Die Biographie einer Stadt.
Einst Teil des Habsburger Reichs, galt Lemberg als »Jerusalem Europas«, wo Polen, Juden, Ukrainer und Deutsche zusammenlebten. Namhafte Künstler und Wissenschaftler prägten eine Moderne, die der in Berlin und Wien in nichts nachstand. Dann verlor Lemberg wie so viele mitteleuropäische Städte durch Krieg, Holocaust und Vertreibung fast alle Einwohner – und damit sein Gedächtnis. Siebzig Jahre später, inmitten der Ukraine-Krise, sucht Lutz C. Kleveman die verschüttete Vergangenheit der Stadt freizulegen. Was er dabei entdeckt und brillant erzählt, ist nicht weniger als die Geschichte Europas bis heute.
»Lutz C. Kleveman erschließt lebendig und sehr persönlich die Geschichte dieser faszinierenden Stadt, die so viele Vergangenheiten hatte, Bühne so vieler Kulturen, Träume und Tragödien war. Ein immenses Lesevergnügen.« Philipp Blom (»Der taumelnde Kontinent«).
»Ein ebenso sorgfältiges wie umfassendes Geschichtsbuch über eine faszinierende Stadt, hinter deren bezaubernder Fassade sich Ungeheuerlichkeiten entluden.« Sabine Adler (Deutschlandfunk).
Einst Teil des Habsburger Reichs, galt Lemberg als »Jerusalem Europas«, wo Polen, Juden, Ukrainer und Deutsche zusammenlebten. Namhafte Künstler und Wissenschaftler prägten eine Moderne, die der in Berlin und Wien in nichts nachstand. Dann verlor Lemberg wie so viele mitteleuropäische Städte durch Krieg, Holocaust und Vertreibung fast alle Einwohner – und damit sein Gedächtnis. Siebzig Jahre später, inmitten der Ukraine-Krise, sucht Lutz C. Kleveman die verschüttete Vergangenheit der Stadt freizulegen. Was er dabei entdeckt und brillant erzählt, ist nicht weniger als die Geschichte Europas bis heute.
»Lutz C. Kleveman erschließt lebendig und sehr persönlich die Geschichte dieser faszinierenden Stadt, die so viele Vergangenheiten hatte, Bühne so vieler Kulturen, Träume und Tragödien war. Ein immenses Lesevergnügen.« Philipp Blom (»Der taumelnde Kontinent«).
»Ein ebenso sorgfältiges wie umfassendes Geschichtsbuch über eine faszinierende Stadt, hinter deren bezaubernder Fassade sich Ungeheuerlichkeiten entluden.« Sabine Adler (Deutschlandfunk).
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2017Der diskrete Charme des Postsozialismus
Ohne Galizien-Nostalgie, doch mit einigen Widersprüchen: Lutz C. Kleveman verfolgt die Geschichte der Stadt Lemberg im zwanzigsten Jahrhundert
Mit einer starken Szene steigt Lutz C. Kleveman in sein Buch ein: dem Lemberger Leninopad, dem Sturz der Lenin-Statue. Während sich seit 2014 Hunderte solcher Denkmalstürmereien in der Zentral- und Ostukraine ereigneten, fand dieser schon im Herbst 1990 statt. Kleveman beschreibt, wie sich die der sowjetischen Herrschaft gegenüber seit jeher skeptischen Westukrainer vor dem Denkmal nahe dem Opernhaus versammelten und die Statue niederrissen. Im zweiten Teil der Einführung erzählt er dann, wie er 2014 die Stadt kennenlernte und betört von ihrem Charme beschloss, sich ihre Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert zu erarbeiten.
Aus dem Schicksal der polnisch-jüdisch-ukrainischen Stadt in der ersten Jahrhunderthälfte, die unübersehbar den Stempel der k. u. k. Monarchie trägt, möchte Kleveman Erkenntnisse für die ukrainische Gegenwart gewinnen. Doch verfängt bei ihm nicht die zuckersüße Galizien-Nostalgie. Ihn reizt das postsozialistische Flair der Stadt, die ihn an das noch nicht für touristische Nutzung durchoptimierte Prag der frühen neunziger Jahre erinnert. Die zahlreichen polnischen Touristen in der Stadt scheinen ihm nicht aufzufallen.
