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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Und wenn die Leiche fehlt? Anne Goldmann weiß, wie unheimlich das Leben in der österreichischen Hauptstadt ist
Gleich vorweg: Diesen Kriminalroman liest man richtig gerne. Denn man wird nicht mit eigens dafür angelesenem Wissen bedrängt, es gibt keine gelehrten Serienschlachtungen, keine toughen Typen und keine unwahrscheinlich interessanten Polizisten. Obwohl die Geschichte in Wien spielt und viel lokales Detail bietet - mit Österreichglossar: "Wir sind gesessen"! -, zwingt man uns nicht in einen Regionalkrimi, darum unterbleiben auch Wien-Stereotypen und augenzwinkernder Humor, und die Autorin, die keine dieser Mätzchen nötig hat, weil sie sich für die Wirklichkeit interessiert, schielt auch nicht ständig aufs Kino.
Gerade darum aber ist ihr eine Geschichte gelungen, zu der man am ehesten Analoges bei Claude Chabrol und Patricia Highsmith finden wird - eine Geschichte aus der Unheimlichkeit des Stadtlebens, mit großer Milieukenntnis, hoher Sympathie für jene Figuren, die sie verdienen, und präziser Darstellung von Niedertracht.
Worum geht es? Zwei Frauen und ein Mann sitzen nächtens auf einem Dach in der Wiener Innenstadt, aufgedreht, trinkend. Kurz darauf sitzt da nur noch ein Paar. Die einzige Zeugin sieht es von ihrer Terrasse aus, auf sechzig Meter Entfernung. Unfall, Mord oder gar nichts? Die Zeugin war benebelt, rauschwarenhalber, kann sich also nicht sicher sein. Außerdem sind sechzig Meter nachts noch weiter fürs Auge als ohnehin. Vor allem aber gibt es keine Leiche, in den Zeitungen steht nichts.
Dem Leser wird in Anne Goldmanns "Lichtschacht" schnell die Unklarheit darüber genommen, was geschah. Nur für die eine Hauptfigur, jene Zeugin, bleibt alles undurchsichtig. Und für den Leser, wer die andere Hauptfigur ist, jener "Er", der mit auf dem Dach war und dessen Motiv samt Nebenfolgenbeseitigung der Tat im Szenenwechsel mit dem Leben der Augenzeugin entfaltet werden.
Die Spannung ergibt sich aus Sorge um sie. In ihr, Lena, hat die Autorin nämlich der großen Familie zufällig in ein Verbrechen und seine Aufdeckung hineingezogener Helden ein weiteres sympathisches Mitglied zugeführt. Sie ist, salzburgflüchtig, neu in der Hauptstadt, jobbt, bewohnt fremde Apartments, alles in ihrem Leben scheint befristet, vorläufig, gelegenheitsbedingt.
So ist sie die Richtige, um darüber nachzudenken, ob jemand spurlos verschwinden kann, die Richtige auch für Augenzeugenparanoia und zugleich prädestiniert dafür, sich arglos in der Nähe des Täters aufzuhalten. Sie findet Leute, die das Opfer vermissen, gerät in komplizierte Liebesbeziehungen hinein, von denen sie nicht absieht, ob sie etwas mit der Tat zu tun haben, recherchiert und muss daneben noch ein normales Leben führen.
Anne Goldmann fängt sehr präzise die Stimmung urbaner Jugend ein, sich nicht festlegen zu wollen und zugleich an Unsicherheit zu leiden, Anonymität zu genießen und zu fürchten. Die Lust aufs Unbekannte zeigt sich als Vorderseite der Angst vorm Unabsehbaren. Die Party droht ständig zu kippen. In dieses biographische Muster webt die Autorin das Verdachtsmotiv ein, mitten in der Stadt - na, wo wohl, bei dem Titel? - liege eine Leiche. Insofern handelt es sich fast um einen Bildungsroman, bei dem die Aufgabe, ein ungebundenes Ich mit Lebensschwere zu versorgen, dem Verbrechen zufällt.
Aber bevor wir mit solchen Abschweifungen den Leser doch noch vom Kauf abhalten, brechen wir lieber ab. Denn "Lichtschacht" ist kein milieusoziologischer Vortrag, sondern ein ungemein gekonnt, unprätentiös und in einem ganz eigenen Ton geschriebener Roman.
JÜRGEN KAUBE
Anne Goldmann: "Lichtschacht". Ariadne Krimi. Argument Verlag, Hamburg 2014. 287 S., br., 12,- [Euro].
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