Die Liebe: Begehren, Verhängnis, Erinnerung Rainer Merkel erzählt Szenen einer erlöschenden Liebe: Ein Mann muss zum Flughafen. Er hat es eilig, kommt aber nicht voran, seine Erinnerungen halten ihn auf. Die Stadt leuchtet für ihn noch einmal im grellen Licht der Erotik. Die Suche nach der Wahrheit wird zu einem sexuellen Geständnis, einem Geständnis ohne Zuhörer, einem Monolog ohne Publikum. >Lichtjahre entfernt< ist eine Tour de Force durch die Abwege der Liebe.
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Ein Herz aus Geld
Rainer Merkels chaotisch-nüchterne Liebesbilanz
Rainer Merkels neuer Roman spielt im guten alten New York und ist dekoriert mit ein paar Film-Noir-Requisiten, die fast schon folkloristisch sind: Eine drückende Hitze liegt über der Stadt, am Wasserhahn hängt ein nicht fallender Tropfen, es kreisen die Ventilatoren, und ein Münchener Familientherapeut sucht nach dem Lebenssinn. Thomas Kapuszinski ist zu einem neurobiologischen Kongress angereist, doch eigentlich will er seine Langzeitbeziehung treffen und schauen, was an ihr zu retten ist. Judith arbeitet in Washington und hätte ihn lieber dort empfangen, aber Kapuszinski setzt sich durch. Nun ist sie da, bleibt zugeknöpft und weigert sich, mit ihm zu schlafen. Man geht spazieren und redet über Belanglosigkeiten.
Das wirkliche Drama spielt sich im Kopf Kapuszinskis ab. Er erinnert sich an gemeinsame Reisen, an alte und brandneue Liebesabenteuer, die hinter Judiths Rücken vor sich gehen. In einem Bewusstseinsstrom voller Wiederholungen und Sprünge zieht der Erzähler den Leser in eine Lebensbilanz hinein, die so nüchtern wie chaotisch ist. Denn Kapuszinski ist Therapeut und Patient in einer Person. Dabei steht die gleichbleibende Aufmerksamkeit, mit der er alles notiert, in seltsamem Kontrast zur ihn aufwühlenden Krise wie zu seinen geradezu parodistisch hervortretenden Charakterdeformationen.
Kapuszinski ist geizig und sieht gern gönnerhaft auf andere herab. Vor allem in der Frauenwahl bevorzugt er die Unterlegenen und Gehemmten und verdächtigt eine Prostituierte, nur weil sie am Telefon gebrochen Englisch mit ihm spricht, eines Verführungsversuchs, als wäre Hilflosigkeit per se schon sexy. Die Brustwarzen einer Verkäuferin, mit der er sich in München zu Liebesspielen trifft, beschreibt er ihr als "große blühende dunkle Blumen" und lässt den Leser wissen: "Ich benutze bewusst kitschige Metaphern, alles andere würde sie überfordern."
Doch auch durch Kapuszinskis Lebensresümee geistert immer wieder der hohle Atem der parabolischen Phrase, die nach viel klingt und nichts bedeutet: "In diesem Seufzer eines Windzugs, der über Judiths Schläfen gleitet, offenbart sich die ganze Melancholie, die wir in dem Zimmer zurückgelassen haben." Vielleicht ist es in Wahrheit Kapuszinski selbst, den eine weniger geblümte Sprache überfordern würde. Seine Sprachmalerei ist zugleich Gedankenmalerei, ein ausgeschmückter Lebenswall der Unaufrichtigkeit gegen sich selbst. Als ein Mann, der gern die Kontrolle behält, kann er nicht verhindern, dass dieses kontrollierte Leben putzig wird. Er hat es so eingerichtet, dass Menschen und Dinge nie bedrohlich werden, und verachtet sie ein wenig dafür. Doch in New York stößt dieses Arrangement an seine Grenzen.
Der größere Teil des Romans zieht an uns vorbei, während Kapuszinski in der U-Bahn zum Flughafen sitzt. Er ist spät dran, denn er hat beim Reisewecker so sehr gespart, dass der ihn nach ein paar Tagen im Stich ließ. Und weil er nun am Taxi spart, wird er den Flug wahrscheinlich verpassen. Das einzige Risiko, das er sich gönnt, ist die Wette darauf, dass sein Geiz auch diesmal davonkommt. Kein Wunder, dass er genauso beharrlich an Worten und Gefühlen spart. Über eine Liebeserklärung denkt er so lange nach, bis er sie seinlässt: "Es ist kein Satz, den man einfach so sagt." Als er ein Callgirl zu sich bestellt, geht ihm nicht nur die dreistellige Dollarsumme nicht aus dem Kopf, die er für den Hausbesuch investiert, er will in der knappen Zeit auch ein Pornovideo mit der Dame drehen, denn so amortisiert sich das Ganze wieder.
