Raimund Merz kennt Moritz und Floriane von Kindheit an. Ihr Lebensmittelpunkt ist ein wilder Garten am Dorfrand. Als Inger zu ihnen stößt, die Tochter eines dänischen Künstlers, bilden die vier eine verschworene Gemeinschaft, bis sich beide Jungen in das Mädchen verlieben. Inger entscheidet sich für Moritz, Raimund und die ehrgeizige Floriane werden ebenfalls ein Paar. Jahre später kreuzen sich die Wege der vier erneut – für Raimund die Chance, sich der Leere seines Lebens ohne Inger zu vergegenwärtigen. Verzweifelt sucht er nach einem Weg zurück zu sich selbst und zu einer Aussöhnung mit der Vergangenheit. In einem furiosen Finale bricht er auf nach Lyon zu einem Gemälde, das ihn in Bann zieht wie in der Kindheit der wilde Garten. Mirko Bonnés großer Liebesroman überträgt das Wahlverwandtschaften-Thema in die heutige Zeit. Er fragt nach Gründen von Entzweiung und Entfremdung und zeichnet dabei das ergreifende Porträt eines Mannes, der die Kraft findet, aus dem Schatten über seinem Dasein hinauszutreten. "Lichter als der Tag" eröffnet ihm und dem Leser den Schatz einer verschütteten Welt.
buecher-magazin.deLicht, das ist das Lachen von Inger - nach deren Verschwinden Raimund Merz ein aufgeräumtes Schattendasein als Ehemann, Vater und Redaktionsangestellter führt. Sein "Lichtweh" treibt ihn immer wieder in die Hamburger Bahnhofshalle, wo er seit seinen Kindheitstagen dieses ganz bestimmte Leuchten findet. Und eben dort sieht er zufällig Inger wieder. Hier setzt die Geschichte an, die vier Freunde aus Kindheitstagen in der Mitte ihres Lebens wieder einholt: Raimund, Moritz, Floriane und Inger, die Tochter eines dänischen Künstlers, die nach dem Tod ihrer Eltern in Sülldorf strandete. Dieses eingeschworene Quartett zerbrach an der Liebe und am Verrat. Das wird bald klar, doch was sich genau ereignete, bleibt lange im Dunkeln. Daraus entwickelt diese Liebesgeschichte ihren intensiven Sog. Als Raimund aus dem depressiven Wohlstandsbürgertum-Dasein, in dem er sich mit Floriane eingerichtet hat, ausbricht, folgt man ihm atemlos. Fiebert den virtuos eingesetzten Rückblenden entgegen, die wie aufleuchtende Erinnerungssplitter das komplizierte Beziehungsgeflecht nach und nach freilegen. Doch die erstaunlichsten Entwicklungen geschehen in der Gegenwart, als Raimund sein Leben endlich selbst in die Hand nimmt und erkennt, dass es der Schatten ist, der das Licht zum Leuchten bringt.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2017Die Liebe, ein Fliehkraftmotor
Korrektur der "Wahlverwandtschaften": Mirko Bonné hat einen bestechenden Roman über die Macht der Sehnsucht verfasst
Mirko Bonné ist ein wahrer Schriftsteller des Herzens, ein Melancholiker altmeisterlichen Formats, in dem doch etwas kindlich Ungestümes rumort. Vor allem seine nunmehr drei großen Romane über das Verschwinden im Eigendunkel der Depression, die zugleich von einer betörend naiven Auflehnung gegen dieses Verschwinden handeln, sind Zeugnisse eines literaturgeschichtlich fundierten und erzählerisch reifen Stils: Wie ein Innenarchitekt vermag Bonné Erinnerungsräume auszustaffieren und für seine Leser bewohnbar zu machen. Wie ein Lichtmaler fertigt er Landschaftsbilder der Seele an, die anrühren und aufregen. So sehr Arthouse-Kino ist Literatur selten.
