurschaustellung. Dieser Fleiß beim Bündeln roter Fäden. Diese ganze elende Epik."
Das Festhalten des Autors an den Idealen der alten Hippies und Tolstoianer ist aller Ehren wert. Aber das Leben, wie Rolf Lappert es in diesem Roman beschreibt, ist doch ein ziemlich langer, träge mäandernder Fluss, ein endloser Strom von Schwemm- und Treibgut, der am Ende wohl eher in die "Kapelle der beleidigten Seelen" als ins Meer großer Literatur führt.
MARTIN HALTER
Rolf Lappert: "Leben ist
ein unregelmäßiges Verb". Roman.
Hanser Verlag, München 2020. 976 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wir müssen lernen, ich zu sein, und scheitern: Rolf Lapperts Roman "Leben ist ein unregelmäßiges Verb" mäandert durch vierzig Jahre und um die halbe Welt
Natürlich ist leben kein unregelmäßiges Verb, sondern wird schwach und regelmäßig konjugiert. Aber das Leben im Irregulären und Konjunktivischen ist, wenn auch mehr im poetischen als im grammatischen Sinne, Material und Modus allen Erzählens, und als solches kommt es auch in den Romanen des Schweizer Autors Rolf Lappert in Hülle und Fülle vor. Mächtig ausladende, Welt und Epochen umspannende Familiendramen, eine schier endlose Abfolge von Unglücksfällen, Geschwisterzwist, schmerzlichen Trennungen und wunderbaren Errettungen, eingebettet in Heimweh und große Menschheitsfragen wie Umweltzerstörung und Tierwohl: Lappert greift mit großem epischen Schwung hinein ins volle Menschenleben. Nicht umsonst vergleicht man ihn gern mit John Irving.
"Leben ist ein unregelmäßiges Verb" erinnert aber auch ein wenig an Hanya Yanagiharas Roman "Ein wenig Leben": In diesen beiden ausufernden Werken geht es jeweils auf fast tausend Seiten um Freundschaft und Erwachsenwerden, Verwundung und Heilung von vier verlorenen Seelen. Allerdings erzählt Yanagihara von den Leiden schwuler New Yorker Intellektueller, während bei Lappert die Stadt des Teufels ist und Schreiben mehr Lebensform als Kunst. Nur auf dem Land, unter Kindern jeden Alters, gibt es noch eine Ahnung von Unschuld, Ruhe, utopischer Zuversicht; draußen dräut das Böse. So erzählten es die "Alten", und so erleben es dann auch vier Zwölfjährige, die nach der behördlich verfügten Schließung einer Hippiekommune namens Winnipeg in der niedersächsischen Pampa unsanft ins Leben geworfen werden. Winnipeg war ihre kleine heile Welt: Die Alten lebten in Eintracht mit der Natur und bestellten nach Art gewisser patriarchalischer Sekten die Felder mit Pferden. Die Kinder kannten weder Schule noch Fernseher und natürlich auch keinen Zivilisationsmüll wie Tiefkühlpizza, Regenschirm oder Gänsefüßchen. Dafür tollten sie viel mit den Tieren draußen in der freien Natur herum und genossen beim Homeschooling Graswurzel-Pädagogik: Konrad (die Verwandtschaftsbeziehungen in der Kommune bleiben vage) las den Kindern große Werke der Weltliteratur vor, "Robinson Crusoe" und "Huckleberry Finn", aber auch Dickens, Tolstoi und sogar Proust. Kein Wunder, dass die Kinder ihr Wolkenkuckucksheim irgendwann für einen Roman hielten und alle mehr oder weniger zu schreiben begannen.
Als die Kommune 1980 aufgehoben wurde, kamen sie bei Verwandten, Pflegeeltern oder im Internat unter. Die Trennung von der Großfamilie, die Individuation der kollektiven Urhorde war der Sündenfall im Paradies. Oder wie die vier im gemeinsamen "Logbuch" proklamieren: "Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind. Zu viert sind wir eine Geschichte mit einem Anfang und einem im Dachbodendunkel geduldig erwarteten Ende. Einzeln sind wir Wörter, unbegreifliche Sätze. Was uns ausmacht ist das Zurücklassen, das neu Anfangen, das Zurechtfinden und Verlorengehen. Wir müssen lernen, ich zu sein, und scheitern." Das ist schön formuliert und umschreibt auch Lapperts Erzählkonzept: Über vierzig Jahre hinweg, an wechselnden Orten (Deutschland, Holland, Australien, Amerika, Indien), mit einem ganzen Strauß von Erzählformaten (Dialog, Tagebuch, Romanentwurf, Minidrama, journalistische Interviews), folgt er den Schicksalen seiner Romankinder. Und leider mit gleicher, fast ungerichteter Aufmerksamkeit und Ausführlichkeit auch den Leben einer Vielzahl von Onkeln und Enkeln, Freunden, Lehrern, Verlegern, Geliebten.