Alles scheint in diesem Buch auf Sex und Geld hinauszulaufen. Als Kapuszinski mit dem Callgirl im Schlafzimmer ankommt, entdeckt er auf dem Bett ein riesiges Herz "aus unzähligen kleinen Münzen". Sehr unbequem, wenn man den Schlafsack unter dem gutgemeinten Kleingeld für nicht ganz so wohlfeile Phantasien braucht. Wir haben verstanden, was uns der Autor sagen will: Judith fehlen die sexuelle Großzügigkeit und Toleranz der käuflichen Prostituierten; sie ist Schuld daran, dass dem Therapeuten der wahre Rausch des Lebens durch die Lappen geht.
Manches deutet darauf hin, dass Kapuszinski ein ungeliebtes Kind gewesen ist und deshalb so buchhalterisch über seine eigenen Ausgaben wacht. Wenn ihn nicht gerade das Herz auf der Decke stört, liebt er Judith für ihre sentimentalen Rituale, und der Beruf des Familientherapeuten hat offenbar damit zu tun, dass ihn ein heiles Familienleben fasziniert. Kapuszinskis Geiz verrät einen tiefsitzenden Mangel, doch seine Fixierung auf Geld und Sex ist nicht die Lösung, sondern nur die Kehrseite des Problems.
Auf einer New Yorker Schwulenparty schaut er gebannt dem lustvollen Treiben im nächtlichen Hintergarten zu: "Der Wind wird stärker, jemand hustet, jemand zieht die Nase hoch, jemand stöhnt aus tiefstem Herzen." Diesmal folgt Kapuszinski "seinen Impulsen" und tut etwas, das ihn "selbst überrascht". Am Nachmittag hatte er einen schwulen Pornostar noch fragen wollen: "Warum tust du dir so etwas an? Geht da nicht alles in die Brüche? Deine Würde? Deine Seele?" Ein paar Stunden später scheint er das Orgienwesen philosophischer zu sehen. Doch wir trauen dem Geizkragen nicht. Für einen wie Kapuszinski ist es einfach jammerschade, bei so viel Bonussex, Mann oder Frau, nur zuzusehen.
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Rainer Merkel: "Lichtjahre entfernt". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 202 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rainer Merkels chaotisch-nüchterne Liebesbilanz
Rainer Merkels neuer Roman spielt im guten alten New York und ist dekoriert mit ein paar Film-Noir-Requisiten, die fast schon folkloristisch sind: Eine drückende Hitze liegt über der Stadt, am Wasserhahn hängt ein nicht fallender Tropfen, es kreisen die Ventilatoren, und ein Münchener Familientherapeut sucht nach dem Lebenssinn. Thomas Kapuszinski ist zu einem neurobiologischen Kongress angereist, doch eigentlich will er seine Langzeitbeziehung treffen und schauen, was an ihr zu retten ist. Judith arbeitet in Washington und hätte ihn lieber dort empfangen, aber Kapuszinski setzt sich durch. Nun ist sie da, bleibt zugeknöpft und weigert sich, mit ihm zu schlafen. Man geht spazieren und redet über Belanglosigkeiten.
Das wirkliche Drama spielt sich im Kopf Kapuszinskis ab. Er erinnert sich an gemeinsame Reisen, an alte und brandneue Liebesabenteuer, die hinter Judiths Rücken vor sich gehen. In einem Bewusstseinsstrom voller Wiederholungen und Sprünge zieht der Erzähler den Leser in eine Lebensbilanz hinein, die so nüchtern wie chaotisch ist. Denn Kapuszinski ist Therapeut und Patient in einer Person. Dabei steht die gleichbleibende Aufmerksamkeit, mit der er alles notiert, in seltsamem Kontrast zur ihn aufwühlenden Krise wie zu seinen geradezu parodistisch hervortretenden Charakterdeformationen.
Kapuszinski ist geizig und sieht gern gönnerhaft auf andere herab. Vor allem in der Frauenwahl bevorzugt er die Unterlegenen und Gehemmten und verdächtigt eine Prostituierte, nur weil sie am Telefon gebrochen Englisch mit ihm spricht, eines Verführungsversuchs, als wäre Hilflosigkeit per se schon sexy. Die Brustwarzen einer Verkäuferin, mit der er sich in München zu Liebesspielen trifft, beschreibt er ihr als "große blühende dunkle Blumen" und lässt den Leser wissen: "Ich benutze bewusst kitschige Metaphern, alles andere würde sie überfordern."