Bonné präsentiert uns Menschen im zerzaustesten und verletzlichsten Zustand, ohne sie preiszugeben, schließlich haben sie sich bloß in der Liebe verstolpert. So sehr diese Romane vom Nichtverweilen des glücklichen Augenblicks erzählen, vom Einander-Verpassen, Trauern und Warten, so sehr sind sie zugleich eine Feier des Lebens in all seinen unerwarteten Wendungen. Dieser Doppelblick schlägt sich narrativ nieder in einer gelungenen Verbindung von philosophisch belastbaren Reflexionen über das große Thema des Lebens gegen den Tod mit einer lebendigen, unsentimentalen, zumindest einigermaßen realistischen Handlung, die oft mit Bonnés Sehnsuchtskulturland Frankreich zu tun hat. Arg intellektuell mag das wirken, verkopft aber nicht.
Auch im neuen Roman, der die grundlegende Erzählbewegung und viele Motive mit "Wie wir verschwinden" (2009) und "Nie mehr Nacht" (2013) teilt, sind die Figuren anfangs eingehüllt in eine erinnerungspralle Dunkelheit, die sich, mit anderen Augen angeblickt, plötzlich als "lichter als der Tag" erweist, wie es bei Gryphius und in Bonnés Titel heißt. Das aber hat seinen Preis, erfordert das egoistische Kappen aller halbherzigen Lebenskompromisse. Die Verlorenheit ist hier eine vorgängige, denn die vier Hauptpersonen hatten immer schon mit ihren Dämonen zu kämpfen, mit dem Verlassenwerden durch den Vater (Raimund), dem frühen Verlust beider Eltern (Inger), dem übermächtigen Schatten der Mutter (Floriane) oder dem ökonomischen Scheitern der Eltern (Moritz): "Sie waren alle vier verzweifelt, jeder auf eigene Weise", heißt es tolstoihaft. In ihrer Jugend haben sie zueinandergefunden, sich gegenseitig gerettet, aber eben auch fatal verkettet.
Es geht also um vier Menschen, die sich über Kreuz ineinander verliebt und doch verpasst haben. Raimund, in der Erzählgegenwart Redaktionsangestellter eines Hamburger Nachrichtenmagazins - zum Redakteur hat es nicht gereicht -, war früh verschossen in die rätselhaft traurige dänische Malertochter Inger, die sich zu Raimund hingezogen fühlte, als Partner aber dessen besten Freund Moritz erwählte, einen Pläneschmied und Taugenichts. Raimund verband sich daraufhin mit Moritz' Exfreundin Floriane, einer zielstrebigen Medizinstudentin (hier die eigentlich tragische Heldin): eine "Notgemeinschaft", in der die Liebe nachreifte. Zwar blieben die Paare in dieser Weise zusammen, betrogen einander aber bald gegenseitig, und das mit Folgen nicht nur in Sachen Nachwuchs. Es kam zum großen Krach. Die implodierte Freundschaft hinterließ ein schwarzes Loch, in dem alle Leichtigkeit und Zuversicht verschwand. All dies erfahren wir in komplexen Erinnerungsschleifen.
Dass man viele Jahre lang eine Lebenslüge lebte, wird in dem Augenblick offenbar, in dem Raimund in Hamburg Inger wiedertrifft. Von Florianes Entschiedenheit befeuert, kollabiert das Alltagsleben Raimunds, das ihm auf einmal vorkommt wie die Vorstufe zur Hölle, wie die vom Dschungel überwucherte Zivilisation (Bonné liebt die Natursymbolik). Er wirkt weinerlich, wälzt sich in seiner Lebenskrise und wird in seinem Schmerz herrlich ungerecht: "Konnte man denn bei einer Kieferchirurgin von Liebe sprechen?" Der bevorstehende Tod des offenbar schwer erkrankten Moritz würde das nur scheinbar austarierte System aus dem Gleichgewicht bringen, weiß und hofft und fürchtet Raimund, den allein sein Kollege und guter Freund Bruno - eine Art unbelasteter, vergebungsfähiger Wiedergänger von Moritz - zu verstehen scheint. Nach einer Reise mit Bruno nach Stuttgart eskaliert die Situation. Raimund wird zum Entführer, Dieb und Frankreich-Flüchtling, weil er nur so sein jahrelang auf Stand-by gestelltes Leben zurückholen zu können glaubt.
