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Verirrt im Labyrinth der Erinnerung: Yoko Ogawas Roman
Nichts in diesem Roman scheint ohne Bedeutung. Doch die Rätsel dieser verhaltenen fernöstlichen Liebesgeschichte lassen sich auch am Schluß nicht vollständig lösen. Wer ist der junge Mann, von Beruf Stenograph, mit den anmutigen Fingern, in die sich die Ich-Erzählerin verliebt? Ein einziger Buchstabe ist sein Name: Y. Er taucht auf, wenn die junge Frau, die an einem Gehörverlust leidet, ihn braucht, und er verschwindet, nachdem sie zurückgefunden hat in die Wirklichkeit.
Ausgelöst hat ihre tiefe Verstörung oder nüchterner ihren Hörsturz ihre Ehescheidung. Ganz nebenbei erfährt der Leser dies sowie weitere Mitteilungen, die sachlich über Medikamente, Untersuchungen oder eine Klinik informieren. Wichtiger als die Klinik ist das geheimnisvolle Hotel daneben, ein ehemaliges Adelspalais, denn dort beginnt schon wieder die Mystifizierung, die Gegenstände, Geräusche oder Bewegungen geheimnisvoll werden läßt. In dem alten Gebäude hat sich nämlich einst ein tragischer Unfall ereignet. Sein Opfer, der dreizehnjährige Sohn des Hauses, taucht in den Erinnerungen der jungen Frau als Doppelgänger ihres gleichaltrigen alten Kinderfreundes auf, der Geige spielte. Mit ihm zusammen hat sie in einem Museum Beethovens Hörrohr auf einem Samtkissen besichtigt. Von ihm hat sie sich verstanden gefühlt wie jetzt von ihrem ebenso alten Neffen Hiro, dem einzigen, der ihr außer Y in ihrer Verwirrung hilft.
Die in Japan mit Preisen ausgezeichnete Yoko Ogawa verfügt über eine wunderbare Sprache (die die beiden Übersetzerinnen offensichtlich zuweilen überfordert. Wie ist zum Beispiel ein Akkordeon zu verstehen, "das sich in einer Saftpresse dreht"?). Die Sprache hält das Labyrinth der Erinnerungen in ständiger Spannung, zudem in einem seltsamen Schwebezustand, in dem sich verblaßte Bilder aus der Vergangenheit mit den übergenauen aus der Gegenwart vermengen. Als Kontrast bleibt die abstrakte Schneelandschaft im Gedächtnis des Lesers, in der schmerzliche Töne versinken und Geschichten scheinbar ohne Sinn enden. Die Schriftzeichen des Stenographen, zart wie blaue Spitze, oder das harte Klicken des ungetreuen Ehemanns beim Haareschneiden sind Symbole, vielleicht auch der süße Jasminduft aus einem Parfumflakon, der wiederum eine Beziehung zum tragischen Geschehen im Adelspalais hat. Fühlen, nicht denken scheint Yoko Okawa zu fordern. Nur so führt die Spur hinaus aus den verworrenen Windungen der Erinnerung.
MARIA FRISÉ
Yoko Ogawa: "Liebe am Papierrand". Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2004. 255 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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