Kaum ein anderes Werk hat die europäische Lyrik so nachhaltig geprägt wie «Les Fleurs du Mal» (1857) des Décadent und Dandy Charles Baudelaire. Bei seinem Erscheinen in Frankreich ein riesiger Skandal, mehrfach verboten und verbrannt, ist dieser Gedichtzyklus zu einem zentralen Text der Moderne geworden. Grundthema der «Blumen des Bösen» ist die Biopsie des Abgrunds, der in einem Subjekt aufklafft, das die Entstehung des modernen Bewusstseins als seelische Zerreißprobe durchleidet. Das «Böse» dieser Blumen meint nicht eine moralische Kategorie oder ein sittliches Urteil, sondern die unerbittliche Analyse des Dämonischen an der Wurzel jeder existenziellen Erfahrung. Mit ihrer Sprachmagie, ihren Exorzismen der Verzweiflung, ihrer Ästhetisierung des Makabren, Bizarren und Morbiden, und nicht zuletzt mit ihrer gewagten Erotik, markieren «Die Blumen des Bösen» einen Höhe- und Wendepunkt der französischen Dichtung: In ihrer formalen Perfektion noch der Verskunst des Klassizismus und der Romantik verpflichtet, sprengen und überschreiten sie deren inhaltliche Modelle und erschließen psychologisch wie soziologisch völlig neue Dimensionen.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
"Äußerst verdienstvoll", wenn auch mit Schwächen, so das Resümee des Rezensenten Eberhard Geisler zur jüngsten Übersetzung von Charles Baudelaires monumentalem Gedichtband "Die Blumen des Bösen" durch den Romanisten Simon Werle. Die Schwächen schreibt Geisler der Tatsache zu, dass Werle eben nicht selbst ein Dichter ist wie etwa sein Vorgänger Stefan George es war, der sich, so Geisler, um eine in ihrer Eigensinnigkeit und Interpretationsfreiheit besonders poetisch präzise Übersetzung verdient gemacht hatte. Werle hingegen will, wie er im Nachwort erklärt, so nah wie möglich am Text bleiben, ihn treibt nicht der eigene literarische Formwille, die Lust an der Aneignung des Fremden, sondern der Wunsch, den französischen Dichter der Moderne einem deutschsprachigen Publikum nahezubringen und das, findet der Rezensent, ist ein durchaus ehrenvoller Anspruch, dem Werle in großen Teilen auch gerecht werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2017Der kränkelnde Schwan
Baudelaires Gedichtzyklus "Les Fleurs du Mal" ist ein Schlüsselwerk der Moderne, das vielfach übertragen wurde. Simon Werle legt in seiner Übersetzung den Akzent auf lebendige Klanggestalt.
Die Gedichte von Charles Baudelaire sind oft ins Deutsche übersetzt, doch natürlich nie erreicht worden. Abschreckend hat beides aber nicht gewirkt. Die Übertragungen von den erstmals 1857 erschienen "Blumen des Bösen" zählen locker mehrere Dutzend, wenn man all jene mitrechnet, die nur ausgewählte Gedichte von Baudelaires Werk umfassen. Unvergessen sind die von Stefan George selbst sogenannten "Umdichtungen", die 1891 zunächst in der verschwindend geringen Auflage von fünfundzwanzig Exemplaren, dafür als faksimilierte Handschrift in des erlauchten Übersetzers Kreis verteilt wurden und nur vierzig der insgesamt 162 Gedichte enthielten. Wer immer sich die "Blumen des Bösen" heute vornimmt, kommt aber auch an den stattlichen sieben deutschen Übersetzungen nicht vorbei, die diesem Hauptwerk der französischen Dichtung als Ganzem gewidmet sind. Wobei die Herausforderung, die stets darin besteht, sich von der Wortwahl der anderen vielleicht anregen zu lassen, aber auch abzusetzen, mit jeder neuen Übersetzung schwieriger wird.
Diesen Balanceakt ist nun Simon Werle eingegangen, dessen Übertragung des Baudelaireschen Werks zum heutigen 150. Todestag des Dichters bei Rowohlt im Rahmen einer zweisprachigen Ausgabe erscheint. Im Aufbau folgt sie den Gepflogenheiten, die sich im Laufe der Jahre entwickelt und als sinnvoll herausgestellt haben. Ihr Ziel ist es, möglichst alle Gedichte Baudelaires in einem Band zu versammeln, weshalb die "Blumen des Bösen", wie sie im Deutschen seit Jahrzehnten vorliegen, stets so etwas wie Stückwerk sind. So ist es auch mit Simon Werles Übersetzung.
