Der Lebensweg einer jungen Frau, eine deutsch-deutsche Geschichte
„Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen…“ Mit Hildegard Knef beginne ich die Reise nach Berlin, ich lese von Vickys „Lebensträumen“. Svea Lenz erzählt davon eindrucksvoll, dieser neue Roman steht ihren „Stewardessen“ in nichts
nach.
Vicky lebt mit ihrer Mutter, die als OP-Schwester an der Charité arbeitet, im Osten von…mehrDer Lebensweg einer jungen Frau, eine deutsch-deutsche Geschichte
„Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen…“ Mit Hildegard Knef beginne ich die Reise nach Berlin, ich lese von Vickys „Lebensträumen“. Svea Lenz erzählt davon eindrucksvoll, dieser neue Roman steht ihren „Stewardessen“ in nichts nach.
Vicky lebt mit ihrer Mutter, die als OP-Schwester an der Charité arbeitet, im Osten von Berlin. Sie studiert an der Freien Universität in Berlin-West Medizin, nebenbei jobbt sie in einer Westberliner Metzgerei, sie pendelt also täglich von Ost nach West und zurück, was ihr bis zum Bau der Mauer im August 1961 keinerlei Probleme macht. Nun aber scheint ihr großer Traum, Ärztin zu werden, zu zerplatzen. Ihr Freund Achim ist in derselben Situation, auch er studiert im Westen. Sie müssen schon allein wegen ihrer Zukunftsaussichten weg, so viel steht fest. Als dann ihre Flucht gelingt, atmet Vicky nur kurz auf, denn Achim geht als Fluchthelfer wieder nach drüben und wird dabei verhaftet. Danach hört sie nichts mehr von ihm. Sie schlägt sich anfangs eher schlecht als recht alleine durch, aber irgendwie schafft sie es doch, eine Anstellung in der Ambulanz im Frankfurter Flughafen zu bekommen. Als einzige Frau unter Männern ist ihr Alltag beileibe kein Zuckerschlecken, aber sie beißt sich durch, diese Chance will sie sich nicht verbauen.
Die Erzählung beginnt im Sommer 1961, als alles noch unbeschwert war und man auch im Osten gut leben konnte und endet 1972. Mit dem Mauerbau endet ihre Freiheit, diese schier unüberwindbare Barriere ist es, die Vickys Lebensweg in eine von ihr nicht vorgesehene Richtung drängt. Sie ist eine kluge, eine ehrgeizige junge Frau, die ihr Berufsziel stets vor Augen hat und fest entschlossen ist, eines Tages als Chirurgin zu arbeiten.
Wir alle kennen die deutsch-deutsche Geschichte, sie betrifft Vickys Leben in ganz besonderer Weise. Als Republikflüchtling ist es ihr verwehrt, in die DDR einzureisen, der Kontakt mit ihrer Mutter gestaltet sich dementsprechend schwierig. Ihre fiktive Geschichte bindet die Autorin perfekt und sehr lebendig in die damalige Zeit ein - die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs, Adenauer geht, Erhard, Kiesinger und Brandt folgen, der junge US-Präsident Kennedy ist auf Deutschlandbesuch, wir lesen von Martin Luther King, den Demos gegen Rassendiskriminierung in den USA und auch hier von den Ausschreitungen gegen Mohammad Reza Schah Pahlavi etwa, die Studentenproteste wollen nicht abebben. Es ist eine unruhige Zeit, die gut einfangen ist. Contergan, die Schluckimpfung, die Pille und noch so vieles mehr sind mit Vickys Geschichte verwoben und natürlich auch die Songs dieser Zeit, die für mich einen ganz besonderen Reiz darstellen.
Svea Lenz vermittelt den Zeitgeist jener Jahre, sie versteht es bestens, das Weltgeschehen so wunderbar, so nachvollziehbar in Vickys Leben zu integrieren. Gebannt lese ich von ihrem Klinikalltag, von den Einsätzen im Flughafenbereich und auch von Unglücken und Katastrophen, die ihr alles abverlangen. Sie ist Ärztin aus Leidenschaft, ihr Privatleben muss so manches Mal hintanstehen. Und nicht zuletzt sind es auch die privaten Momente, die das Bild der jungen Ärztin so rund, so authentisch machen.
„Lebensträume ist ein Roman mit mindestens 47 % Wahrheitsgehalt.“ Der Beipackzettel zum Schluss vermittelt kurz und bündig nochmal sehr viel Hintergrundwissen – ein stimmiger Abschluss. Und doch fällt mir das Abschiednehmen schwer, gerne hätte ich Vicky noch weiter begleitet. Es waren unterhaltsame Lesestunden mit einer liebenswerten Protagonistin. Es ist ein hervorragend recherchiertes Buch, das viel Wissenswertes von damals vermittelt, dazu ein packender Schreibstil mit glaubhaften Charakteren. Kurzum – ein sehr lesenswerter Roman, den ich gerne weiterempfehle.