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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Therapeutikum: Dorothee Kimmich bringt mit Kafka, Kracauer und vielem mehr auf beglückende Weise die Literatur aufs freie Feld
Um es vorwegzunehmen: Am Ende werden sie nicht auf den Begriff gebracht, die Niemandsländer, denn das widerspräche grundsätzlich dem terrain vague, auf dem die Autorin sich bewegt. Dorothee Kimmich, Professorin für literaturwissenschaftliche Kulturwissenschaft und Kulturtheorie in Tübingen, umreißt zwar zunächst die Begrifflichkeit, die auf den ersten Blick mit dem Wort Niemandsland verbunden ist. Die hat etwas mit Besitznahme, Kolonialisierung, Grenzziehung, Exklusion, Inklusion zu tun. Wir befinden uns also erst einmal im juristischen und politischen Bereich. "Ein Gebiet zur terra nullius zu erklären" sei oft ein politischer Akt.
Natürlich waren weder der afrikanische noch der amerikanische noch der australische Kontinent "leeres Land", bevor die europäischen Kolonisatoren kamen. Die Inbesitznahme erfolgt durch "Kultivierung", das heißt Bearbeitung des Landes: ein Akt, der die Kultivatoren zu Eigentümern macht und zur Grenzziehung führt. Nicht nur Eigentum entsteht durch Arbeit, das Subjekt konstituiert sich dadurch und gewinnt seine Identität. Ohne Eigentum kein Ich; der Nomade ist kein Subjekt. Kimmich entfaltet die philosophischen Begründungs- und Rechtfertigungsversuche dieser Ideologie von Grotius über Locke bis zu Hegels Rechtsphilosophie - und bis zum Widerspruch Adornos, der bekanntlich auf dem Vorrang des Objekts beharrte.
Die Niemandsländer der Literatur sind demgegenüber "nie Illustrationen von philosophischen, theologischen oder juristischen Theorien". Jenseits dieser Theorien erzählen sie einerseits von Autarkie, Glück, Verständigung, allerdings auch von Einsamkeit, Desorientierung und Verlust. Sie haben für Kimmich "ein anderes Register" und sind "genuin nicht an Lösungen, Definitionen und Kategorien interessiert". Ebendas macht sie ja so spannend - und erkenntnisfördernd.
Etwa so: "Niemandsländer eignen sich nicht dazu, die Habermas'sche Idee des herrschaftsfreien Diskurses zu verwirklichen, denn es geht gerade nicht darum, sich zu verstehen, sondern darum, sich zu verständigen." Das ließe sich auch so übersetzen: Der Fremde darf der Fremde bleiben und wird dennoch nicht vertrieben. Von wem auch, wenn es sich um no man's land handelt? Kimmich spricht von der "geringen Regelungsdichte, die Niemandsländer charakterisiert" und die nicht nur Kolonisatoren anziehe, sondern eben auch "Flaneure, spielende Kinder, Verliebte, Streuner, Dealer, Diebe, Künstler und Phantasten".
Am Beispiel der missglückten Zwangsumsiedlung mit Todesfolge von Philemon und Baucis im letzten Akt von "Faust II" zeigt Kimmich, wie ein bewohntes, aber nicht bearbeitetes Stück Land den Fortschritt stört. Auch für Faust gilt am Ende die Formel "Freiheit = Arbeit und Besitz", die in das berühmte Loblied der Tüchtigkeit mündet: "Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen." Man weiß, wie verheerend es wird, wenn das freie Volk glaubt, nicht genug Raum zu haben.
"Dass der Kolonialismus die Wahrnehmung von ,eigen' und ,Eigentum' nicht nur im globalen Maßstab, sondern im Bereich des Vertrauten verändert", zeigt Kimmich an drei deutschen Realisten des neunzehnten Jahrhunderts. In Gottfried Kellers "Romeo und Julia auf dem Dorfe" geht es um die widerrechtliche Inbesitznahme eines Niemandslandes, das juristisch keines ist. Die fragliche Brache gehört eigentlich dem "schwarzen Geiger", dem Fremden also. Schwarz ist nicht seine Hautfarbe, sondern seine Kleidung. Da er aber mit anderen im Wald lebt und dementsprechend "wohn- und besitzlos" ist (wir sind in der Schweiz), ist er auch rechtlos, und die Okkupation seines Stückes Land kann vonstattengehen, mit schlimmen Folgen allerdings. Stifter beschreibt in seiner Novelle "Abdias" den Fremden, der sein Niemandsland "wie einen Schutzpanzer um sich" trägt, und Storms Schimmelreiter errichtet eine Grenze - den Deich - die zugleich ein eigener Ort ist. Hier lässt sich die Dichotomie von Natur und Kultur nicht mehr aufrechterhalten.
