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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Michael Meyer legt eine Biographie von Leo Baeck vor
Über diesen letzten großen Repräsentanten des deutschen Judentums keine Hagiographie zu schreiben ist richtig schwierig. Denn der Rabbiner Leo Baeck war eine so bedeutende Persönlichkeit, dass weltweit nach ihm Institutionen wie das Leo Baeck Institute, Stiftungen wie die Leo Baeck Foundation, Archive, Vereine, Preise, Stipendien, Häuser, Straßen und sogar Synagogen benannt sind. So weit haben es weder Martin Buber noch Franz Rosenzweig gebracht. Nun hat der Historiker und Rabbiner Michael A. Meyer, selbst lange Zeit Internationaler Präsident des Leo Baeck Instituts und renommiertester Historiograph des Reformjudentums in Deutschland und den Vereinigten Staaten, eine neue Biographie Leo Baecks vorgelegt. Und Meyer hat, das vorweg, die Schwierigkeit gemeistert, keine Hagiographie zu schreiben.
Der Schwerpunkt seiner Biographie gilt jener bedrängten Zeit von 1933 bis 1945, als unter der nationalsozialistischen Diktatur das deutsche Judentum von Diskriminierung, Entrechtung, Enteignung, Verfolgung und, wie ab 1939 fast das gesamte europäische Judentum, von Deportation und Vernichtung getroffen wurde. Der schon 1933 weithin bekannte Rabbiner Leo Baeck trotzte, als gewählter Repräsentant des deutschen Judentums und demzufolge auch Ansprechpartner der Nationalsozialisten, mit allen Mitteln (außer physischer Gewalt) der Diktatur. Er war eine international anerkannte und agierende rabbinische Leitfigur der deutschen Juden und organisierte in Deutschland trotz Lebensgefahr und mehrfacher Verhaftung für diejenigen Jüdinnen und Juden, denen die Flucht ins Exil nicht gelang, jüdisches Gemeindeleben, jüdische Schulen, materielles und geistiges Überleben. Baeck weigerte sich, ins Exil zu gehen, und wurde mit anderen Berliner Juden Anfang 1943 ins KZ Theresienstadt deportiert, wo er - immer noch als Rabbiner tätig - Weltkrieg und Schoah überlebte. Von London aus war er, Symbolfigur des liberalen deutschen Judentums, dann bis zu seinem Tod 1956 sogar beim Wiederaufbau jüdischen Lebens in der Bundesrepublik aktiv.
1873 im heute polnischen Lissa in der Provinz Posen geboren, studierte der Rabbinersohn Leo Baeck zunächst am jüdisch-konservativen Breslauer Rabbinerseminar, dann an der jüdisch-liberalen Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Er promovierte an der Berliner Universität über die frühe Spinoza-Rezeption in Deutschland und gehörte damit zum Sozialtypus des akademisch ausgebildeten "Rabbiner Dr.". Nach seiner Ordination übernahm er bereits 1895 sein erstes Rabbinat in Oppeln, wo er heiratete und eine Familie gründete. Bekannt wurde Leo Baeck als liberale jüdische Stimme 1905 mit dem gegen den führenden protestantischen Theologen Adolf von Harnack gerichteten Buch "Das Wesen des Judentums", in welchem er in Anlehnung an Hermann Cohen das Judentum als prophetischen Monotheismus charakterisiert: Propheten, nicht Priester, verkörpern das Judentum und machen den Unterschied zum Christentum aus. Die Propheten konfrontieren das jüdische Volk mit den Forderungen der von Gott geoffenbarten, allgemeinen moralischen Gebote, welche stärker als die jüdisch-rituellen Gebote - etwa Sabbatruhe und Speisegesetze - die Lebensführung jedes Juden im Verhältnis zu seinen Mitmenschen bestimmen sollen.
Ab September 1914 ist Baeck vier Jahre lang kaisertreuer Feldrabbiner im Ersten Weltkrieg, von einem Widerstand gegen den Irrsinn in den Schützengräben wird nicht berichtet. Sein Verhältnis zur Weimarer Republik ist distanziert: Den relativistischen Liberalismus der Massendemokratie, den Hedonismus, die lasche Sexualmoral, gar liberale Rabbiner-Kollegen wie den jungen Joachim Prinz, die rauchend und trinkend durch Berliner Bars ziehen, sieht der sittenstrenge, durch und durch den preußischen Tugenden verpflichtete Rabbiner Baeck kritisch. Aber er verdirbt es sich weltanschaulich mit niemandem und macht innerjüdisch Karriere: 1922 wird er zum Vorsitzenden des Allgemeinen Rabbinerverbands gewählt, 1924 zum Vorsitzenden der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und zum Präsidenten der deutschen B'nai-B'rith-Logen.