Fast in allen Kapiteln hält er diese Zweiteilung aufrecht: zunächst ein historischer Abriss, dann ein Reportageteil mit Beobachtungen von den historischen Orten und Reflexionen über die Auswirkungen der Geschichte. Leider hält beides meist nicht das hohe Niveau des Einstiegs. Sein historischer Abriss profitiert vom Zauber, den die Stadt auch auf viele westliche Historiker ausübte, die sie deshalb zum Forschungsgegenstand machten. Deren Ergebnisse referiert Kleveman meist etwas zu artig, und manchmal geht auch etwas durcheinander: Warum die Zweite Polnische Republik, zu der die Stadt von 1918 bis 1939 gehörte, seiner Ansicht nach ausgerechnet vor und nicht nach dem Putsch Józef Pilsudskis eine "gelenkte Demokratie" gewesen sein soll, bleibt schleierhaft.
Auf jene Teile der historischen Forschung zu Lemberg gestützt, in denen die Frage nach ethnischen Konflikten dominiert, zeichnet Kleveman das Bild einer von ethnischen Spannungen geprägten Stadt. Doch rekonstruiert er aus Erinnerungen und Tagebüchern Lemberger Künstler und Intellektueller das Geistesleben der Stadt über ethnische Grenzen hinweg, was zu den starken Abschnitten des Buchs gehört. In den Kaffeehäusern lösten die Mathematiker Hugo Steinhaus und Stefan Banach mathematische Probleme. Ludwik Fleck befasste sich mit erkenntnistheoretischen Fragestellungen, wenn er nach Dienstschluss sein Labor verließ, wo er mit Rudolf Weigl am Fleckfieberimpfstoff forschte. Am Nachbartisch debattieren Avantgardekünstler mehrsprachig.
Dennoch hält Kleveman am Bild klar getrennter ethnischer Gruppen fest und verkehrt die sonst oft verkitschte Darstellung der galizischen Multi-Ethnizität in ihr Gegenteil. Dabei waren die Grenzen zwischen nationaler Fremd- und Selbstzuschreibung durchaus fließend und beweglich. Und ob es die Mühe um klare Zuordnung ist, weshalb er Józef Wittlin als Polen ohne Bindestrichidentität klassifiziert, oder schlicht, weil er nicht um dessen jüdische Herkunft weiß?
Es ist nicht der einzige Widerspruch: Kleveman schreibt an einer Stelle, dass ihn das Leben mehr als der Untergang der Lemberger interessiert. Dennoch widmet er zwei Drittel seines Buches dem Sterben im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Zur sowjetischen und deutschen Besatzung befragt Kleveman mit Hilfe einer Dolmetscherin Zeitzeugen, wundert sich dann aber, wenn die über ihr eigenes Leid - und nicht wie er vor allem über jenes der massenhaft ermordeten Lemberger Juden - sprechen wollen.
Zeitgenössischer Rassismus begegnet Kleveman, als er in Begleitung eines britischen Studenten mit dunkler Haut nicht in die Disko gelassen wird. Im "Citadel Inn" vergeht ihm der Appetit, weil er sieht, wie das ehemalige Kriegsgefangenenlager schnöde touristisch und nicht als Gedenkstätte genutzt wird. Nur: Ist das nicht die andere, rauhere Seite des postsozialistischen Flairs einer nicht für westeuropäische oder amerikanische Touristen marktkonform getrimmten Stadt?
Manches Mal gewinnt man den Eindruck, Kleveman nähme es den heutigen Lembergern übel, dass sie sorglos auf den von Krieg und Holocaust "kontaminierten Landschaften" leben, um Martin Pollacks Metapher aufzugreifen. Sein Blick ist der des Westeuropäers, der fasziniert ist von der architektonischen Schönheit, die ihn so sehr an bekanntes Mitteleuropäisches erinnert. Mit ein wenig mehr Mühe hätte er diesen Zugang deutlich produktiver nutzen und das Fehlen tiefergehender Kenntnisse über die Region, wie sie etwa Pollack oder Karl Schlögel auszeichnen, ausgleichen können. Wer verstehen will, warum sich Kleveman von Lemberg betören ließ, der sollte über den Svoboda-Prospekt, den Freiheitsboulevard, flanieren, auf dem die Oper steht und Lenin stand. Zur Einstimmung auf diese Reise sei auch das Buch empfohlen.