Hier sind natürlich Goethes "Wahlverwandtschaften" im Spiel, mehr aber noch, was die Atmosphäre angeht, François Truffauts "Jules und Jim". Und doch schreibt Bonné gegen die Teleologie des Tragischen in beiden Vorlagen an. Auch wenn Verrat, falsche Freundschaft und Tod eine große Rolle spielen, ist die Rückkehr zum Glück hier nicht ausgeschlossen. Man muss nur das Unwahrscheinliche wagen, eine Flucht mit dem Liebsten, das man hat, hinaus aus der eigenen Identität - und hinein in ein Bild, in diesem Fall in Camille Corots "Weizenfeld im Morvan", das den Protagonisten seit seiner Jugend fasziniert, weil in ihm ein besonderes, sonst nur hin und wieder im Hamburger Hauptbahnhof zu findendes Licht konserviert ist: "als würde man durch ein Fenster auf einen Sommertag blicken, der längst vergangen war und zugleich bis heute anhielt".
Auch den Roman darf man als ein solches, leicht milchiges Fenster ansehen: Wo sonst kann sich eine Person ganz neuerfinden und den Gang der Zeit umbiegen? Obwohl das Buch geradezu klassisch komponiert ist mit seinen drei Heute-Gestern-Morgen-Teilen (Zusammenbruch; Erinnerung an die gemeinsame Zeit und alle Verwundungen; Aufbruch ins Ungewisse), sind die vier - inklusive Bruno fünf - Porträts kaum entwirrbar ineinander verschlungen. Der Erzähler nimmt in schnellem Wechsel die verschiedenen Figurenperspektiven ein, blickt so routiniert in Köpfe wie ein Koch in Töpfe. Ganz glaubhaft ist die rasant werdende Handlung im dritten Teil freilich nicht, aber auch das trägt zu dem besonderen Licht bei, das diesen Roman umgibt: Seine Glückswendung, das Unterlaufen der Katastrophe, könnte auch eine Schimäre sein, eine nur halbernstgemeinte Revanche der Romantik (und der Romane) gegenüber der Klassik. Unbedingt wahrhaftig hingegen sind die dargestellten Gefühlszustände unglücklich Liebender zwischen Selbstverachtung und Übermutsentschlossenheit. Wie sich all die unterdrückten, von der Kindesliebe überdeckten Sehnsüchte schließlich ihren Weg bahnen bis in die Verantwortungslosigkeit hinein, das ist so präzise beobachtet wie bildstark erzählt. Dass sich Bonné dabei an Protagonisten wagt, die auf unsere Sympathie pfeifen, ist beachtlich.
Nicht alles indes wirkt restlos überzeugend: Der erstaunlichen Zufälle werden doch recht viele bemüht, in einigen Passagen schrammt der Autor nah an der Kolportage vorbei, und manche der hochkulturverliebten Bezüge zur Kunstgeschichte oder zur vergänglichkeitsmelancholischen Barockliteratur haben, obgleich sie inhaltlich stimmig sind, etwas Gesuchtes; wenn etwa bei einer Flashmob-Aktion der Andreas-Gryphius-Schule Zitate aus dem berühmten "Es ist alles eitel"-Sonett in die Luft gehalten werden: "Schatten, Staub und Wind".
Es handelt sich um Literatur mit abgespreiztem kleinem Finger, das muss man wissen, aber keineswegs bedauern, wenn man dadurch einen psychologisch derart treffenden, gänzlich kitschfreien Roman über die Klippen der Liebe erhält. Großes Lichtspiel.
OLIVER JUNGEN.
Mirko Bonné: "Lichter als der Tag". Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2017. 336 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Korrektur der "Wahlverwandtschaften": Mirko Bonné hat einen bestechenden Roman über die Macht der Sehnsucht verfasst
Mirko Bonné ist ein wahrer Schriftsteller des Herzens, ein Melancholiker altmeisterlichen Formats, in dem doch etwas kindlich Ungestümes rumort. Vor allem seine nunmehr drei großen Romane über das Verschwinden im Eigendunkel der Depression, die zugleich von einer betörend naiven Auflehnung gegen dieses Verschwinden handeln, sind Zeugnisse eines literaturgeschichtlich fundierten und erzählerisch reifen Stils: Wie ein Innenarchitekt vermag Bonné Erinnerungsräume auszustaffieren und für seine Leser bewohnbar zu machen. Wie ein Lichtmaler fertigt er Landschaftsbilder der Seele an, die anrühren und aufregen. So sehr Arthouse-Kino ist Literatur selten.