Sie basiert auf der französischen Ausgabe, die 1861 erschien, also vier Jahre nach dem Prozess, der Baudelaire nach dem Erscheinen seiner ersten Ausgabe gemacht worden war. Angeklagt wegen Blasphemie und Beleidigung der öffentlichen Moral, war der Dichter dazu verurteilt worden, sechs seiner Gedichte aus dieser ursprünglichen Ausgabe zu tilgen. Diese von ihm als heftige Schmach empfundene Strafe wetzte er aus, indem er seiner zweiten Ausgabe mehr als dreißig neue Gedichte hinzufügte und die sechs verbotenen ein paar Jahre später in einem neuen Band mit dem Titel "Les Epaves" abermals veröffentlichte. "Les Epaves" bilden somit stets den zweiten Teil der deutschen "Blumen des Bösen". Der dritte versammelt schließlich all das, was nach Baudelaires Tod an weiteren Gedichten von ihm erscheinen ist.
Nicht aufgenommen wurden in die Übersetzung von Simon Werle hingegen Baudelaires Entwürfe für ein Vorwort (und einen Epilog), was schade ist, weil sie die Verbitterung des Dichters über den Ausgang des Prozesses sowie die allgemein sehr verhaltene Rezeption seines Werks durch die Presse sehr deutlich zum Ausdruck bringen. Das Ansinnen seines Verlegers etwa, der Dichter möge doch für die zweite Ausgabe seine Absichten etwas erläutern, um seine Kunst verständlicher zu machen, wies Baudelaire in einer Vorwortskizze mit dem im Grunde die Leser beleidigenden Einwand zurück, "dass dies ein für die einen wie für die anderen gänzlich überflüssiges Geschäft wäre, weil die einen Bescheid wissen oder ahnen, worum es geht, und weil die anderen nie etwas begreifen werden". Auch auf Anmerkungen zu einzelnen Gedichten, zu ihrer Genese oder einzelnen verwendeten Formulierungen etwa, wie sie in anderen Gesamtübersetzungen durchaus zu finden sind, verzichtet Simon Werle.
Er konzentriert sich formal also auf das, was ihm auch inhaltlich wichtig ist. Bei allem Bemühen um Ausgewogenheit wolle er, so erläutert Werle in seinem Nachwort, wo es denn nötig sei, der "lebendigen Klanggestalt des Textes" den Vorrang vor inhaltlicher Präzision geben - eine legitime Entscheidung, die vor ihm schon andere getroffen haben. Nicht zuletzt Stefan George, dessen Übersetzung allerdings recht schwülstig ausgefallen ist und oft weit weg führt vom Original, viel weiter als Werle es sich je erlaubt. Mit dieser Entscheidung entzieht sich Werle zumindest teilweise einer besonderen Schwierigkeit beim Übersetzen dieser Dichtung. Sie liegt in der Aufgabe begründet, die eigentlich disparaten Motive und Metaphern, die zu Baudelaires Schaffenszeit ungekannte, auch unerhörte Verbindungen miteinander eingingen und auf diese Weise etwas evozierten, worin man erst später Baudelaires Modernität erkannt hat, in eine Sprache zu bringen, welche diese Widersprüchlichkeit ebenso wie die Anknüpfungspunkte ihrerseits zum Ausdruck bringt. Gut nachvollziehen lässt sich dies an einem Gedicht wie "Der Schwan", das als beliebtes Anthologiegedicht zwar unzähligen Deutungen und Übersetzungen unterzogen wurde, aber keinen Schaden davongetragen hat. Geschrieben 1859, erzählt es von einem Stadtviertel nahe dem Louvre, das im Zuge der von Napoleon III. angeschobenen Umbauarbeiten in Paris abgerissen wurde. Das lyrische Ich, das über die neu geschaffene Place du Carrousel geht, erinnert sich mit Bedauern an das alte Durcheinander und mischt in seine schweifenden Gedanken ein Motiv der antiken Mythologie ("Andromaque, je pense à vous!") sowie das Bild eines kränkelnden Schwans, der in abgewandelter Gestalt schon in einem anderen Gedicht Baudelaires auftauchte.
