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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mit Jörn Leonhard zu den semantischen Quellen des Liberalismus
Was Liberale eigentlich wollen, ist eine nicht nur tagesaktuelle Frage, und sie findet ihre Antwort auch nicht im Hinweis auf das „Projekt 18” oder eine Kanzlerkandidatur. „Liberale wollten die Welt verändern.” Mit diesem Satz begann Dieter Langewiesche 1988 seine Geschichte des Liberalismus in Deutschland. Jörn Leonhard teilt diesen Befund, doch möchte er ihn differenzieren. Liberale wollten zu je unterschiedlichen Zeiten eine je unterschiedliche Welt verändern. Aus dieser einleuchtenden, wenn auch vagen These entwickelt Leonhard seine vergleichende Untersuchung der historischen Semantik von Liberalismus im 19. Jahrhundert. Die magistrale Studie, die der in England lehrende Historiker vorlegt, ist freilich keine umfassende Darstellung des Liberalismus, sondern vielmehr ein Atlas des europäischen Liberalismus im 19. Jahrhundert, der die semantischen Landkarten unterschiedlicher politisch-sozialer Landschaften im zeitlichen Längsschnitt aufnimmt und miteinander verknüpft. Das umfangreiche Kartenwerk widerspricht so schon von der Anlage her der Vorstellung eines homogenen und statischen Liberalismus. Wichtigster Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Wandel der politischsozialen Sprache in der Zeit zwischen 1750 und 1850, in Reinhart Kosellecks „Sattelzeit” also. Für Koselleck wurden während jener Phase tiefgreifender und grundstürzender Transformation aus vergangenen „moderne” Begriffe. Bestimmte Leit- und Grundbegriffe luden sich ideologisch und mit spezifischen Erwartungen und Zielen auf; durch Verzeitlichung und Politisierung entstanden wirkmächtige Bewegungsbegriffe. Das begriffsgeschichtliche Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe”, von Koselleck, Brunner und Conze herausgegeben, war der Versuch, diesen Wandel historisch- analytisch zu fassen und damit auch jene „babylonische Sprachverwirrung” zunächst zu erklären und dann aufzulösen, die Carl von Rotteck schon 1837 in seinem Staatslexikon konstatierte.
Den „Geschichtlichen Grundbegriffen” ist verschiedentlich vorgehalten worden, traditionell ideengeschichtlich vorzugehen und auf eine sozialhistorische Konturierung der semantischen Bestimmungen, auf eine sozialhistorische Semantik zu verzichten. Diese Kritik gewann Auftrieb vor allem im Zeichen der linguistischen und konstruktivistischen Wende in der Geschichtswissenschaft. Diese Kritik öffnet und weitet Begriffsgeschichte nicht nur sozialhistorisch, sondern auch diskursanalytisch, indem sie, nicht zuletzt mit Michel Foucault, eine schärfere Analyse der Voraussetzungen kommunikativen Handelns einfordert.
Damit sind die wesentlichen Ansätze benannt, die der Arbeit Leonhards zugrunde liegen und die seine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus in Deutschland, dem liberalism in England, dem libéralisme in Frankreich und dem liberalismo in Italien bestimmen. Wie entstanden, entwickelten und veränderten sich Bedeutung, Gebrauch und Verständnis der Deutungsmuster Liberalität / liberal / Liberale / Liberalismus zwischen Französischer Revolution und der Mitte des 19. Jahrhunderts? Welche Konjunkturen der Begriffsverwendung lassen sich aufzeigen? Gab es Berührungspunkte zwischen den verschiedenen nationalen Begriffsfeldern? Existierten semantische Transferprozesse? Wie wirkten unterschiedliche Erfahrungshintergründe und Erwartungshorizonte auf das Begriffsverständnis von Liberalismus ein? Die komparatistische Perspektive, die diesen Fragen innewohnt, ist offen. Sie zielt auf Gemeinsamkeiten und auf Unterschiede; nicht zuletzt eröffnet sie die Möglichkeit, „semantische Sonderwege” zu identifizieren. Und in der Tat spricht der Autor am Ende seiner Studie nicht von dem Liberalismus und der Sattelzeit, sondern von typologischen Liberalismen und semantischen Sattelzeiten.