Bonné präsentiert uns Menschen im zerzaustesten und verletzlichsten Zustand, ohne sie preiszugeben, schließlich haben sie sich bloß in der Liebe verstolpert. So sehr diese Romane vom Nichtverweilen des glücklichen Augenblicks erzählen, vom Einander-Verpassen, Trauern und Warten, so sehr sind sie zugleich eine Feier des Lebens in all seinen unerwarteten Wendungen. Dieser Doppelblick schlägt sich narrativ nieder in einer gelungenen Verbindung von philosophisch belastbaren Reflexionen über das große Thema des Lebens gegen den Tod mit einer lebendigen, unsentimentalen, zumindest einigermaßen realistischen Handlung, die oft mit Bonnés Sehnsuchtskulturland Frankreich zu tun hat. Arg intellektuell mag das wirken, verkopft aber nicht.
Auch im neuen Roman, der die grundlegende Erzählbewegung und viele Motive mit "Wie wir verschwinden" (2009) und "Nie mehr Nacht" (2013) teilt, sind die Figuren anfangs eingehüllt in eine erinnerungspralle Dunkelheit, die sich, mit anderen Augen angeblickt, plötzlich als "lichter als der Tag" erweist, wie es bei Gryphius und in Bonnés Titel heißt. Das aber hat seinen Preis, erfordert das egoistische Kappen aller halbherzigen Lebenskompromisse. Die Verlorenheit ist hier eine vorgängige, denn die vier Hauptpersonen hatten immer schon mit ihren Dämonen zu kämpfen, mit dem Verlassenwerden durch den Vater (Raimund), dem frühen Verlust beider Eltern (Inger), dem übermächtigen Schatten der Mutter (Floriane) oder dem ökonomischen Scheitern der Eltern (Moritz): "Sie waren alle vier verzweifelt, jeder auf eigene Weise", heißt es tolstoihaft. In ihrer Jugend haben sie zueinandergefunden, sich gegenseitig gerettet, aber eben auch fatal verkettet.
Es geht also um vier Menschen, die sich über Kreuz ineinander verliebt und doch verpasst haben. Raimund, in der Erzählgegenwart Redaktionsangestellter eines Hamburger Nachrichtenmagazins - zum Redakteur hat es nicht gereicht -, war früh verschossen in die rätselhaft traurige dänische Malertochter Inger, die sich zu Raimund hingezogen fühlte, als Partner aber dessen besten Freund Moritz erwählte, einen Pläneschmied und Taugenichts. Raimund verband sich daraufhin mit Moritz' Exfreundin Floriane, einer zielstrebigen Medizinstudentin (hier die eigentlich tragische Heldin): eine "Notgemeinschaft", in der die Liebe nachreifte. Zwar blieben die Paare in dieser Weise zusammen, betrogen einander aber bald gegenseitig, und das mit Folgen nicht nur in Sachen Nachwuchs. Es kam zum großen Krach. Die implodierte Freundschaft hinterließ ein schwarzes Loch, in dem alle Leichtigkeit und Zuversicht verschwand. All dies erfahren wir in komplexen Erinnerungsschleifen.
Dass man viele Jahre lang eine Lebenslüge lebte, wird in dem Augenblick offenbar, in dem Raimund in Hamburg Inger wiedertrifft. Von Florianes Entschiedenheit befeuert, kollabiert das Alltagsleben Raimunds, das ihm auf einmal vorkommt wie die Vorstufe zur Hölle, wie die vom Dschungel überwucherte Zivilisation (Bonné liebt die Natursymbolik). Er wirkt weinerlich, wälzt sich in seiner Lebenskrise und wird in seinem Schmerz herrlich ungerecht: "Konnte man denn bei einer Kieferchirurgin von Liebe sprechen?" Der bevorstehende Tod des offenbar schwer erkrankten Moritz würde das nur scheinbar austarierte System aus dem Gleichgewicht bringen, weiß und hofft und fürchtet Raimund, den allein sein Kollege und guter Freund Bruno - eine Art unbelasteter, vergebungsfähiger Wiedergänger von Moritz - zu verstehen scheint. Nach einer Reise mit Bruno nach Stuttgart eskaliert die Situation. Raimund wird zum Entführer, Dieb und Frankreich-Flüchtling, weil er nur so sein jahrelang auf Stand-by gestelltes Leben zurückholen zu können glaubt.
