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Jeder Krieg hinterlässt Spuren: Aka Mortschiladses Roman "Liebe und Tod in Tiflis"
Unter den vielen Frauen, die der Enddreißiger Mogela nach dem Tod seines Freundes Lewiko als dessen heimliche Geliebte kennenlernt, ist auch die russische Hellseherin Rina. Sie ist nach Tiflis gereist, um Lewikos Grab zu besuchen und, wie sie es nennt, "Kontakt zu ihm herzustellen". Einstweilen informiert sie Mogela darüber, dass es seinem toten Freund, den sie zärtlich "Liowuschka" nennt, gut geht, "da wo er ist". Mogela aber stecke in Schwierigkeiten, sagt Rina: "Weil du Liowuschka liebst und in seine Haut schlüpfen möchtest. Du hast beschlossen, sein Leben zu leben. Das ist schwer."
Mogela kommentiert das nicht weiter, sondern fährt mit Rina auf den Friedhof, wo sie auf Lewikos Grab schaut und plötzlich behauptet: "Er ist nicht hier." Weiß sie, dass sie damit in Mogela, der sie eigentlich für verrückt hält, an die sehr geheime Sehnsucht rührt, der jäh verschwundene Freund wäre noch am Leben? Als sie jedenfalls kurz darauf nach Russland zurückkehrt, ist für Mogela die Gewissheit, die er über die Person und das Schicksal seines allerbesten Freundes zu haben glaubte, noch weiter auseinandergefallen als ohnehin schon. Und etwas ist hinzugekommen, für ihn selbst wie für den Leser: die Frage, ob an Rinas Vermutung, Mogela orientiere sich allzu sehr an Lewikos Leben und vernachlässige das eigene, nicht doch etwas dran ist.
Es ist ersichtlich nicht das Anliegen des georgischen Autors Aka Mortschiladse, dessen Roman "Liebe und Tod in Tiflis" (im Original: "Maid in Tiflis") von Mogela und Lewiko erzählt, in diesem Punkt für Klarheit zu sorgen. Erzähltechnisch schlägt er ohnehin einen anderen Weg ein. Der Autor, geboren 1966 in Tiflis, debütierte 1992 mit dem wüsten Roman "Reise nach Karabach", der vor dem Hintergrund des georgischen Bürgerkriegs spielt (F.A.Z. vom 22. Juni 2018). Unter seinen zahlreichen Romanen sind, befördert durch den georgischen Gastlandauftritt 2018 auf der Frankfurter Buchmesse, eine Reihe bei Weidle und im Mitteldeutschen Verlag inzwischen auch auf Deutsch erschienen, zuletzt "Von alten Herzen und Schwertern", ein historischer Roman über die Rolle des georgischen Landadels zwischen den dominanten Fremdherrschern aus Russland und dem Osmanenreich, und eben "Liebe und Tod in Tiflis".
Der umfangreiche Roman erschien im Original 2007 und knüpft in seinem ersten Teil an die fiktive Inselgruppe "Santa Esperanza" an, der Mortschiladse zuvor einen eigenen Roman gewidmet hatte, gegliedert in zahlreiche dünne Hefte, die - so der Vorschlag des Autors - in zufälliger Reihenfolge gelesen werden können. Auch "Liebe und Tod in Tiflis" verdankt sich einer Reihe von beschriebenen Kladden, die aber, so heißt es in der Einleitung, durch den Autor teils unleserlich gemacht wurden, als er im Schlaf eine Rotweinflasche umstieß, deren Inhalt sich über die Hefte ergoss, was in der Buchfassung für Leerstellen sorgt: "Die Leser indes müssen sich nicht verdrießen lassen; sollten sie zu dem Schluss kommen, dass sie den Zusammenhang der Geschichten in den zwölf Büchern spitzgekriegt haben, können sie an den fehlenden Stellen das Geschehen selbst weiterspinnen."