STEPHAN STACH
Lutz C. Kleveman:
"Lemberg". Die vergessene Mitte Europas.
Aufbau Verlag, Berlin 2017. 315 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Galizien-Nostalgie, doch mit einigen Widersprüchen: Lutz C. Kleveman verfolgt die Geschichte der Stadt Lemberg im zwanzigsten Jahrhundert
Mit einer starken Szene steigt Lutz C. Kleveman in sein Buch ein: dem Lemberger Leninopad, dem Sturz der Lenin-Statue. Während sich seit 2014 Hunderte solcher Denkmalstürmereien in der Zentral- und Ostukraine ereigneten, fand dieser schon im Herbst 1990 statt. Kleveman beschreibt, wie sich die der sowjetischen Herrschaft gegenüber seit jeher skeptischen Westukrainer vor dem Denkmal nahe dem Opernhaus versammelten und die Statue niederrissen. Im zweiten Teil der Einführung erzählt er dann, wie er 2014 die Stadt kennenlernte und betört von ihrem Charme beschloss, sich ihre Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert zu erarbeiten.
Aus dem Schicksal der polnisch-jüdisch-ukrainischen Stadt in der ersten Jahrhunderthälfte, die unübersehbar den Stempel der k. u. k. Monarchie trägt, möchte Kleveman Erkenntnisse für die ukrainische Gegenwart gewinnen. Doch verfängt bei ihm nicht die zuckersüße Galizien-Nostalgie. Ihn reizt das postsozialistische Flair der Stadt, die ihn an das noch nicht für touristische Nutzung durchoptimierte Prag der frühen neunziger Jahre erinnert. Die zahlreichen polnischen Touristen in der Stadt scheinen ihm nicht aufzufallen.
Fast in allen Kapiteln hält er diese Zweiteilung aufrecht: zunächst ein historischer Abriss, dann ein Reportageteil mit Beobachtungen von den historischen Orten und Reflexionen über die Auswirkungen der Geschichte. Leider hält beides meist nicht das hohe Niveau des Einstiegs. Sein historischer Abriss profitiert vom Zauber, den die Stadt auch auf viele westliche Historiker ausübte, die sie deshalb zum Forschungsgegenstand machten. Deren Ergebnisse referiert Kleveman meist etwas zu artig, und manchmal geht auch etwas durcheinander: Warum die Zweite Polnische Republik, zu der die Stadt von 1918 bis 1939 gehörte, seiner Ansicht nach ausgerechnet vor und nicht nach dem Putsch Józef Pilsudskis eine "gelenkte Demokratie" gewesen sein soll, bleibt schleierhaft.
Auf jene Teile der historischen Forschung zu Lemberg gestützt, in denen die Frage nach ethnischen Konflikten dominiert, zeichnet Kleveman das Bild einer von ethnischen Spannungen geprägten Stadt. Doch rekonstruiert er aus Erinnerungen und Tagebüchern Lemberger Künstler und Intellektueller das Geistesleben der Stadt über ethnische Grenzen hinweg, was zu den starken Abschnitten des Buchs gehört. In den Kaffeehäusern lösten die Mathematiker Hugo Steinhaus und Stefan Banach mathematische Probleme. Ludwik Fleck befasste sich mit erkenntnistheoretischen Fragestellungen, wenn er nach Dienstschluss sein Labor verließ, wo er mit Rudolf Weigl am Fleckfieberimpfstoff forschte. Am Nachbartisch debattieren Avantgardekünstler mehrsprachig.
Dennoch hält Kleveman am Bild klar getrennter ethnischer Gruppen fest und verkehrt die sonst oft verkitschte Darstellung der galizischen Multi-Ethnizität in ihr Gegenteil. Dabei waren die Grenzen zwischen nationaler Fremd- und Selbstzuschreibung durchaus fließend und beweglich. Und ob es die Mühe um klare Zuordnung ist, weshalb er Józef Wittlin als Polen ohne Bindestrichidentität klassifiziert, oder schlicht, weil er nicht um dessen jüdische Herkunft weiß?