Die Vorreiterfunktion für die Genese und den Wandel des Begriffsfeldes in Kontinentaleuropa kam Frankreich zu. Die Erfahrung der Französischen Revolution stieß Prozesse der Begriffspolitisierung und -ideologisierung an, die dann weit über das Mutterland der Revolution hinauswirkten, sei es als direkter Begriffsexport, sei es als indirekter Bedeutungstransport, wie Leonhard so subtil wie treffend unterscheidet. In Frankreich selbst bewirkten die dichte Abfolge der politisch-konstitutionellen Krisen, aber auch die sozialen und sozialkulturellen Veränderungen seit 1789 eine enorme Dynamisierung des Begriffsfeldes, welches bereits um 1820 alle vorpolitischen und vorideologischen Inhalte hinter sich gelassen hatte. Nur ein Jahrzehnt später, 1830, war aus dem Oppositionsbegriff „libéral” ein Zentral- und Generalbegriff der Juli-Monarchie geworden.
Anders als in Frankreich dominierte in Deutschland bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Liberalismusverständnis den politischen Diskurs, das Liberalismus vor allem als Verkörperung universeller und zivilisatorischer Prinzipien ansah, ein im Sinne der Aufklärung fortschrittsgewisses und damit antirevolutionäres Begriffsverständnis, das auch die Staatsnähe – als Staatshoffnung – deutscher Liberaler erklärt. Erst die repressive staatliche Politik der Ära Metternich lud das deutsche Liberalismusverständnis politisch auf, ließ aus Liberalismus einen Oppositionsbegriff werden. Aber noch in der Gegensatzkonstruktion liberal – radikal scheint das ursprüngliche und vorpolitische deutsche Liberalismusverständnis auf. Die Langlebigkeit dieser vorpolitischen Dimension gehört zu den definierenden Merkmalen der deutschen Entwicklung. Im Begriff des „Unpolitischen”, unter anderem bei Thomas Mann, lässt sie sich bis ins 20. Jahrhundert aufweisen: als ein Verständnis bürgerlicher, national überformter Liberalität, das vom politischen Richtungsbegriff des Liberalismus weit entfernt ist.
In Italien wurde die historische Semantik von Liberalismus zunächst durch die Französische Revolution und napoleonische Herrschaft bestimmt, später, nach 1815 durch die von der römischen Kurie vorgenommene Antagonismuskonstruktion liberalismo – cattolicismo. Das zwang italienische Liberale, in jedem Einzelstaat auf andere Weise, in erster Linie zur Positionsnahme in der Frage der Revolutionsbefürwortung und führte so zur politischen Ausdifferenzierung.
Der englische Diskurs schließlich unterscheidet sich grundlegend vom kontinentaleuropäischen. Sattelzeit ist hier das 17. Jahrhundert mit seinen politischen Umwälzungen. Noch zwei Jahrhunderte später kristallisierte sich derjenige Diskurs, der sich auf dem Kontinent mit dem Wort „liberal” verband, an die Bezeichnungen „whig” und „tory” an, die sich erst ganz allmählich mit den Begriffen „liberal” und „conservative” verbanden. Die Verknüpfung der Begriffe unterstreicht und erklärt, warum „liberal” in England lange Zeit nicht zum ideologisierten Oppositions- und Bewegungsbegriff werden konnte, sondern, im Gegenteil, eine politischen Kultur der Kontinuität und der Evolution herausbilden und stabilisieren half, wie sie nicht zuletzt in der „whig interpretation of history” ihren Ausdruck gefunden hat.
Diese politische Diskursanalyse ergänzt Leonhard um Ansätze einer sozialhistorischen Rückbindung der Semantik, nicht zuletzt durch die Frage nach den Trägergruppen des Diskurses. Und gerade weil Geschichte niemals in ihrer sprachlichen Erfassung und Verarbeitung aufgehen kann, liegt hier ein weites und wichtiges Terrain für künftige Forschung. Diese wird indes an der Pionierstudie von Leonhard nicht vorbei kommen, die Maßstäbe gesetzt hat für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema.
ECKART CONZE
JÖRN LEONHARD: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. Oldenbourg Verlag, München 2001. 799 S., 79,85 Euro.
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