Doch auch durch Kapuszinskis Lebensresümee geistert immer wieder der hohle Atem der parabolischen Phrase, die nach viel klingt und nichts bedeutet: "In diesem Seufzer eines Windzugs, der über Judiths Schläfen gleitet, offenbart sich die ganze Melancholie, die wir in dem Zimmer zurückgelassen haben." Vielleicht ist es in Wahrheit Kapuszinski selbst, den eine weniger geblümte Sprache überfordern würde. Seine Sprachmalerei ist zugleich Gedankenmalerei, ein ausgeschmückter Lebenswall der Unaufrichtigkeit gegen sich selbst. Als ein Mann, der gern die Kontrolle behält, kann er nicht verhindern, dass dieses kontrollierte Leben putzig wird. Er hat es so eingerichtet, dass Menschen und Dinge nie bedrohlich werden, und verachtet sie ein wenig dafür. Doch in New York stößt dieses Arrangement an seine Grenzen.
Der größere Teil des Romans zieht an uns vorbei, während Kapuszinski in der U-Bahn zum Flughafen sitzt. Er ist spät dran, denn er hat beim Reisewecker so sehr gespart, dass der ihn nach ein paar Tagen im Stich ließ. Und weil er nun am Taxi spart, wird er den Flug wahrscheinlich verpassen. Das einzige Risiko, das er sich gönnt, ist die Wette darauf, dass sein Geiz auch diesmal davonkommt. Kein Wunder, dass er genauso beharrlich an Worten und Gefühlen spart. Über eine Liebeserklärung denkt er so lange nach, bis er sie seinlässt: "Es ist kein Satz, den man einfach so sagt." Als er ein Callgirl zu sich bestellt, geht ihm nicht nur die dreistellige Dollarsumme nicht aus dem Kopf, die er für den Hausbesuch investiert, er will in der knappen Zeit auch ein Pornovideo mit der Dame drehen, denn so amortisiert sich das Ganze wieder.
Alles scheint in diesem Buch auf Sex und Geld hinauszulaufen. Als Kapuszinski mit dem Callgirl im Schlafzimmer ankommt, entdeckt er auf dem Bett ein riesiges Herz "aus unzähligen kleinen Münzen". Sehr unbequem, wenn man den Schlafsack unter dem gutgemeinten Kleingeld für nicht ganz so wohlfeile Phantasien braucht. Wir haben verstanden, was uns der Autor sagen will: Judith fehlen die sexuelle Großzügigkeit und Toleranz der käuflichen Prostituierten; sie ist Schuld daran, dass dem Therapeuten der wahre Rausch des Lebens durch die Lappen geht.
Manches deutet darauf hin, dass Kapuszinski ein ungeliebtes Kind gewesen ist und deshalb so buchhalterisch über seine eigenen Ausgaben wacht. Wenn ihn nicht gerade das Herz auf der Decke stört, liebt er Judith für ihre sentimentalen Rituale, und der Beruf des Familientherapeuten hat offenbar damit zu tun, dass ihn ein heiles Familienleben fasziniert. Kapuszinskis Geiz verrät einen tiefsitzenden Mangel, doch seine Fixierung auf Geld und Sex ist nicht die Lösung, sondern nur die Kehrseite des Problems.
Auf einer New Yorker Schwulenparty schaut er gebannt dem lustvollen Treiben im nächtlichen Hintergarten zu: "Der Wind wird stärker, jemand hustet, jemand zieht die Nase hoch, jemand stöhnt aus tiefstem Herzen." Diesmal folgt Kapuszinski "seinen Impulsen" und tut etwas, das ihn "selbst überrascht". Am Nachmittag hatte er einen schwulen Pornostar noch fragen wollen: "Warum tust du dir so etwas an? Geht da nicht alles in die Brüche? Deine Würde? Deine Seele?" Ein paar Stunden später scheint er das Orgienwesen philosophischer zu sehen. Doch wir trauen dem Geizkragen nicht. Für einen wie Kapuszinski ist es einfach jammerschade, bei so viel Bonussex, Mann oder Frau, nur zuzusehen.
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Rainer Merkel: "Lichtjahre entfernt". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 202 S., geb., 18,95 [Euro].
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