Hier sind natürlich Goethes "Wahlverwandtschaften" im Spiel, mehr aber noch, was die Atmosphäre angeht, François Truffauts "Jules und Jim". Und doch schreibt Bonné gegen die Teleologie des Tragischen in beiden Vorlagen an. Auch wenn Verrat, falsche Freundschaft und Tod eine große Rolle spielen, ist die Rückkehr zum Glück hier nicht ausgeschlossen. Man muss nur das Unwahrscheinliche wagen, eine Flucht mit dem Liebsten, das man hat, hinaus aus der eigenen Identität - und hinein in ein Bild, in diesem Fall in Camille Corots "Weizenfeld im Morvan", das den Protagonisten seit seiner Jugend fasziniert, weil in ihm ein besonderes, sonst nur hin und wieder im Hamburger Hauptbahnhof zu findendes Licht konserviert ist: "als würde man durch ein Fenster auf einen Sommertag blicken, der längst vergangen war und zugleich bis heute anhielt".
Auch den Roman darf man als ein solches, leicht milchiges Fenster ansehen: Wo sonst kann sich eine Person ganz neuerfinden und den Gang der Zeit umbiegen? Obwohl das Buch geradezu klassisch komponiert ist mit seinen drei Heute-Gestern-Morgen-Teilen (Zusammenbruch; Erinnerung an die gemeinsame Zeit und alle Verwundungen; Aufbruch ins Ungewisse), sind die vier - inklusive Bruno fünf - Porträts kaum entwirrbar ineinander verschlungen. Der Erzähler nimmt in schnellem Wechsel die verschiedenen Figurenperspektiven ein, blickt so routiniert in Köpfe wie ein Koch in Töpfe. Ganz glaubhaft ist die rasant werdende Handlung im dritten Teil freilich nicht, aber auch das trägt zu dem besonderen Licht bei, das diesen Roman umgibt: Seine Glückswendung, das Unterlaufen der Katastrophe, könnte auch eine Schimäre sein, eine nur halbernstgemeinte Revanche der Romantik (und der Romane) gegenüber der Klassik. Unbedingt wahrhaftig hingegen sind die dargestellten Gefühlszustände unglücklich Liebender zwischen Selbstverachtung und Übermutsentschlossenheit. Wie sich all die unterdrückten, von der Kindesliebe überdeckten Sehnsüchte schließlich ihren Weg bahnen bis in die Verantwortungslosigkeit hinein, das ist so präzise beobachtet wie bildstark erzählt. Dass sich Bonné dabei an Protagonisten wagt, die auf unsere Sympathie pfeifen, ist beachtlich.
Nicht alles indes wirkt restlos überzeugend: Der erstaunlichen Zufälle werden doch recht viele bemüht, in einigen Passagen schrammt der Autor nah an der Kolportage vorbei, und manche der hochkulturverliebten Bezüge zur Kunstgeschichte oder zur vergänglichkeitsmelancholischen Barockliteratur haben, obgleich sie inhaltlich stimmig sind, etwas Gesuchtes; wenn etwa bei einer Flashmob-Aktion der Andreas-Gryphius-Schule Zitate aus dem berühmten "Es ist alles eitel"-Sonett in die Luft gehalten werden: "Schatten, Staub und Wind".
Es handelt sich um Literatur mit abgespreiztem kleinem Finger, das muss man wissen, aber keineswegs bedauern, wenn man dadurch einen psychologisch derart treffenden, gänzlich kitschfreien Roman über die Klippen der Liebe erhält. Großes Lichtspiel.
OLIVER JUNGEN.