Diese inhaltliche Diskordanz wirkt umso stärker, als Baudelaire sie in die hier schon altertümlich anmutende Form des Alexandriners gegossen hat - ein Geniestreich, der als zusätzliche, sinnstiftende Ebene in eine deutsche Übersetzung mit einfließen sollte. Werle, der sich mit seinen Übertragungen der Tragödien Racines einen Namen gemacht hat, löst dieses Problem, indem er besonders darauf achtet, möglichst eine Zäsur um die sechste Silbe herum zu setzen und die Reimstruktur einzuhalten. Beides gelingt nicht immer, aber erstaunlich häufig, was das von ihm erklärte Ziel, die Gedichte Baudelaires so zu übersetzen, dass sie mündlich gut vorzutragen sind (eben so wie die Tragödien Racines) in greifbare Nähe rücken lässt: "Im Geiste nur kann ich das Lager aus Baracken sehen, / Der Säulenschäfte Stapel und die Kapitelle, roh bossiert, / Das Unkraut, Blöcke, grün, weil sie in Pfützen stehen, / Und all den Wirrwarr, grell in Fensterscheiben reflektiert."
Um der Metrik willen greift Werle allerdings zuweilen auf einen Wortschatz und Formulierungen zurück, die deutlich schwerfälliger klingen als die französischen Originale - der deutsche Vers von "der Säulenschäfte Stapel und die Kapitelle, roh bossiert" wirkt beispielsweise kompakter als das französische "Ces tas de chapiteaux ébauchés et de fûts". Auch die in der Gedichtmitte erhobene Klage "Paris change! mais rien dans ma mélancolie / n'a bougé!" hat Werle mit der Zeile "Paris mutiert! Nichts aber in meiner Melancholie / hat sich bewegt!" zwar getreu übersetzt. Eine kürzere, schön schlackenlose Version liefert aber beispielsweise Monika Fahrenbach-Wachendorff in ihrer Gesamtübersetzung: "Paris verändert sich! Mir bleibt Melancholie!". Auch an anderer Stelle zu findende Begriffe wie Schwimmerfuß (für "pieds palmés"), Nachtmare (für "visions nocturnes") und alte Klausnereien (für "cloîtres anciens") strahlen eine Behäbigkeit aus, die Baudelaires Gedichten eigentlich nicht innewohnt.
Gleichwohl liegt oft ein eigener Reiz in der auf das Klangbild sich fokussierenden Übertragung von Simon Werle. Immer wieder gelingen ihm Gedichte (wie "Tout entière" oder "L'ennemi"), die förmlich danach rufen, laut gelesen zu werden, so fein aufeinander abgestimmt sind Prosodie und Metrik. Mag sein, dass ihnen die heitere Distanz der Originale manchmal fehlt. Vielleicht ist auch der Ton einen Hauch erhabener als er sein müsste. Aber Baudelaire wird nicht umsonst so häufig übersetzt. Da darf sich glücklich schätzen, wem, wie Werle, so manche Perle hier gelingt.
LENA BOPP
Charles Baudelaire: "Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen". Zweisprachige Ausgabe.
Aus dem Französischen von Simon Werle. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 525 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Baudelaires Gedichtzyklus "Les Fleurs du Mal" ist ein Schlüsselwerk der Moderne, das vielfach übertragen wurde. Simon Werle legt in seiner Übersetzung den Akzent auf lebendige Klanggestalt.
Die Gedichte von Charles Baudelaire sind oft ins Deutsche übersetzt, doch natürlich nie erreicht worden. Abschreckend hat beides aber nicht gewirkt. Die Übertragungen von den erstmals 1857 erschienen "Blumen des Bösen" zählen locker mehrere Dutzend, wenn man all jene mitrechnet, die nur ausgewählte Gedichte von Baudelaires Werk umfassen. Unvergessen sind die von Stefan George selbst sogenannten "Umdichtungen", die 1891 zunächst in der verschwindend geringen Auflage von fünfundzwanzig Exemplaren, dafür als faksimilierte Handschrift in des erlauchten Übersetzers Kreis verteilt wurden und nur vierzig der insgesamt 162 Gedichte enthielten. Wer immer sich die "Blumen des Bösen" heute vornimmt, kommt aber auch an den stattlichen sieben deutschen Übersetzungen nicht vorbei, die diesem Hauptwerk der französischen Dichtung als Ganzem gewidmet sind. Wobei die Herausforderung, die stets darin besteht, sich von der Wortwahl der anderen vielleicht anregen zu lassen, aber auch abzusetzen, mit jeder neuen Übersetzung schwieriger wird.