Anders als die Mehrheit der deutschen Juden votiert Baeck schon 1898 für den Zionismus, 1926 gründet er mit Albert Einstein ein Pro-Palästina-Komitee, ist Delegierter der Jewish Agency und wird 1929 Präsidiumsmitglied des Keren Hajessod in Deutschland. Der Rabbiner Leo Baeck kann mit den Zionisten und mit ihren Gegnern. Daneben ist er zwischen 1913 und ihrer erzwungenen Schließung 1942 Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin - in dem Gebäude, das heute nach ihm Leo-Baeck-Haus heißt. Daneben publiziert er wissenschaftliche Artikel, religiöse Vorträge und weltanschauliche Reden über das Judentum. Ein Multifunktionär und Ämtersammler mit hohem, manchmal pompösem moralischen Anspruch. Über die Gründe für diesen Ehrgeiz, der sich allein mit rabbinischem Pflichtbewusstsein, Liebe zum Judentum oder gar Gottesfurcht nicht erklären lässt, erfährt der Leser nichts.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird Leo Baeck im September 1933 zum Präsidenten der Reichsvertretung der deutschen Juden gewählt und damit zum direkten jüdischen Ansprechpartner des Regimes. Er organisiert internationale Hilfe für die Auswanderung der deutschen Juden, erfindet sozusagen die Kindertransporte nach England und rettet so Tausenden deutschen Jüdinnen und Juden das Leben.
Angesichts dieser Fakten fällt es seinem Biographen nicht schwer, die Kooperation Baecks mit den NS-Behörden zu rechtfertigen. Noch die umstrittenste Periode in Baecks Wirken verteidigt er: Baeck wusste, dass die aus Theresienstadt nach Auschwitz Deportierten dort der Tod erwartete, und er hat ihnen das vorsätzlich verschwiegen. Sie hatten keine Chance, sich gegen die Deportation zu wehren, und fuhren unwissend in den Tod. Paul Tillich hat dieses Verhalten Baecks mit guten Gründen kritisiert, wie Meyer referiert, dann aber weist er diese Kritik zurück. Für Meyer ist Leo Baeck ein Rabbiner ohne Fehl und Tadel. In einer Anmerkung wird Tillich von Meyer als "Schürzenjäger" abgefertigt, eine Bemerkung, die der intellektuellen Statur Tillichs und dem Gewicht seiner Argumente in keiner Weise gerecht wird und im Übrigen nichts zur Sache tut. Ein gutes Lektorat hätte diese Anmerkung gestrichen. Michael Meyer hat sich entschieden, über Baeck als "Rabbiner in bedrängter Zeit" eine politische Biographie zu schreiben, die Analyse von Baecks Schriften tritt dagegen zurück. Sie liest sich seitenweise sogar spannend, was man von einer Rabbiner-Biographie selten sagen kann. Ihr Protagonist war liberaler Rabbiner und wurde, in einem ganz klassischen Sinn, Held. Nicht Heiliger. CHRISTOPH SCHULTE.
Michael A. Meyer: "Leo Baeck". Rabbiner in bedrängter Zeit. Eine Biographie, Aus dem Englischen von Rita Seuß. C. H. Beck Verlag, München 2021, 365 S., Abb., geb., 32,- Euro.
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DIE ZEIT, Thomas Meyer
"Eine der vielen Erkenntnisse von Meyers Biografie liegt darin, dass er Baeck bei aller liberalen Wissenschaftlichkeit, bei seinen Kontakten mit der mondänen Welt von Eleanor Roosevelt bis Albert Einstein stets als Mann der Tradition schildert."
Die WELT, Dirk Schümer
"Das Buch ist ohne Zweifel eine mitreißende Hommage an Leo Baeck. Ein Dokument der Bewunderung, zugleich aber eine Geschichtsdarstellung von wissenschaftlicher Qualität." Deutschlandfunk Andruck, Sebastian Engelbrecht
"Mit Meyers Biographie liegt nicht nur die bisher umfassendste und detaillierteste Biographie Leo Baecks vor, sondern auch eine Studie, die am Leitfaden eines außergewöhnlichen Lebens in außergewöhnlicher Zeit noch einmal zeigt, was das vernichtete, klassische deutsche Judentum in all seinen Facetten war." h-soz-kult, Micha Brumlik
"Michael Meyer setzt darin den religiösen Denker Leo Baeck eindringlich und gut verständlich in Beziehung zu dessen Handeln als mutiger Sprecher seiner Gemeinschaft, selbst während des NS-Regimes." Deutschlandfunk, David Dambitsch
"Eine notwendige Lektüre zum Verständnis deutsch-jüdischer Geschichte in all ihren Höhen und Tiefen!"
Michael Brenner
"Eine ergreifende Biographie, geschrieben mit Gelassenheit und Leidenschaft zugleich."
Ismar Schorsch
"Ein getreues Lebensbild des Rabbiners, der den Nazis widerstand."
taz-Jahresrückblick Literatur, Klaus Hillenbrand
"Es gelingt ihm, ein vielschichtiges und sehr nuanciertes Bild von Leo Baeck zu zeichnen und den Menschen hinter der Ikone sichtbar zu machen. (...) [Ein] Standardwerk."
Jüdische Allgemeine, Tobias Kühn
"Erklärtermaßen im Bemühen, 'ein möglichst vielschichtiges Bild einer der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte unserer Zeit zu zeichnen'. Es ist auf beeindruckende Weise gelungen."
Nürnberger Nachrichten, Hans Böller