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Matthias Zschokke nimmt in seiner Mail-Chronik kein Blatt vor den Mund. So entsteht die radikal ehrliche Besichtigung eines Schriftstellerlebens.
Von Nicole Henneberg
Manische Brief-und Tagebuchschreiber muss man sich als kämpferische, glückliche Menschen vorstellen: Sie sind zwar einsam und misstrauisch, haben aber mindestens einen, der ihnen aufmerksam zuhört. Sie können nach Belieben zerknirscht beichten oder auftrumpfen - das Geschriebene ist in der Welt, also in gewisser Weise wahr.
Niels Höpfner, der langjährige Freund und begeisterte Leser von Matthias Zschokke, hat im Lauf von achtundzwanzig Jahren mehr als dreitausend Briefe und Faxe von ihm und, seit 2002, Tausende von E-Mails gesammelt. An eine Veröffentlichung hatten beide nie gedacht, was den besonderen Reiz dieser Korrespondenz ausmacht: Sie ist völlig ungeschützt und ohne jeden Gedanken an literarische Stilisierung entstanden, auch wenn für die jetzige Ausgabe manches gestrafft wurde. Aber es können keine großen Eingriffe gewesen sein, denn man spürt am Rhythmus und Tempo der Sätze genau, wann der Schreiber sich vergisst, wann ihn der Furor packt und wann er den abwesenden Freund dringend überzeugen oder herbeizaubern will.
Schon die Schreibsituation, ein Zimmer in einem ehemaligen Fabrikgebäude, mitten in einem der spannungsreichsten Viertel Berlins, zwingt zur Mitteilung. Auch die bizarren und trostlosen Orte ringsum, die Armut und seelische Not der Menschen drücken auf die Seele. Türkische Männer und Frauen eilen auf dem Weg zum Gebet am Arbeitszimmer vorbei, aus den Fenstern der Moschee im oberen Stockwerk schallen im Sommer die Koransuren. Dass die Gläubigen ihren Nachbarn auch nach Jahrzehnten keines Wortes oder Blickes würdigen, verstört diesen zutiefst. Also tröstet und ermutigt Niels, gibt praktische Ratschläge, schimpft manchmal - doch in allen schwierigen literarischen Lebenslagen ist er da, antwortet jeden Tag, und wenn er einmal verhindert oder verreist ist, schickt der Autor vorwurfsvolle Hilferufe. "Ohne dich hätte ich mich wahrscheinlich schon längst aufgegeben", schreibt Zschokke im November 2007.
Deshalb ist die Mail-Chronik "Lieber Niels" auch keine sanfte Lektüre, im Gegenteil: In ihr weht, neben Melancholie und Spottlust, der Geist der Empörung. Alles, was dem schreibenden Ich unecht, feige und nur auf schnelle Wirkung hin kalkuliert erscheint, seien es nun Filme, Bücher oder Theaterstücke, geißelt er gnadenlos. Und das Spinnennetz des Literaturbetriebs mit seinen Schleimern, Musterschülern, Intriganten und selbstherrlichen Kritikern, die er alle beim Namen nennt, hasst Matthias Zschokke ohnehin. Aber es geht in diesem siebenhundert Seiten dicken Buch nicht um Betriebsschelte oder Ressentiments, auch wenn die betreffenden Passagen sich so vergnüglich lesen wie ein Thomas-Bernhard-Lamento und genauso punktgenau treffen - oder völlig am Ziel vorbeischießen. Es geht um das radikal subjektive Erzählen eines schriftstellerischen Alltags, um den sprachgenauen Blick auf ein hochsensibles, narzisstisches, verletzliches und liebessüchtiges Ich, das sich jeden Tag zwischen deprimierender Zeitungslektüre, kränkenden Mailanfragen und zermürbenden Geld- und Schreibproblemen neu zu verorten und zu motivieren sucht.
"Ich sollte endlich einen Entkrampfungskurs besuchen. Bin nun schon so alt. Erstaunlich, dass ich immer noch so viel Kraft und Energie habe zum Einkrampfen", schreibt er im November 2007 über eine seiner vielen missglückten Lesungen. Diese "an Hysterie grenzende Empfindlichkeit", mit der er lebenslang kämpft und die ihm schon die Schauspielerei verleidete, ist so ziemlich das Schlimmste, was einem Schriftsteller, der von Auftrittshonoraren lebt, passieren kann. Denn Grund zur (oft berechtigten) Klage gibt es immer. Entweder ist der Raum stickig oder leer, der Begrüßende herablassend oder dumm, das Honorar beleidigend niedrig. Alles wie im billigsten Tingeltangel, nur soll der Künstler literarische Hochseilartistik abliefern! Ganz zu schweigen von den Kämpfen mit seinem früher begeisterten, jetzt in schweren Geldnöten steckenden Verleger, der so impertinent einen Bestseller fordert, als hätte er keine Zeile seines Autors gelesen.
