Laurence Sterne zum 250. Todestag: Der witzigste, bizarrste und komischste Roman aller Zeiten, der Ur-Roman der Moderne in Michael Walters kongenialer Übertragung. "Wo ist der Mann von Verstand und Geschmack, dessen Seele einen Sinn für die Launen des Genies, für Witz und Ironie, für attisches, britisches, Cervantisches, Rabelais'sches, und (was feiner und pikanter ist als alle vier übrigen Arten) für Yoricksches Salz hat; wo ist, sag ich, ein solcher Mann, in dessen Händen Tristram Shandy nicht schon wäre, der nicht lieber alle seine übrigen Bücher, und seinen Mantel und Kragen im Notfall dazu, verkaufen wollte, um dieses in seiner Art einzige, dieses mit allen seines Verfassers Wunderlichkeiten und Unarten dennoch unschätzbare Buch anzuschaffen, von Stund an zu seinem Leibbuch zu machen, und solange darin zu lesen, bis alle Seiten davon so abgegriffen und abgenutzt sind, dass er sich - zum größten Vergnügen des Verlegers - ein neues anschaffen muss?", fragte Christoph Martin Wieland im 18. Jahrhundert. Und wir können heute unverändert dasselbe fragen: Ja, wo wäre er? Aber vor allem: Was hätte er die letzten Jahre gemacht, wenn er nicht so glänzend Englisch kann, dass er die genialisch-kniffligen Feinheiten und hochverzwickten Zweideutigkeiten des Originals versteht? Denn die einzig wirklich adäquate, die wahrhaft kongeniale Übersetzung dieses Ur-Buchs der komischen Literatur war jahrelang nicht lieferbar. Jetzt gibt es sie endlich wieder - als Teil der Laurence-Sterne-Werkausgabe und als einzelnen Band.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2015Wenn’s tickt
Hier gelingt das Unwahrscheinliche: Ein Hörspiel,
das Tristram Shandy gerecht wird
VON JENS BISKY
Es beginnt mit kurzem Rauschen, als hätte man am Senderknopf gedreht, dann stöhnen zwei, es müssen Mann und Frau sein. Wieder rauscht es, dann Klarheit: „Band eins, Kapitel eins“. Es folgen Beischlafbegleitgeräusche, in die eine Stimme „Nein“, „Nöö“, „Nein auch nicht“ spricht und in das Knarzen und Quietschen des Bettes hinein diesen schönen Anfangssatz: „Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie taten, als sie mich zeugten . . . “ Der Satz, von Stefan Merki mit flehender Dringlichkeit gesprochen, ist viel länger, er führt hinein ins kurze erste Kapitel eines Romans, der 1759 zu erscheinen begann und bis heute definiert, was es heißen könnte, modern zu erzählen. Auf neun Bände wuchs „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ bis 1767 an. Der Roman und sein Verfasser, Laurence Sterne, wurden europäische Berühmtheiten. In Deutschland behalf man sich seit 1774 mit einer Übersetzung von Johann Joachim Bode; heute haben Leser das Glück, die zu Recht gefeierte Übersetzung von Michael Walter lesen zu können. Dann erfahren sie, dass, neben manch anderem Ungemach, Zufall und Ungeschick rund um die Geburt des Tristram Shandy, eine Frage in der Zeugungsstunde wenig Gutes verhieß: „Ei, mein Guter, sprach meine Mutter, hast du auch drangedacht, die Uhr aufzuziehen?“
Wollte man alle versammeln, denen „Tristram Shandy“ mehr wurde als ein Roman unter anderen, alle, die begeistert über ihn sprachen, rasch hätte man einen Club der besten Autoren beisammen. Was nicht verwundern kann, erzählt doch der 1713 geborene Laurence Sterne vor allem vom Schreiben und Lesen und Kommentieren, von all den Abwegen, die man dabei beschreitet, von den Doppeldeutigkeiten, die man in Kauf nimmt, sobald man etwa von „Nasen“ spricht. Aber je begeisterter einer im Roman gelesen hat und wieder liest, desto skeptischer wird er die Ankündigung hören, dass es diesen nun als Hörspiel gibt. Wie soll das gehen? Nein, das geht eigentlich nicht. Der Roman taugt nicht zur Dramatisierung, dafür besitzt er zu viele Ebenen, bietet zu viel Geschehen bei kaum fortschreitender Handlung, wechselt zu häufig die Erzählhaltung, zwei Kapitel lang steigen Figuren ein paar Treppenstufen hinab, und das wird auch noch kommentiert und bedacht – und dann gibt es, unersetzlich im Buch, die schwarze und die marmorierte Seite und einige Eigentümlichkeiten mehr. Wie will man das inszenieren?