Staunend sieht Lappert seinen altklugen, "naseweisen" Kindern über die Schulter, wie sie ratlos und staunend vor den Herausforderungen eines "normalen" Lebens stehen und, jedenfalls nach landläufigen Maßstäben, scheitern. Leander, ein Träumer mit autistischen Zügen, wird von einer Helikopter-Tante und einem Psychotherapeuten bemuttert; sein Erinnerungsbuch "Geraubte Kindheit" wird ein Erfolg, sein Leben eher nicht. Frida gerät unter die Fittiche ihrer kalten, strengen Großmutter; für das aufsässige Mädchen eine Katastrophe wie einst Fräulein Rottenmeier für Heidi. Auch Ringo erlebt seine "Befreiung" als Gefangenschaft: Eben noch als Held gefeiert, wird er wenig später von den Medien verteufelt; das macht ihn psychisch labil und fast zum Dschungelcamp-Kandidaten. Linus schließlich fingiert nach seiner Vertreibung aus Winnipeg einen Selbstmord. Heillos herumirrend, wird er später den Hühnerstall der Kommune aus der Erinnerung im Maßstab eins zu fünf nachbauen.
Lapperts Figuren haben großes Vertrauen in die Präge- und Bindungskraft der klassischen Hochkultur. Aber der Bildungsroman vom gemeinsamen Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen funktioniert heute nicht mehr: Leander, der Möchtegernschriftsteller, wird von Creative-Writing-Bubis, Schnösel-Lektoren und Kritikern gemobbt, Linus' Bücher werden als "Berichterstattung ohne eigene Stimme" gerügt, nur Frida schafft nach einer langen Durststrecke als Lyrikerin den Durchbruch zur Prosaautorin.
Lappert hatte seinen ersten Erfolg 2008 mit dem Roman "Nach Hause schwimmen" über einen tiefmelancholischen jungen Mann, der seinen Platz in der Welt sucht; seither gilt er weithin als Kultautor. Seine Bücher sprechen aus, was viele denken und fühlen: Wir in Winnipeg oder sonstwo abseits der schlechten Welt, ihrem Betrieb entfremdet, aber vertraut mit der Natur und den Klassikern, halten gegen alle Widrigkeiten und Widerstände zusammen. Lappert beschreibt auf diese Weise Probleme der Jungen mit den Mitteln der Alten: langsame, poetisch ausschweifende Sätze, gut geplante, selten überraschende Metaphern, anachronistische Wörter wie "fürwahr", "derweil", "inniglich" oder auch mal "bezaubernde Mimin". Lappert erzählt oft ziellos, aber immer sorgfältig und achtsam. Er beschreibt und erklärt alles, was ihm begegnet. Er baut verlorene Kindheitswelten in kleinerem Maßstab wieder auf, und das macht seinen Roman bei aller epischen Totalität dann doch ermüdend. Romane, schimpft ein alter holländischer Romanautor im Roman (es wimmelt darin von mit sich hadernden Schriftstellern), ödeten ihn nur noch an: "Dieses Draufloserfinden. Dieser Einfallsreichtum und dessen Zurschaustellung. Dieser Fleiß beim Bündeln roter Fäden. Diese ganze elende Epik."
Das Festhalten des Autors an den Idealen der alten Hippies und Tolstoianer ist aller Ehren wert. Aber das Leben, wie Rolf Lappert es in diesem Roman beschreibt, ist doch ein ziemlich langer, träge mäandernder Fluss, ein endloser Strom von Schwemm- und Treibgut, der am Ende wohl eher in die "Kapelle der beleidigten Seelen" als ins Meer großer Literatur führt.
MARTIN HALTER
Rolf Lappert: "Leben ist
ein unregelmäßiges Verb". Roman.
Hanser Verlag, München 2020. 976 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Lappert greift mit großem epischen Schwung hinein ins volle Menschenleben. Nicht umsonst vergleicht man ihn gern mit John Irving." Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.21
"Das alles ist sprachlich wie formal gekonnt erzählt, die vier Biografien werden verfolgt und in Rückblenden das Kommunenleben dargestellt ... - so wie das heute die wahren Könner ihres Faches eben tun." Peer Teuwsen, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.20
"Lappert ist ein Epiker, der seine Geschöpfe mit zärtlicher Sorge begleitet. Ein Epiker ganz großen Formats." Martin Ebel, Süddeutsche Zeitung, 26.08.20
"Das alles ist sprachlich wie formal gekonnt erzählt, die vier Biografien werden verfolgt und in Rückblenden das Kommunenleben dargestellt ... - so wie das heute die wahren Könner ihres Faches eben tun." Peer Teuwsen, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.20
"Lappert ist ein Epiker, der seine Geschöpfe mit zärtlicher Sorge begleitet. Ein Epiker ganz großen Formats." Martin Ebel, Süddeutsche Zeitung, 26.08.20