Es ist nicht der einzige Widerspruch: Kleveman schreibt an einer Stelle, dass ihn das Leben mehr als der Untergang der Lemberger interessiert. Dennoch widmet er zwei Drittel seines Buches dem Sterben im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Zur sowjetischen und deutschen Besatzung befragt Kleveman mit Hilfe einer Dolmetscherin Zeitzeugen, wundert sich dann aber, wenn die über ihr eigenes Leid - und nicht wie er vor allem über jenes der massenhaft ermordeten Lemberger Juden - sprechen wollen.
Zeitgenössischer Rassismus begegnet Kleveman, als er in Begleitung eines britischen Studenten mit dunkler Haut nicht in die Disko gelassen wird. Im "Citadel Inn" vergeht ihm der Appetit, weil er sieht, wie das ehemalige Kriegsgefangenenlager schnöde touristisch und nicht als Gedenkstätte genutzt wird. Nur: Ist das nicht die andere, rauhere Seite des postsozialistischen Flairs einer nicht für westeuropäische oder amerikanische Touristen marktkonform getrimmten Stadt?
Manches Mal gewinnt man den Eindruck, Kleveman nähme es den heutigen Lembergern übel, dass sie sorglos auf den von Krieg und Holocaust "kontaminierten Landschaften" leben, um Martin Pollacks Metapher aufzugreifen. Sein Blick ist der des Westeuropäers, der fasziniert ist von der architektonischen Schönheit, die ihn so sehr an bekanntes Mitteleuropäisches erinnert. Mit ein wenig mehr Mühe hätte er diesen Zugang deutlich produktiver nutzen und das Fehlen tiefergehender Kenntnisse über die Region, wie sie etwa Pollack oder Karl Schlögel auszeichnen, ausgleichen können. Wer verstehen will, warum sich Kleveman von Lemberg betören ließ, der sollte über den Svoboda-Prospekt, den Freiheitsboulevard, flanieren, auf dem die Oper steht und Lenin stand. Zur Einstimmung auf diese Reise sei auch das Buch empfohlen.
STEPHAN STACH
Lutz C. Kleveman:
"Lemberg". Die vergessene Mitte Europas.
Aufbau Verlag, Berlin 2017. 315 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.09.2017Stadt ohne
Gedächtnis
Die Geschichte Lembergs im Jahrhundert der Gewalt
Nach zwei Weltkriegen, nach Pogromen, Massenmord und Genozid, nach Vertreibungen und Deportationen war die galizische Vielvölkermetropole Lemberg ihrer Stammbewohnerschaft entleert. Bis dahin hatte die Stadt so viele Namen getragen wie Sprachen auf ihren Straßen und Plätzen gesprochen wurden: Lemberg und Lemberik (deutsch und jiddisch), Lviv (ukrainisch), Lwów (polnisch), Lvov (armenisch und russisch), Ilyvó, (ungarisch), Liov (rumänisch), Leopoli (italienisch). Joseph Roth, aus dem nahen Städtchen Brody stammend, feierte Lemberg als „Stadt der verwischten Grenzen“: Hier seien „alle Trennungsstriche“ mit bloß „schwacher, kaum sichtbarer Kreide gezogen.“ Für den kreativen Mischmasch von Sprachen, Kulturen und Konfessionen prägte Roths Jugendfreund Józef Wittlin das schöne Verb „verlembergern“.
Das heutige Lviv ist das Resultat eines beinahe vollständigen Bevölkerungsaustauschs. Anders als die Menschen sind Lembergs Steine, die Baudenkmäler aller Epochen von der Renaissance bis zum Jugendstil unter den Verwerfungen des 20.Jahrhunderts intakt geblieben. Die zum Unesco-Weltkulturerbe zählende ehemalige Hauptstadt der habsburgischen Kronländer Galizien und Lodomerien sonnt sich wieder im Lichte ihrer „kakanischen“ Vorvergangenheit. Unterbelichtet oder aus dem Bewusstsein ihrer Bewohner wie Besucher ausgeblendet oder verdrängt sind hingegen – mit den Worten des ukrainischen Germanisten und Psychoanalytikers Jurko Prochasko – die „polnischen und jüdischen Schichten des Lemberger Palimpsestes“.