Mirko Bonné: "Lichter als der Tag". Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2017. 336 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.08.2017Lebendigkeit in
jeder Sekunde
Mirko Bonné sucht die wahren
Gefühle seiner Figuren
Zwei Männer, zwei Frauen, in der Jugend miteinander verbunden als vier unzertrennliche Freunde, schließlich in Paare sortiert, wobei freilich die Sortierung falsch verlief, einige Kinder, die die Paare zeugten, die aber nicht genau wissen, welcher der zwei Männer der jeweilige Vater ist – dies Durcheinander ergibt einen Plot, der ausreicht für einen zugkräftigen Roman.
So einfach aber macht es sich und seinem Leser Mirko Bonné nun doch nicht. Die vier Figuren haben komplizierte Charaktere – Gelegenheit genug zu vier Seelengemälden, die er in viele kleine Episoden auflöst, um sie nebeneinander und durcheinander zu erzählen. Der Autor wandelt von Szene zu Szene, von Bild zu Bild, schaut hin, prüft, kehrt zurück, prüft noch einmal und schreibt, was er durch penibles Studium über das Innenleben und die Vergangenheit der Figuren herausgebracht hat, in knappen Notizen nieder. So setzt sich denn der Roman, eine Analyse von vier eigenwilligen Typen, aus Hunderten kurzen Absätzen zusammen, die Erzählung springt von dieser zu jener Figur, einmal wird dieses, einmal jenes Schicksal erzählt. Oft beginnt ein Absatz mit dem Bericht von einer neuen Person, während im Absatz gerade zuvor man sich in die Seele einer ganz anderen hatte vertiefen sollen, oft setzt der neue Absatz mit einem inneren Monolog ein, und so hat der Leser seine liebe Not zu verstehen, um welche Person, um welche Geschichte, um welche Seele es denn nun gerade eben geht.
Diese Diskontinuität des Erzählens erschwert die Lektüre mit voller Absicht, denn einen faulen, einen unaufmerksamen, einen unkonzentrierten Leser akzeptiert Bonné keinesfalls. Die billige Einfühlung in Romanfiguren, die so modische Empathie, verhindert er durch diese Taktik der stückhaften Darstellung entschieden. Sie spiegelt das schrittweise Vorankommen eines Erzählers, der in die Seelentiefen hinuntersteigt und nur Bruchstücke einer Konfession freizulegen im Stande ist. Die Fragmente zum Mosaik eines Lebens zusammenzusetzen, ist eine Aufgabe, an der sich auch der Leser beteiligen soll.
Die vielen perspektivischen Einzelstücke erzähltechnisch miteinander zu verknüpfen, wählt Bonné Symbole und Leitmotive: „Schatten, Staub, Wind“ ist eines davon, das er des Öfteren einsetzt, um eine Stimmung zu akzentuieren, ein anderes verrät die Hauptfigur selbst, die einen Zeitungsartikel schreibt mit dem Titel: „Wie Wespen miteinander leben“. Bonnés vier Figuren sind solche Wespen; sie führen, wie es im Artikel heißt, „eine Wespenexistenz, in der es in jeder Sekunde um unbedingte Lebendigkeit geht.“
Ganz kann es sich Bonné dann aber doch nicht versagen, dem Geschmack des heutigen Lesers entgegenzukommen. Dem geht es mittlerweile nicht so sehr mehr um Einfühlung, er liebt vielmehr das Geheimnis und seine detektivische Enthüllung. Deshalb macht sich Bonné auf die kriminalistische Suche nach den wahren Gefühlen seiner Figuren, die von ihren realen Umständen verdeckt werden, er durchleuchtet ihre Neigungen füreinander, die die Realität verstellt hat, und zeigt mit dieser seiner Neugier, wie nahe verwandt sich die Methode der Psychoanalyse und die der Kriminalistik sind. In den Seelenkern vorzudringen, ist ebenso spannend, wie den Tatort und den Täter zu finden.
Deshalb gibt es denn auch im dritten und letzten Teil des Buches die Verfolgung eines Täters, der einen Kunstdiebstahl begangen hat. Ein seltsames Licht – auch dies ein Leitmotiv, das bereits im Titel des Romans anklingt – hat von Anbeginn an den „Helden“ des Romans fasziniert, ein Licht, das von einem Gemälde Corots ausgeht. Die Zeiten der Jugend, die der zweite Teil des Buches beschreibt, sind von seinem Glanz überstrahlt, eine Frau auf Corots Gemälde „Kornfeld im Morvan“ scheint das genaue Porträt jener Freundin zu sein, die beide Freunde liebten, die sie umwarben und die nur einen von ihnen hatte nehmen können.
