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William Trevor hat hinreißende Erzählungen geschrieben: Die letzten erscheinen nun auf Deutsch
William Trevor ist 2016 mit 88 Jahren gestorben. Nun liegen seine "Letzten Erzählungen" auch auf Deutsch vor. Zuweilen zieht man nach dem Tod eines Autors Manuskripte aus der Schublade, denen man anmerkt, dass sie noch nicht ganz fertig sind. Bei Trevor kann davon keine Rede sein. Seine letzten zehn Geschichten gehören zum Besten, was er geschrieben hat.
Geboren in Irland, ist er nach seinem Studium in Dublin nach England gezogen, wo er den größten Teil seines Lebens im südlichen Devon zugebracht hat, in einer Landschaft mit grünen Küsten und dörflichen Kleinstädten. In seinen früheren Jahren war er Bildhauer. Als er zum Schreiben überging, hat er die Arbeitsweise des Bildhauers beibehalten: wegklopfen, abtragen, reduzieren. Angefangen damit hat er bei seinem Nachnamen Cox, den er einfach gestrichen hat. Seine Hauptarbeit, erklärte Trevor einmal, bestehe darin, Dutzende von Seiten vollzuschreiben, um danach mit der Schere das meiste wegzuschneiden, in regelrechter Handarbeit. Was dabei übrig blieb, wirkt jedoch nicht wie ausgeschnitten, im Gegenteil. An Raymond Carver hat man immer seinen Minimalismus bewundert, der zum Erstaunen der Nachwelt gar nicht ihm selbst zu verdanken war, sondern seinem Lektor, wie sich nach Carvers Tod herausstellen sollte. Trevor hat das Schnippeln selbst erledigt. Dabei bedient er keineswegs solche Kurzgeschichtentricks, die den Leser bis zuletzt rätseln lassen, worum es eigentlich geht. Seine Erzählungen sind verkappte, verknappte Romane.
Nicht selten vermitteln sie das Gefühl, die Zeit stünde still. Doch sie steht nicht still, es geschieht eine ganze Menge, allerdings nicht nach außen hin. Das Entscheidende ereignet sich im Unsichtbaren, im Alleinsein, im Normalität-Spielen. Weder sind Trevors Figuren große Redner noch große Selbst- und Welterklärer. Ihre unscheinbaren Verzweiflungen machen sie mit sich allein aus, ohne jedes Aufsehen. Doch was heißt schon Verzweiflung? Sie selbst würden solche Worte wohl kaum in den Mund nehmen. Sie würden auch nicht von Einsamkeit reden. Auf uns Leser mögen sie verloren wirken, sie selbst würden das vermutlich anders sehen oder es allenfalls in verstörenden Momenten so empfinden. Schließlich ist jedes Leben beschädigt, jedes auf seine Weise.
Und auf einmal sind diese Leben halb vorbei oder zu Ende. Das Gefühl von Zeitstillstand trügt. Trevors Geschichten sind voller Sprünge, von jetzt auf gleich sind ganze Jahre dahingehuscht und ganze Jahrzehnte. Das Einzige, was dabei nicht vergeht, ist die Vergangenheit, wie es einmal heißt. In der Geschichte "Ein Idyll im Winter" verlässt ein Mann Frau und Kinder. Seine Ehe scheint nicht unglücklich gewesen zu sein, doch eines Tages schaut er bei einer früheren Schülerin vorbei, die er lange nicht gesehen hat. Er zieht zu ihr aufs Land, die neue Zweisamkeit scheint gutzutun. Eines Tages bekommt er einen Brief, in dem steht, dass eine seiner Töchter nichts mehr isst. "Da kann man nichts machen", lautet sein Kommentar. Es wird vorübergehen, denkt er. Und es geht auch vorüber. Trotzdem kehrt er zurück. Stets steht etwas im Weg, egal, was man macht, egal, wofür man sich entscheidet.