Der Autor eines Städtebilds, das Lembergs gesamte Vergangenheit und Gegenwart umfassen soll, steht infolgedessen vor keiner leichten Aufgabe. Lutz C. Kleveman, Absolvent der London School of Economics und ehemaliger Kriegsreporter, reist im Juli 2014 erstmals nach Lemberg, um sich ein Bild der ukrainischen Verhältnisse zu machen, bei sicherer Fernsicht auf den Krieg im Osten des Landes. Kaum angekommen, wird er Zeuge des Stroms der Binnenflüchtlinge, und davon, wie junge Wehrpflichtige, halbe Kinder, nach wenigen Tagen an der Front wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren – in Zinksärgen.
So steht Lemberg auch unter neuem Namen am Eingang eines „Grenzlandes“ – nichts anderes heißt „Ukraine“ wörtlich übersetzt –, inmitten von Europas „kontaminierten Landschaften“ (Martin Pollack) – der Historiker Timothy Snyder prägte dafür das Wort von den „Bloodlands“: „Europas vergessene Mitte“, auf die Kleveman auf seinen Streifzügen durch die Stadt und ihre Bibliotheken, in Gesprächen mit Zeitzeugen und mit Einheimischen stößt, ist ein „schwarzes Loch“ der kollektiven Gedächtnisse, das Herz von Europas Finsternis. Diese Mitte liegt exakt auf der Wasserscheide zwischen dem Baltischen und dem Schwarzen Meer; seit dem Mittelalter war sie Umschlagort nach allen Himmelsrichtungen für Menschen, Güter und Ideen; im 20. Jahrhundert ist sie der Knotenpunkt, an dem sich die Deportationszüge kreuzten, so wie jener ausrangierte, im Lemberger Museumsprojekt „Territorium des Terrors“ ausgestellte Güterzug: „Fuhr der Zug nach Osten“, schreibt Kleveman, „transportierte er Ukrainer, Polen und Juden nach Zentralasien; fuhr er nach Westen, brachte er Juden ins Vernichtungslager Belzec.“
Klevemans Buch, ein Hybrid aus persönlichem Reisebericht und Rechercheprotokoll, von Stadt- und Kulturgeschichte, leidet partiell darunter, dass der anfangs ratlos wirkende Autor sich auf seinen Streifzügen beständig über die eigenen Schultern schaut und den Leser mit Regieanweisungen an sich selber nervt. Da fehlte der Lektor. Sobald Kleveman seine Hausaufgaben gemacht, gewinnt das Buch an Klarheit und Lesbarkeit. Und der Leser wird im zweiten Teil belohnt, auch wenn ihm die Lektüre stellenweise im Halse stecken bleiben dürfte.
Lemberg ist der Eingang zur Shoah, deren Anfänge und Verlaufsformen auf dem Weg zum Genozid im Bewusstsein der Deutschen viel zu wenig verankert und auch in den Köpfen und im Gedenken der Ukrainer noch keinen hinreichenden Platz gefunden haben. In Regionen wie Galizien lebte die überwiegende Mehrheit der europäischen Juden, und die meisten von ihnen wurden nicht in versteckten Wäldern oder fernen Todesfabriken umgebracht, sondern in denselben Städten und Ortschaften, in denen sie bis dahin lebten. Im Vergleich zu den späterhin bürokratisierten und industrialisierten Vernichtungsoperationen erfolgte die Ermordung der mittelosteuropäischen Juden schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt und auf besonders grausame Weise.
In Lemberg und Umgebung wurden Massentötungen vor aller Augen durchgeführt. Erste „Judenaktionen“ begleiteten das „Unternehmen Barbarossa“ bereits in den ersten Julitagen 1941, als Spezialeinheiten der Wehrmacht die Stadt besetzten, ukrainische Hilfstruppen und die Einsatzgruppe der SS im Gefolge. Die gleichzeitige Enthüllung bestialischer Morde an ukrainischen Gefangenen durch die übereilt abrückenden Truppen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD lieferte den willkommenen Anlass für das Entfachen antijüdischer Pogrome: „Spurenlos auszulösen, zu intensivieren“ seien örtliche Pogrome, hatte Reinhard Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, bereits am 29. Juni 1941 telegrafiert. Die tagelangen Pogrome, denen mehrere Tausend Lemberger Juden zum Opfer fielen, erfolgten unter den Augen neugieriger Wehrmachtssoldaten, die das grauenhafte Geschehen begeistert fotografierten und filmten. „Gutgekleidete Töter aus allen sozialen Schichten“, schreibt Kleveman, posierten auf den Fotos. Unmittelbar darauf erfolgten die ersten Massenerschießungen durch Einsatzkommandos: „500 Juden standen zum Erschießen angetreten“, hielt der SS-Hauptscharführer Felix Landau nach seiner Ankunft am 2. Juli 1941 fest.