Natürlich können so beunruhigende, hochkonzentrierte Bücher wie "Max", "Das lose Glück" oder der fulminante Großstadtroman "Maurice mit Huhn" keine Massenerfolge werden, dazu sind sie viel zu kunstvoll. Aber der gekränkte Autor, dem sogar Niels manchmal Erfolgstipps zu geben versucht, faucht und wütet und verdächtigt alle, ihn in die "Niederungen des Kultursöldnertums" zwingen zu wollen: "Wir reisen rund um die Welt in Sachen Kultur, logieren in Kasernen, essen in Spelunken, blöken irgendwelche Plattitüden daher über Schweizer Literatur, tragen unseren kargen Sold nach Hause." Merkwürdig nur, dass der unmittelbare Anlass für diesen Ausbruch ein prachtvoller, vom Schweizer Botschafter ausgerichteter Abend war!
Es macht den Reiz dieser zwischen Brief, Tagebuch und Alltagsgespräch angesiedelten, in ihrer Sensibilität und Offenheit hochaktuellen Form aus, dass sie ständig zwischen Banalem und Literarischem hin- und herpendelt. Aus den Computernöten des Autors entwickelt sich ein kleine Poetik, aus dem Jammern über Kopfschmerz und Kater die funkelnde Schilderung eines melancholischen, aus der Zeit gefallenen Abends, und aus Niels' ignorantem Lästern über Muslime eine liebevolle Reiseerzählung. Das Ich, das hier spricht, hadert mit sich und seiner Ungeschicklichkeit und Schüchternheit, fühlt sich dem Alter ausgeliefert und klammert sich panisch an das Schreiben. So groß ist diese Angst, dass der Autor momenteweise sogar Niels misstraut, der ihm zu einem grandiosen und verrückten Internetauftritt verholfen hat (www.angelfire.com), samt abenteuerlicher Vita (Aktmodell, Schauspieler, Tierpfleger etc.) und behauptet: "Zutiefst überzeugt davon, dass ich Kunst schaffe, bist du nicht. Doch das sagst du mir nicht, so wie du mir auch nie sagen würdest, dass es keinen Osterhasen und keinen Weihnachtsmann gibt." Niels kann (in seinen nicht abgedruckten, aber mitschwingenden Antworten) noch so zynisch wüten: Der Erzähler glaubt an das Wunder der Kunst, an ihre Sprünge und Unwägbarkeiten. Diese Offenheit des Herzens macht ihn scharfsichtig und blind zugleich. Niemand kann so kindlich begeistert, so leicht und witzig einen philosophischen Trash-Abend von Renée Pollesch in den Himmel loben oder mit wenigen, giftigen Sätzen eine bedeutungsschwangere Inszenierung von Jonathan Meese zur Hölle schicken. Nur was die Einschätzung gleichaltriger Autoren angeht, ist unser Mailschreiber sonderbar blind. Ausgerechnet den selbstkritischen und skrupulösen Ulrich Peltzer degradiert er zum gestählten Formulierungs- und Denkmuskelmann und behauptet, Autoren wie er gäben "nichts preis von ihrem Denken und Leben".
Verblüffend ist die Nähe des hier Schreibenden zu seinen Romanfiguren: der schüchterne Eigenbrötler Maurice, der im Wedding arbeitet, sich jeden Weg aus dem Haus selbst abtrotzen muss und den Alltag als beunruhigendes Abenteuer erlebt, muss ein Double von Matthias Zschokke sein, der sich von Zumutungen umgeben fühlt und vom Auswandern träumt. Und die Empfindlichkeiten und Zögerlichkeiten von "Max" sind in fast jeder Mail zu spüren.
Sind die Romane also autobiographisch, die elektronischen Briefe Erzählungen? Zum Glück für den Leser sind die Grenzen offen, denn die Mails gehen vom selben Existenzpunkt aus wie die Romane (und die Theaterstücke und Filme): Sie handeln von einem Ich, das sich mit jedem Atemzug und jeder Bewegung an der Welt reibt und sich gegen seinen Willen ständig in ihre Netze verstrickt. Mit größter Begeisterung hat Matthias Zschokke die Briefe von Gottfried Benn an Oelze gelesen - ihr Stil und ihre klare, oft eigensinnige Haltung haben eindeutig Spuren hinterlassen, ebenso die Tagebücher von Samuel Pepys mit ihrer Schonungslosigkeit und schieren Masse: Genauso überzeugend bilden diese Mails den "Mahlstrom der Zeit" (Nils Höpfner) ab. Der aber fließt hier tänzerisch anmutig, hoffnungsvoll und leicht, und erzeugt einen unwiderstehlichen Lesesog. Die Mails "An Niels" machen süchtig!
Matthias Zschokke: "Lieber Niels".
Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 764 S., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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