Es ist eine der wenigen Geschichten, bei der ein Mann im Zentrum steht, meist sind es Frauen. Wie beispielsweise jene alleinstehende Klavierlehrerin, die für ihren Vater nach dem frühen Tod der Mutter das Ein und Alles war. Sechzehn Jahre lang hatte sich ein verheirateter Mann zu ihr ins Haus geschlichen; immer hatte er "sich . . . auf sie gepresst und geflüstert, wie schön sie sei" und "geschworen, ohne sie nicht leben zu können". Die Klavierstunde ihres Lieblingsschülers legt sie auf den Freitagnachmittag, um ihm übers Wochenende nah zu bleiben. Ihre anderen Schüler sind unbegabt, in ihn setzt sie alle Hoffnung. Eines Tages bemerkt sie, dass er jedes Mal etwas mitgehen lässt, auf unerklärliche Weise. "Als er die Préludes von Chopin zu spielen begann, war der Briefbeschwerer mit dem Rosenblütenblatt noch da. Nachdem sie ihn an der Tür verabschiedet hatte, war er verschwunden." Aus Angst, er würde nicht wiederkommen, wagt sie nicht, ihn darauf anzusprechen. "Doch jedes Mal, wenn der Junge gegangen war, lag eine Art Spott in der leise nachhallenden Musik." Von heute auf morgen bleibt auch er einfach weg.
Trevors Figuren scheinen ihr Schicksal nie zu wählen, sie ertragen es. Die Welt kriegt davon nicht viel mit. Oder nur selten, wie etwa in der Geschichte "Der verkrüppelte Mann", in der zwei Wanderarbeiter, die kaum Englisch können, in den wenigen Stunden, da sie eine Hauswand verputzen, eine Ahnung von dem Unglück bekommen, das sich drinnen abspielt. Manchmal lassen auch nur Nebensätze ein ganzes Leben aufblitzen. Dass ein totes Mädchen ihr Geld nicht nur mit Putzen verdient hat, erfährt man en passant. Ebenso begegnet man immer wieder paradoxen Momenten, wie etwa bei einer Witwe, die gerade ihren Mann zu Grabe getragen hat. Auf der Rückfahrt vom Friedhof blickt sie in den Rückspiegel und freut sich an ihren Haaren, Lippen, Augen. "Sie mochte ihr Aussehen, hatte es schon immer gemocht", heißt es lapidar, als sei sie auf dem Weg zu einem Rendezvous. Sie glaubt, noch ein Leben vor sich zu haben.
Meist aber richten Trevors Figuren ihren Blick in die Vergangenheit. Große Träume haben sie in aller Regel keine mehr, doch eine linde Zuversicht lässt sie weitermachen. Im letzten Satz des Buches ist vom "Geflüster tröstlichen Zweifels" die Rede. Anders könnten sie die beiläufigen Grausamkeiten des Lebens und seine banalen Abgründe schwer aushalten. Das Komplizierte kommt bei Trevor unkompliziert daher; einfach wird es dadurch nicht. Sein Stil ist nüchtern, aber nicht kühl. Er strahlt eine Wärme aus, die nichts Sentimentales kennt. Das stille Unglück, von dem er erzählt, kann einen als Leser süchtig machen.
Was öffentliche Präsenz angeht, hat Trevor zu den Stilleren gehört. Dass er regelmäßig für den Nobelpreis im Gespräch war, hat man kaum wahrgenommen. Bei seinen "Letzten Erzählungen" überkommt einen fast das Gefühl, als ginge mit ihnen eine Literatur zu Ende, die etwas von einem ländlich-langsamen Leben atmet, selbst dort, wo London die Kulisse bildet. Wovon Trevor auch immer erzählt, es klingt auf befriedende Weise unaufgeregt. Der Übersetzer Hans-Christian Oeser lässt die schlichte Schönheit dieser Sprache auch hier wieder im Deutschen aufleuchten.
KARL-HEINZ OTT
William Trevor: "Letzte Erzählungen".
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020. 207 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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