Der dritte Teil des Buches wird zur Kriminalgeschichte, indem die Hauptfigur das Gemälde stiehlt, wobei sich der diebische Kunstfanatiker mit seiner kleptomanen Tochter verbündet, die er zuvor, ohne das Wissen ihrer Mutter, aus dem Internat entführt hat – Kindesraub durch den eigenen Vater! Mit dem gestohlenen Bild und mit ihr als Beute und Komplizin flieht er in den Süden Frankreichs, doch wird er von einem neuen Freund, den er, gottlob, kurz zuvor gewonnen hat, und von eben dieser alten Geliebten gesucht, gejagt und endlich wiedergefunden. So endet die Geschichte mit der Umarmung derer, die sich von Anfang an schon hatten umarmen wollen und sollen. Zum Glück gelingt es den wiedergefundenen Liebenden auch noch, das Bild unbemerkt an seinen angestammten Platz im Museum zurückzubringen – viel Psychologie, Kunstleidenschaft und Kriminalistik vereinen sich so zu einem märchenhaften Ende – des Guten und Artifiziellen fast zu viel!
HANNELORE SCHLAFFER
Mirko Bonné: Lichter als der
Tag. Roman. Schöffling & Co,
Frankfurt/M. 2017.
334 Seiten. 22 Euro.
E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
jeder Sekunde
Mirko Bonné sucht die wahren
Gefühle seiner Figuren
Zwei Männer, zwei Frauen, in der Jugend miteinander verbunden als vier unzertrennliche Freunde, schließlich in Paare sortiert, wobei freilich die Sortierung falsch verlief, einige Kinder, die die Paare zeugten, die aber nicht genau wissen, welcher der zwei Männer der jeweilige Vater ist – dies Durcheinander ergibt einen Plot, der ausreicht für einen zugkräftigen Roman.
So einfach aber macht es sich und seinem Leser Mirko Bonné nun doch nicht. Die vier Figuren haben komplizierte Charaktere – Gelegenheit genug zu vier Seelengemälden, die er in viele kleine Episoden auflöst, um sie nebeneinander und durcheinander zu erzählen. Der Autor wandelt von Szene zu Szene, von Bild zu Bild, schaut hin, prüft, kehrt zurück, prüft noch einmal und schreibt, was er durch penibles Studium über das Innenleben und die Vergangenheit der Figuren herausgebracht hat, in knappen Notizen nieder. So setzt sich denn der Roman, eine Analyse von vier eigenwilligen Typen, aus Hunderten kurzen Absätzen zusammen, die Erzählung springt von dieser zu jener Figur, einmal wird dieses, einmal jenes Schicksal erzählt. Oft beginnt ein Absatz mit dem Bericht von einer neuen Person, während im Absatz gerade zuvor man sich in die Seele einer ganz anderen hatte vertiefen sollen, oft setzt der neue Absatz mit einem inneren Monolog ein, und so hat der Leser seine liebe Not zu verstehen, um welche Person, um welche Geschichte, um welche Seele es denn nun gerade eben geht.
Diese Diskontinuität des Erzählens erschwert die Lektüre mit voller Absicht, denn einen faulen, einen unaufmerksamen, einen unkonzentrierten Leser akzeptiert Bonné keinesfalls. Die billige Einfühlung in Romanfiguren, die so modische Empathie, verhindert er durch diese Taktik der stückhaften Darstellung entschieden. Sie spiegelt das schrittweise Vorankommen eines Erzählers, der in die Seelentiefen hinuntersteigt und nur Bruchstücke einer Konfession freizulegen im Stande ist. Die Fragmente zum Mosaik eines Lebens zusammenzusetzen, ist eine Aufgabe, an der sich auch der Leser beteiligen soll.