Eine Großstadt als Vernichtungslager: Neben dem eilig errichteten Lemberger Ghetto, das Zug um Zug in das Zwangsarbeiter- und schließlich Todeslager Janowska umgewandelt wurde, betrieb auch die Wehrmacht ein innerstädtisches KZ für sowjetische und andere Kriegsgefangene, die man dort zu Hunderttausenden systematisch verhungern ließ. Im Rahmen der „Aktion Reinhard“ schließlich wurde nur 90 Kilometer vor Lemberg mit Belzec das erste große Vernichtungslager errichtet.
Wider die noch heute kursierende Legende vom „jüdischen Bolschewismus“, mit dem sich Deutschland und seine Vasallen in einem „Weltbürgerkrieg“ befunden haben sollen, stellt Kleveman klar, dass unter den NKWD-Offizieren zum Zeitpunkt des Lemberger Massenmords an ukrainischen Häftlingen so gut wie keine Juden waren, dafür aber unter den Opfern selbst. Auch wurden zuvor, vom September 1939 bis zum Sommer 1941, im sowjetisch beherrschten, annektierten Lemberg in wachsender Zahl und bald vorwiegend Juden, darunter vor allem Flüchtlinge aus den deutsch besetzten Teilen Polens, nach Sibirien in die Gulags deportiert, wo sie, sofern sie lebend dort ankamen, eine gewisse Überlebenschance hatten.
Es ist Klevemans Verdienst, dies anschaulich geschildert und in den Kontext der Gewaltgeschichte eines ganzes Jahrhunderts gestellt zu haben, ohne den Genozid an den Juden zu relativieren. Zu seinen Quellen zählt neben der neueren deutschsprachigen Fachhistoriografie des Holocausts in Galizien auch weniger bekannte englischsprachige Forschungsliteratur. Gelesenes wird mit vor Ort Geschautem, in Gesprächen Erfahrenem verknüpft und konfrontiert. In die historischen Stoffe eingewoben sind biografische Schilderungen bedeutender Lemberger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter. Mehr als einem Porträt Lembergs aus nur einem Guss gleicht das Buch einer Collage, gewonnen aus den versunkenen Schichten einer lange Zeit vergessenen Stadt in Europas Mitte.
VOLKER BREIDECKER
Lemberg ist der Eingang zur
Shoah, deren Anfänge in den
Köpfen viel zu wenig verankert ist
Lutz C. Kleveman:
Lemberg. Die vergessene Mitte Europas. Aufbau Verlag, Berlin 2017.
315 Seiten, 24 Euro.
E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gedächtnis
Die Geschichte Lembergs im Jahrhundert der Gewalt
Nach zwei Weltkriegen, nach Pogromen, Massenmord und Genozid, nach Vertreibungen und Deportationen war die galizische Vielvölkermetropole Lemberg ihrer Stammbewohnerschaft entleert. Bis dahin hatte die Stadt so viele Namen getragen wie Sprachen auf ihren Straßen und Plätzen gesprochen wurden: Lemberg und Lemberik (deutsch und jiddisch), Lviv (ukrainisch), Lwów (polnisch), Lvov (armenisch und russisch), Ilyvó, (ungarisch), Liov (rumänisch), Leopoli (italienisch). Joseph Roth, aus dem nahen Städtchen Brody stammend, feierte Lemberg als „Stadt der verwischten Grenzen“: Hier seien „alle Trennungsstriche“ mit bloß „schwacher, kaum sichtbarer Kreide gezogen.“ Für den kreativen Mischmasch von Sprachen, Kulturen und Konfessionen prägte Roths Jugendfreund Józef Wittlin das schöne Verb „verlembergern“.