Ein erzromantisches Erzählkonzept also samt Aufforderung an den Leser, das Fragmentarische zu ergänzen und die Handlungsfäden selbst zu entwirren, denn die zwölf in ständig wechselnden Stillagen verfassten Teile sind eher assoziativ als chronologisch miteinander verbunden. Wer das auf sich nimmt, wird reich belohnt; schon die zauberhafte Dreiecksgeschichte im Zentrum des Romans ist jede Mühe wert. Sie spielt sich ab zwischen den beiden Freunden und einer Frau, die den Tarn- und Kosenamen "Rose von Schiras" trägt, weil sie nicht einmal im niederländischen Exil vor dem langen Arm ihres Schwiegervaters, eines georgischen Mafiabosses, sicher ist. Das Verschwinden ihres Mannes, den man sich als Auftragskiller vorstellen kann, quittiert der Schwiegervater nur mit dem stereotypen Satz "Du bist die Frau meines Sohnes", was nicht nur das Versprechen umfasst, sie zu beschützen und materiell zu umsorgen, sondern auch die durch Drohung bekräftigte Erwartung, dass sie dem Verschwundenen nur ja die Treue halten möge. Männer, die sich ihr trotzdem nähern, bekommen das zu spüren. Und ihre Liebe zu Mogela ist daher von Anfang an von größter Vorsicht begleitet, jedenfalls was sie angeht.
Um diesen doppelten Kern - die Fürsorge der Liebenden und die von Lewikos Verschwinden überschattete Freundschaft der beiden gleichaltrigen Männer aus Tiflis - spinnt sich ein Handlungsgewebe, zu dem ein büchersammelnder Großvater samt leseunlustigem Enkel gehört, der gleichwohl ein mit Schriften vollgestopftes Haus geerbt hat, ferner mehrere ineinander verbissene Banden, liebestolle Russen und archaische Rituale, Geistliche, die sich der allgegenwärtigen Gewalt stellen, und Unbeteiligte, die ihr zum Opfer fallen. Es geht um Georgien und eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt auf gefährliche Weise bedroht ist, und es geht um destruktive Männer, die das Gesicht wahren und eine sogenannte Ehre verteidigen wollen, die der Erzähler so charakterisiert: "Allmählich wachsen ihr ein Buckel und Fangzähne, und die Nackenhaare sträubten sich ihr."
Als der Roman einsetzt, sind die heftigen Auseinandersetzungen, die Georgien in den Neunzigerjahren erschütterten, bereits Geschichte. Dass und wie sehr sie nachwirken, ist das eigentliche, vielfach und variationsfreudig durchgespielte Thema des Romans. Dass jede Schuld auch Jahre, wenn nicht gar ein Jahrzehnt später beglichen werden muss und dafür neue Schuld auf der anderen Seite hervorbringt, ist ihm eingeschrieben. Und auch die Frage, was eigentlich aus denen wird, die als junge Männer an den Kämpfen teilgenommen hatten und inzwischen Familien gegründet haben, die ins Theater gehen oder ins Restaurant und plötzlich einem alten Feind gegenüberstehen, der noch eine Rechnung zu begleichen hat.
Was dabei aus der Liebe wird? Mogela jedenfalls weicht mehr als einmal in diesem aus ästhetischem Spiel und mit ethischem Ernst verfassten Roman einer Entscheidung aus und lässt sich treiben. Nicht zuletzt, weil er sich hütet, in seiner Wahrnehmung die Wahrheit vom Wahn zu scheiden oder anzuerkennen, dass der abwesende Freund, mit dem er immer noch Gespräche führt, tatsächlich tot ist. Bis er sich in Lewikos Doppelgänger verwandelt. Auch dies ein Motiv aus der Schatzkammer der Romantik. TILMAN SPRECKELSEN
Aka Mortschiladse: "Liebe und Tod in Tiflis". Roman.
Aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021.
544 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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