Die vielen perspektivischen Einzelstücke erzähltechnisch miteinander zu verknüpfen, wählt Bonné Symbole und Leitmotive: „Schatten, Staub, Wind“ ist eines davon, das er des Öfteren einsetzt, um eine Stimmung zu akzentuieren, ein anderes verrät die Hauptfigur selbst, die einen Zeitungsartikel schreibt mit dem Titel: „Wie Wespen miteinander leben“. Bonnés vier Figuren sind solche Wespen; sie führen, wie es im Artikel heißt, „eine Wespenexistenz, in der es in jeder Sekunde um unbedingte Lebendigkeit geht.“
Ganz kann es sich Bonné dann aber doch nicht versagen, dem Geschmack des heutigen Lesers entgegenzukommen. Dem geht es mittlerweile nicht so sehr mehr um Einfühlung, er liebt vielmehr das Geheimnis und seine detektivische Enthüllung. Deshalb macht sich Bonné auf die kriminalistische Suche nach den wahren Gefühlen seiner Figuren, die von ihren realen Umständen verdeckt werden, er durchleuchtet ihre Neigungen füreinander, die die Realität verstellt hat, und zeigt mit dieser seiner Neugier, wie nahe verwandt sich die Methode der Psychoanalyse und die der Kriminalistik sind. In den Seelenkern vorzudringen, ist ebenso spannend, wie den Tatort und den Täter zu finden.
Deshalb gibt es denn auch im dritten und letzten Teil des Buches die Verfolgung eines Täters, der einen Kunstdiebstahl begangen hat. Ein seltsames Licht – auch dies ein Leitmotiv, das bereits im Titel des Romans anklingt – hat von Anbeginn an den „Helden“ des Romans fasziniert, ein Licht, das von einem Gemälde Corots ausgeht. Die Zeiten der Jugend, die der zweite Teil des Buches beschreibt, sind von seinem Glanz überstrahlt, eine Frau auf Corots Gemälde „Kornfeld im Morvan“ scheint das genaue Porträt jener Freundin zu sein, die beide Freunde liebten, die sie umwarben und die nur einen von ihnen hatte nehmen können.
Der dritte Teil des Buches wird zur Kriminalgeschichte, indem die Hauptfigur das Gemälde stiehlt, wobei sich der diebische Kunstfanatiker mit seiner kleptomanen Tochter verbündet, die er zuvor, ohne das Wissen ihrer Mutter, aus dem Internat entführt hat – Kindesraub durch den eigenen Vater! Mit dem gestohlenen Bild und mit ihr als Beute und Komplizin flieht er in den Süden Frankreichs, doch wird er von einem neuen Freund, den er, gottlob, kurz zuvor gewonnen hat, und von eben dieser alten Geliebten gesucht, gejagt und endlich wiedergefunden. So endet die Geschichte mit der Umarmung derer, die sich von Anfang an schon hatten umarmen wollen und sollen. Zum Glück gelingt es den wiedergefundenen Liebenden auch noch, das Bild unbemerkt an seinen angestammten Platz im Museum zurückzubringen – viel Psychologie, Kunstleidenschaft und Kriminalistik vereinen sich so zu einem märchenhaften Ende – des Guten und Artifiziellen fast zu viel!
HANNELORE SCHLAFFER
Mirko Bonné: Lichter als der
Tag. Roman. Schöffling & Co,
Frankfurt/M. 2017.
334 Seiten. 22 Euro.
E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Lichter als der Tag ist ein ansteckend hoffnungsfroher Roman mit zahlreichen lyrischen Momenten.« Joachim Dicks / NDR Kultur»Die Bücher Bonnés handeln von den großen Fragen des menschlichen Lebens, wie Treue und Verrat, Selbstentwurf und Scheitern. [...] Bonné erzählt sehr fein und geschickt dramaturgisch.« Manuela Reichart / Deutschlandfunk Kultur»Viel Psychologie, Kunstleidenschaft und Kriminalistik vereinen sich zu einem märchenhaften Ende.« Hannelore Schlaffer / Süddeutsche Zeitung»Meisterlich. [...] Mirko Bonnés Schreiben ist ein Spiel mit dem Licht.« Maja Fiedler / SWR 2»Wie ein Lichtmaler fertigt er Landschaftsbilder der Seele an, die anrühren und aufregen. So sehr Arthouse-Kino ist Literatur selten.« Oliver Jungen / Frankfurter Allgemeine Zeitung