Das heutige Lviv ist das Resultat eines beinahe vollständigen Bevölkerungsaustauschs. Anders als die Menschen sind Lembergs Steine, die Baudenkmäler aller Epochen von der Renaissance bis zum Jugendstil unter den Verwerfungen des 20.Jahrhunderts intakt geblieben. Die zum Unesco-Weltkulturerbe zählende ehemalige Hauptstadt der habsburgischen Kronländer Galizien und Lodomerien sonnt sich wieder im Lichte ihrer „kakanischen“ Vorvergangenheit. Unterbelichtet oder aus dem Bewusstsein ihrer Bewohner wie Besucher ausgeblendet oder verdrängt sind hingegen – mit den Worten des ukrainischen Germanisten und Psychoanalytikers Jurko Prochasko – die „polnischen und jüdischen Schichten des Lemberger Palimpsestes“.
Der Autor eines Städtebilds, das Lembergs gesamte Vergangenheit und Gegenwart umfassen soll, steht infolgedessen vor keiner leichten Aufgabe. Lutz C. Kleveman, Absolvent der London School of Economics und ehemaliger Kriegsreporter, reist im Juli 2014 erstmals nach Lemberg, um sich ein Bild der ukrainischen Verhältnisse zu machen, bei sicherer Fernsicht auf den Krieg im Osten des Landes. Kaum angekommen, wird er Zeuge des Stroms der Binnenflüchtlinge, und davon, wie junge Wehrpflichtige, halbe Kinder, nach wenigen Tagen an der Front wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren – in Zinksärgen.
So steht Lemberg auch unter neuem Namen am Eingang eines „Grenzlandes“ – nichts anderes heißt „Ukraine“ wörtlich übersetzt –, inmitten von Europas „kontaminierten Landschaften“ (Martin Pollack) – der Historiker Timothy Snyder prägte dafür das Wort von den „Bloodlands“: „Europas vergessene Mitte“, auf die Kleveman auf seinen Streifzügen durch die Stadt und ihre Bibliotheken, in Gesprächen mit Zeitzeugen und mit Einheimischen stößt, ist ein „schwarzes Loch“ der kollektiven Gedächtnisse, das Herz von Europas Finsternis. Diese Mitte liegt exakt auf der Wasserscheide zwischen dem Baltischen und dem Schwarzen Meer; seit dem Mittelalter war sie Umschlagort nach allen Himmelsrichtungen für Menschen, Güter und Ideen; im 20. Jahrhundert ist sie der Knotenpunkt, an dem sich die Deportationszüge kreuzten, so wie jener ausrangierte, im Lemberger Museumsprojekt „Territorium des Terrors“ ausgestellte Güterzug: „Fuhr der Zug nach Osten“, schreibt Kleveman, „transportierte er Ukrainer, Polen und Juden nach Zentralasien; fuhr er nach Westen, brachte er Juden ins Vernichtungslager Belzec.“
Klevemans Buch, ein Hybrid aus persönlichem Reisebericht und Rechercheprotokoll, von Stadt- und Kulturgeschichte, leidet partiell darunter, dass der anfangs ratlos wirkende Autor sich auf seinen Streifzügen beständig über die eigenen Schultern schaut und den Leser mit Regieanweisungen an sich selber nervt. Da fehlte der Lektor. Sobald Kleveman seine Hausaufgaben gemacht, gewinnt das Buch an Klarheit und Lesbarkeit. Und der Leser wird im zweiten Teil belohnt, auch wenn ihm die Lektüre stellenweise im Halse stecken bleiben dürfte.
Lemberg ist der Eingang zur Shoah, deren Anfänge und Verlaufsformen auf dem Weg zum Genozid im Bewusstsein der Deutschen viel zu wenig verankert und auch in den Köpfen und im Gedenken der Ukrainer noch keinen hinreichenden Platz gefunden haben. In Regionen wie Galizien lebte die überwiegende Mehrheit der europäischen Juden, und die meisten von ihnen wurden nicht in versteckten Wäldern oder fernen Todesfabriken umgebracht, sondern in denselben Städten und Ortschaften, in denen sie bis dahin lebten. Im Vergleich zu den späterhin bürokratisierten und industrialisierten Vernichtungsoperationen erfolgte die Ermordung der mittelosteuropäischen Juden schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt und auf besonders grausame Weise.