Diesen Balanceakt ist nun Simon Werle eingegangen, dessen Übertragung des Baudelaireschen Werks zum heutigen 150. Todestag des Dichters bei Rowohlt im Rahmen einer zweisprachigen Ausgabe erscheint. Im Aufbau folgt sie den Gepflogenheiten, die sich im Laufe der Jahre entwickelt und als sinnvoll herausgestellt haben. Ihr Ziel ist es, möglichst alle Gedichte Baudelaires in einem Band zu versammeln, weshalb die "Blumen des Bösen", wie sie im Deutschen seit Jahrzehnten vorliegen, stets so etwas wie Stückwerk sind. So ist es auch mit Simon Werles Übersetzung.
Sie basiert auf der französischen Ausgabe, die 1861 erschien, also vier Jahre nach dem Prozess, der Baudelaire nach dem Erscheinen seiner ersten Ausgabe gemacht worden war. Angeklagt wegen Blasphemie und Beleidigung der öffentlichen Moral, war der Dichter dazu verurteilt worden, sechs seiner Gedichte aus dieser ursprünglichen Ausgabe zu tilgen. Diese von ihm als heftige Schmach empfundene Strafe wetzte er aus, indem er seiner zweiten Ausgabe mehr als dreißig neue Gedichte hinzufügte und die sechs verbotenen ein paar Jahre später in einem neuen Band mit dem Titel "Les Epaves" abermals veröffentlichte. "Les Epaves" bilden somit stets den zweiten Teil der deutschen "Blumen des Bösen". Der dritte versammelt schließlich all das, was nach Baudelaires Tod an weiteren Gedichten von ihm erscheinen ist.
Nicht aufgenommen wurden in die Übersetzung von Simon Werle hingegen Baudelaires Entwürfe für ein Vorwort (und einen Epilog), was schade ist, weil sie die Verbitterung des Dichters über den Ausgang des Prozesses sowie die allgemein sehr verhaltene Rezeption seines Werks durch die Presse sehr deutlich zum Ausdruck bringen. Das Ansinnen seines Verlegers etwa, der Dichter möge doch für die zweite Ausgabe seine Absichten etwas erläutern, um seine Kunst verständlicher zu machen, wies Baudelaire in einer Vorwortskizze mit dem im Grunde die Leser beleidigenden Einwand zurück, "dass dies ein für die einen wie für die anderen gänzlich überflüssiges Geschäft wäre, weil die einen Bescheid wissen oder ahnen, worum es geht, und weil die anderen nie etwas begreifen werden". Auch auf Anmerkungen zu einzelnen Gedichten, zu ihrer Genese oder einzelnen verwendeten Formulierungen etwa, wie sie in anderen Gesamtübersetzungen durchaus zu finden sind, verzichtet Simon Werle.