Karl Bruckmaier hat es für den Bayerischen Rundfunk getan – und kaum hat Mutter Shandy ihren Gatten nach der Uhr gefragt, ist auch der Hörer gewonnen und überlässt sich freudig dem Können und dem Witz eines Regisseurs, der das Buch genau kennt und auch sonst weiß, was er tut. Bruckmaier spielt mit den Hörspielüblichkeiten: Tristram spricht vor Publikum, wie das so ist mit Mikrofonen kommt es zur Rückkopplung; gestrichene Kapitel werden hörbar aus einem Buch gerissen – ratsch, Seiten zerknüllt, was darauf stand, knapp zusammengefasst oder auch nicht. Hörer fragen, wie man dies oder jenes zu verstehen habe, was es bedeuten soll – und erhalten Antwort etwa vom kundigen Übersetzer Michael Walter. Die schwarze Seite nach den Worten „Ach, armer Yorick!“ – Yorick war neben Tristram ein alter ego des Autors Sterne –, die schwarze Seite also ist ein Popsong, und zwar einer, den man auch beim dritten Mal gern hört (Musik: Robert Coyne, Chris Cutler, Robert Forster). Geräusche gibt es reichlich, eine Kutsche etwa rattert, man versteht das eigene Wort kaum, da der Ruf: „Können wir die Kutsche mal . . . “
All das funktioniert, weil die Schauspieler ihren Rollen Lebenswirklichkeit einsprechen: Stefan Merki als Tristram, Hans Kremer als der sympathischste Militär der Weltliteratur, Onkel Toby also, den es bei Naumur bös erwischte, der zum Glück mit Korporal Trim (Michele Cuciuffo) einen bei sich hat, der ihn versteht, noch bevor er sich äußert. Peter Fricke und Anna Drexler lassen das Ehepaar Shandy als eines auferstehen, das nicht allein dem 18. Jahrhundert angehört. Man müsste alle aufzählen, denn keiner ist bei Sterne bloß Nebenfigur, jeder bekommt den Raum, der einem Individuum zusteht. Auch davon, dass ein solches eine eigene Welt nach ganz eigenen Gesetzen ist, die sich nicht flott und kaum der Ordnung nach auserzählen lässt, handelt dieser Roman, handelt auch das Hörspiel, das jedes Kapitel ankündigt und dann doch macht, was gerade passt.
Sterne, der so lebenslustig war, wie es eben aufgeklärte Pfarrer sein können, lässt seinen Helden im dritten Buch dann zur Welt kommen, die Erziehungsinstruktionen, an denen der Vater arbeitet, sind da noch lange nicht fertig. Sie kommen im Leben zu spät, im Roman aber genau an der richtigen Stelle. Die Doppelbewegungen, das Zugleich von Abschweifung, Verzögerung und Voranschreiten, setzt dieses Hörspiel klug in Szene, es sperrt den Hörer nicht ein in Shandy Hall, sondern verführt ihn zu einem Geist, den Nietzsche als den freiesten aller Zeiten begrüßte.
Laurence Sterne:
Leben und Ansichten
von Tristram Shandy,
Gentleman.Der Hörverlag, München 2015. 9 CDs,
ca. 456 min., 37,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hier gelingt das Unwahrscheinliche: Ein Hörspiel,
das Tristram Shandy gerecht wird
VON JENS BISKY
Es beginnt mit kurzem Rauschen, als hätte man am Senderknopf gedreht, dann stöhnen zwei, es müssen Mann und Frau sein. Wieder rauscht es, dann Klarheit: „Band eins, Kapitel eins“. Es folgen Beischlafbegleitgeräusche, in die eine Stimme „Nein“, „Nöö“, „Nein auch nicht“ spricht und in das Knarzen und Quietschen des Bettes hinein diesen schönen Anfangssatz: „Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie taten, als sie mich zeugten . . . “ Der Satz, von Stefan Merki mit flehender Dringlichkeit gesprochen, ist viel länger, er führt hinein ins kurze erste Kapitel eines Romans, der 1759 zu erscheinen begann und bis heute definiert, was es heißen könnte, modern zu erzählen. Auf neun Bände wuchs „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ bis 1767 an. Der Roman und sein Verfasser, Laurence Sterne, wurden europäische Berühmtheiten. In Deutschland behalf man sich seit 1774 mit einer Übersetzung von Johann Joachim Bode; heute haben Leser das Glück, die zu Recht gefeierte Übersetzung von Michael Walter lesen zu können. Dann erfahren sie, dass, neben manch anderem Ungemach, Zufall und Ungeschick rund um die Geburt des Tristram Shandy, eine Frage in der Zeugungsstunde wenig Gutes verhieß: „Ei, mein Guter, sprach meine Mutter, hast du auch drangedacht, die Uhr aufzuziehen?“
Wollte man alle versammeln, denen „Tristram Shandy“ mehr wurde als ein Roman unter anderen, alle, die begeistert über ihn sprachen, rasch hätte man einen Club der besten Autoren beisammen. Was nicht verwundern kann, erzählt doch der 1713 geborene Laurence Sterne vor allem vom Schreiben und Lesen und Kommentieren, von all den Abwegen, die man dabei beschreitet, von den Doppeldeutigkeiten, die man in Kauf nimmt, sobald man etwa von „Nasen“ spricht. Aber je begeisterter einer im Roman gelesen hat und wieder liest, desto skeptischer wird er die Ankündigung hören, dass es diesen nun als Hörspiel gibt. Wie soll das gehen? Nein, das geht eigentlich nicht. Der Roman taugt nicht zur Dramatisierung, dafür besitzt er zu viele Ebenen, bietet zu viel Geschehen bei kaum fortschreitender Handlung, wechselt zu häufig die Erzählhaltung, zwei Kapitel lang steigen Figuren ein paar Treppenstufen hinab, und das wird auch noch kommentiert und bedacht – und dann gibt es, unersetzlich im Buch, die schwarze und die marmorierte Seite und einige Eigentümlichkeiten mehr. Wie will man das inszenieren?