In Lemberg und Umgebung wurden Massentötungen vor aller Augen durchgeführt. Erste „Judenaktionen“ begleiteten das „Unternehmen Barbarossa“ bereits in den ersten Julitagen 1941, als Spezialeinheiten der Wehrmacht die Stadt besetzten, ukrainische Hilfstruppen und die Einsatzgruppe der SS im Gefolge. Die gleichzeitige Enthüllung bestialischer Morde an ukrainischen Gefangenen durch die übereilt abrückenden Truppen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD lieferte den willkommenen Anlass für das Entfachen antijüdischer Pogrome: „Spurenlos auszulösen, zu intensivieren“ seien örtliche Pogrome, hatte Reinhard Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, bereits am 29. Juni 1941 telegrafiert. Die tagelangen Pogrome, denen mehrere Tausend Lemberger Juden zum Opfer fielen, erfolgten unter den Augen neugieriger Wehrmachtssoldaten, die das grauenhafte Geschehen begeistert fotografierten und filmten. „Gutgekleidete Töter aus allen sozialen Schichten“, schreibt Kleveman, posierten auf den Fotos. Unmittelbar darauf erfolgten die ersten Massenerschießungen durch Einsatzkommandos: „500 Juden standen zum Erschießen angetreten“, hielt der SS-Hauptscharführer Felix Landau nach seiner Ankunft am 2. Juli 1941 fest.
Eine Großstadt als Vernichtungslager: Neben dem eilig errichteten Lemberger Ghetto, das Zug um Zug in das Zwangsarbeiter- und schließlich Todeslager Janowska umgewandelt wurde, betrieb auch die Wehrmacht ein innerstädtisches KZ für sowjetische und andere Kriegsgefangene, die man dort zu Hunderttausenden systematisch verhungern ließ. Im Rahmen der „Aktion Reinhard“ schließlich wurde nur 90 Kilometer vor Lemberg mit Belzec das erste große Vernichtungslager errichtet.
Wider die noch heute kursierende Legende vom „jüdischen Bolschewismus“, mit dem sich Deutschland und seine Vasallen in einem „Weltbürgerkrieg“ befunden haben sollen, stellt Kleveman klar, dass unter den NKWD-Offizieren zum Zeitpunkt des Lemberger Massenmords an ukrainischen Häftlingen so gut wie keine Juden waren, dafür aber unter den Opfern selbst. Auch wurden zuvor, vom September 1939 bis zum Sommer 1941, im sowjetisch beherrschten, annektierten Lemberg in wachsender Zahl und bald vorwiegend Juden, darunter vor allem Flüchtlinge aus den deutsch besetzten Teilen Polens, nach Sibirien in die Gulags deportiert, wo sie, sofern sie lebend dort ankamen, eine gewisse Überlebenschance hatten.
Es ist Klevemans Verdienst, dies anschaulich geschildert und in den Kontext der Gewaltgeschichte eines ganzes Jahrhunderts gestellt zu haben, ohne den Genozid an den Juden zu relativieren. Zu seinen Quellen zählt neben der neueren deutschsprachigen Fachhistoriografie des Holocausts in Galizien auch weniger bekannte englischsprachige Forschungsliteratur. Gelesenes wird mit vor Ort Geschautem, in Gesprächen Erfahrenem verknüpft und konfrontiert. In die historischen Stoffe eingewoben sind biografische Schilderungen bedeutender Lemberger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter. Mehr als einem Porträt Lembergs aus nur einem Guss gleicht das Buch einer Collage, gewonnen aus den versunkenen Schichten einer lange Zeit vergessenen Stadt in Europas Mitte.
VOLKER BREIDECKER
Lemberg ist der Eingang zur
Shoah, deren Anfänge in den
Köpfen viel zu wenig verankert ist
Lutz C. Kleveman:
Lemberg. Die vergessene Mitte Europas. Aufbau Verlag, Berlin 2017.
315 Seiten, 24 Euro.
E-Book 17,99 Euro.
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» Das Fließende des Textes, die stete Reflexion, was man da gesehen hat, ist kein Trick, eher die langsame Verfertigung der Erkenntnis im Lauf der Erkundungen. « taz. Die Tageszeitung 20170708