Er konzentriert sich formal also auf das, was ihm auch inhaltlich wichtig ist. Bei allem Bemühen um Ausgewogenheit wolle er, so erläutert Werle in seinem Nachwort, wo es denn nötig sei, der "lebendigen Klanggestalt des Textes" den Vorrang vor inhaltlicher Präzision geben - eine legitime Entscheidung, die vor ihm schon andere getroffen haben. Nicht zuletzt Stefan George, dessen Übersetzung allerdings recht schwülstig ausgefallen ist und oft weit weg führt vom Original, viel weiter als Werle es sich je erlaubt. Mit dieser Entscheidung entzieht sich Werle zumindest teilweise einer besonderen Schwierigkeit beim Übersetzen dieser Dichtung. Sie liegt in der Aufgabe begründet, die eigentlich disparaten Motive und Metaphern, die zu Baudelaires Schaffenszeit ungekannte, auch unerhörte Verbindungen miteinander eingingen und auf diese Weise etwas evozierten, worin man erst später Baudelaires Modernität erkannt hat, in eine Sprache zu bringen, welche diese Widersprüchlichkeit ebenso wie die Anknüpfungspunkte ihrerseits zum Ausdruck bringt. Gut nachvollziehen lässt sich dies an einem Gedicht wie "Der Schwan", das als beliebtes Anthologiegedicht zwar unzähligen Deutungen und Übersetzungen unterzogen wurde, aber keinen Schaden davongetragen hat. Geschrieben 1859, erzählt es von einem Stadtviertel nahe dem Louvre, das im Zuge der von Napoleon III. angeschobenen Umbauarbeiten in Paris abgerissen wurde. Das lyrische Ich, das über die neu geschaffene Place du Carrousel geht, erinnert sich mit Bedauern an das alte Durcheinander und mischt in seine schweifenden Gedanken ein Motiv der antiken Mythologie ("Andromaque, je pense à vous!") sowie das Bild eines kränkelnden Schwans, der in abgewandelter Gestalt schon in einem anderen Gedicht Baudelaires auftauchte.
Diese inhaltliche Diskordanz wirkt umso stärker, als Baudelaire sie in die hier schon altertümlich anmutende Form des Alexandriners gegossen hat - ein Geniestreich, der als zusätzliche, sinnstiftende Ebene in eine deutsche Übersetzung mit einfließen sollte. Werle, der sich mit seinen Übertragungen der Tragödien Racines einen Namen gemacht hat, löst dieses Problem, indem er besonders darauf achtet, möglichst eine Zäsur um die sechste Silbe herum zu setzen und die Reimstruktur einzuhalten. Beides gelingt nicht immer, aber erstaunlich häufig, was das von ihm erklärte Ziel, die Gedichte Baudelaires so zu übersetzen, dass sie mündlich gut vorzutragen sind (eben so wie die Tragödien Racines) in greifbare Nähe rücken lässt: "Im Geiste nur kann ich das Lager aus Baracken sehen, / Der Säulenschäfte Stapel und die Kapitelle, roh bossiert, / Das Unkraut, Blöcke, grün, weil sie in Pfützen stehen, / Und all den Wirrwarr, grell in Fensterscheiben reflektiert."
Um der Metrik willen greift Werle allerdings zuweilen auf einen Wortschatz und Formulierungen zurück, die deutlich schwerfälliger klingen als die französischen Originale - der deutsche Vers von "der Säulenschäfte Stapel und die Kapitelle, roh bossiert" wirkt beispielsweise kompakter als das französische "Ces tas de chapiteaux ébauchés et de fûts". Auch die in der Gedichtmitte erhobene Klage "Paris change! mais rien dans ma mélancolie / n'a bougé!" hat Werle mit der Zeile "Paris mutiert! Nichts aber in meiner Melancholie / hat sich bewegt!" zwar getreu übersetzt. Eine kürzere, schön schlackenlose Version liefert aber beispielsweise Monika Fahrenbach-Wachendorff in ihrer Gesamtübersetzung: "Paris verändert sich! Mir bleibt Melancholie!". Auch an anderer Stelle zu findende Begriffe wie Schwimmerfuß (für "pieds palmés"), Nachtmare (für "visions nocturnes") und alte Klausnereien (für "cloîtres anciens") strahlen eine Behäbigkeit aus, die Baudelaires Gedichten eigentlich nicht innewohnt.
Gleichwohl liegt oft ein eigener Reiz in der auf das Klangbild sich fokussierenden Übertragung von Simon Werle. Immer wieder gelingen ihm Gedichte (wie "Tout entière" oder "L'ennemi"), die förmlich danach rufen, laut gelesen zu werden, so fein aufeinander abgestimmt sind Prosodie und Metrik. Mag sein, dass ihnen die heitere Distanz der Originale manchmal fehlt. Vielleicht ist auch der Ton einen Hauch erhabener als er sein müsste. Aber Baudelaire wird nicht umsonst so häufig übersetzt. Da darf sich glücklich schätzen, wem, wie Werle, so manche Perle hier gelingt.
LENA BOPP
Charles Baudelaire: "Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen". Zweisprachige Ausgabe.
Aus dem Französischen von Simon Werle. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 525 S., geb., 38,- [Euro].
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