Das geheime Zentrum des Buches sind die Passagen zu Kafka und Kracauer. Dorothee Kimmich nimmt hier den Faden wieder auf, den sie 2011 in dem schönen Essay "Lebendige Dinge in der Moderne" ausgelegt hatte. Ein solch lebendiges und im Wortsinne unsterbliches Ding in der Weltliteratur ist Odradek aus dem kurzen Kafka-Text "Die Sorge des Hausvaters", jene "flache, sternartige Zwirnspule", aus der zwei Stäbchen im rechten Winkel zueinander hervorragen, so dass Odradek gehen kann. Also ist er unterwegs, im Treppenhaus, auf dem Dachboden, in den Gängen. Zudem ist er, so Kimmich, fremd in allen Kategorien: "lebendig, aber kein Lebewesen, aus Holz und doch zu sprechen in der Lage, lebendig, aber nicht sterblich". Kurz: nicht auf den Begriff zu bringen, dazu "unbestimmter Wohnsitz". Odradek lebt nicht in den Niemandsländern, sondern dort, wo er auftaucht, wird "alles zum unbeherrschbaren Niemandsland". Bezeichnend ist, dass man ihn anspricht "wie ein Kind". Kinder sind natürliche Bewohner von Niemandsländern, gleich, ob es sich wie bei Leiris (oder Proust) um den Abort handelt oder um Müllhalden und verwilderte Gärten, die als Spielplätze dienen.
Kracauer, dessen Text "Abschied von der Lindenpassage" die Autorin ausführlich analysiert, leistet das, was sie die "Verräumlichung von Zeitstrukturen" nennt. Die Berliner Lindenpassage existierte bereits nicht mehr, als Kracauer seinen Text im Dezember 1930 in der "Frankfurter Zeitung" publizierte. Schon vorher beherbergte sie das Nichtrepräsentationsfähige, "die Summe jener Dinge, die nicht zum Fassadenschmuck taugen" und denen "ihre Rücknahme von der bürgerlichen Front" gemeinsam war: das Anatomische Museum, die Pornographie und den "Krimskrams". Im Dämmerlicht der Passage, so Kracauer, protestierten sie gegen die Fassadenkultur draußen, "stellten den Idealismus bloß und entlarvten seine Produkte als Kitsch". Dies ist das Feld des Historikers, der in Kracauers Geschichtsphilosophie, die explizit keine sein will, im "vollkommenen Vakuum der Exterritorialität lebt", im wahren Niemandsland. Er ist nicht bestrebt, in die Dinge einzudringen, im Gegenteil: "Die Kommunikation mit dem ,Material' setzt eine spezifische Des-Identifikation voraus."
Das ist ein Schlüsselsatz in Kimmichs Untersuchung, der auf den Vorrang des Objekts verweist. Als das eigentliche Sujet der Niemandslandstexte, so Kimmich, könne man "die Erfahrungen bezeichnen, die die Niemande im Niemandsland machen: Die Entkoppelung von Eigen und Eigentum gehört ebenso dazu wie eine erstaunliche Beglückung durch Entfremdung . . .".
Auch die Lektüre dieser 220 Seiten kann erstaunlich beglücken. Die Niemandsländer der Literatur seien "im Idealfall ein Therapeutikum gegen Ideologien", schließt die Autorin, nachdem sie sich im letzten Teil über den Western ausführlich mit dem nach Landnahme und Sesshaftigkeit überflüssig gewordenen Cowboy, dem drifter, beschäftigt hat. Hinzufügen ließe sich, dass eines der größten und reichsten Niemandsländer die Literatur selbst ist, insofern sie - noch! - niemandem und allen gehört. Hoffen wir, dass das so bleibt.
JOCHEN SCHIMMANG
Dorothee Kimmich: "Leeres Land". Niemandsländer in der Literatur.
Konstanz University Press, Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 221 S., geb., 24,- [Euro].
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