Karl Bruckmaier hat es für den Bayerischen Rundfunk getan – und kaum hat Mutter Shandy ihren Gatten nach der Uhr gefragt, ist auch der Hörer gewonnen und überlässt sich freudig dem Können und dem Witz eines Regisseurs, der das Buch genau kennt und auch sonst weiß, was er tut. Bruckmaier spielt mit den Hörspielüblichkeiten: Tristram spricht vor Publikum, wie das so ist mit Mikrofonen kommt es zur Rückkopplung; gestrichene Kapitel werden hörbar aus einem Buch gerissen – ratsch, Seiten zerknüllt, was darauf stand, knapp zusammengefasst oder auch nicht. Hörer fragen, wie man dies oder jenes zu verstehen habe, was es bedeuten soll – und erhalten Antwort etwa vom kundigen Übersetzer Michael Walter. Die schwarze Seite nach den Worten „Ach, armer Yorick!“ – Yorick war neben Tristram ein alter ego des Autors Sterne –, die schwarze Seite also ist ein Popsong, und zwar einer, den man auch beim dritten Mal gern hört (Musik: Robert Coyne, Chris Cutler, Robert Forster). Geräusche gibt es reichlich, eine Kutsche etwa rattert, man versteht das eigene Wort kaum, da der Ruf: „Können wir die Kutsche mal . . . “
All das funktioniert, weil die Schauspieler ihren Rollen Lebenswirklichkeit einsprechen: Stefan Merki als Tristram, Hans Kremer als der sympathischste Militär der Weltliteratur, Onkel Toby also, den es bei Naumur bös erwischte, der zum Glück mit Korporal Trim (Michele Cuciuffo) einen bei sich hat, der ihn versteht, noch bevor er sich äußert. Peter Fricke und Anna Drexler lassen das Ehepaar Shandy als eines auferstehen, das nicht allein dem 18. Jahrhundert angehört. Man müsste alle aufzählen, denn keiner ist bei Sterne bloß Nebenfigur, jeder bekommt den Raum, der einem Individuum zusteht. Auch davon, dass ein solches eine eigene Welt nach ganz eigenen Gesetzen ist, die sich nicht flott und kaum der Ordnung nach auserzählen lässt, handelt dieser Roman, handelt auch das Hörspiel, das jedes Kapitel ankündigt und dann doch macht, was gerade passt.
Sterne, der so lebenslustig war, wie es eben aufgeklärte Pfarrer sein können, lässt seinen Helden im dritten Buch dann zur Welt kommen, die Erziehungsinstruktionen, an denen der Vater arbeitet, sind da noch lange nicht fertig. Sie kommen im Leben zu spät, im Roman aber genau an der richtigen Stelle. Die Doppelbewegungen, das Zugleich von Abschweifung, Verzögerung und Voranschreiten, setzt dieses Hörspiel klug in Szene, es sperrt den Hörer nicht ein in Shandy Hall, sondern verführt ihn zu einem Geist, den Nietzsche als den freiesten aller Zeiten begrüßte.
Laurence Sterne:
Leben und Ansichten
von Tristram Shandy,
Gentleman.Der Hörverlag, München 2015. 9 CDs,
ca. 456 min., 37,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Jens Bisky hätte nicht damit gerechnet, dass ein Hörspiel zu Tristram Shandy so gut gelingen kann. Aber Regisseur Karl Bruckmayer weiß genau, was er tut, versichert der Kritiker, der staunt, wie hier gestrichene Seiten durch Reißgeräusche intoniert werden, mit Mikrofonen Rückkopplungen erzeugt werden oder Hörerfragen eingebunden werden. Auch die Leistung des Sprecherensembles ist lebensnahe und grandios, lobt der Rezensent. Dazu die Übersetzung von Michael Walter und die Musik von Robert Coyne, Chris Cutler und Robert Forster - für den Kritiker ist dieses Hörspiel ein Ereignis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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