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Das Lieblingsbuch der Schotten: Lewis Grassic Gibbons großer Roman "Lied vom Abendrot", von Esther Kinsky neu übersetzt
Wer aufbricht ins fiktive Kinraddie im Nordosten Schottlands, sollte wissen, dass hier einst ein Greif lebte. Das Untier, heißt es, fraß (in dieser Reihenfolge!) "Schafe und Männer und Frauen" und war "ein rechtes Grauen". Aber natürlich gab es der Gründungslegende nach einen Helden, "jung und ohne Besitz und arg tapfer und gut bewaffnet", der das Untier nachts im Tobel von Kinraddie tötete. So hebt es also an, das große "Lied vom Abendrot", erster Teil einer Trilogie, "Sunset Song" im schottischen Original, das so leichtfüßig den gängigen Ton alter Epen aufgreift.
Die eben erst für ihren eigenen Roman "Hain" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Esther Kinsky hat es in ein solch kraftvolles, eigenwillig schwingendes und klingendes Deutsch übertragen, dass man es gar nicht mehr aus der Hand legen mag. Jeder Absatz eine Lust; viele Wörter zum Nachlauschen und Entdecken. Leichter Regen ist "ein dünnes Drieseln"; das Moorland "blach"; die Geschichte eingebettet in die schroffe Gegend am Fuße der Mearns, die der mit nur 34 Jahren gestorbene Autor Lewis Grassic Gibbon (1901 bis 1935) mit Menschen und Schicksalen besiedelt, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. "Szenen aus Schottland", das der Guggolz-Verlag bereits 2016 unter Gibbons Pseudonym James Leslie Mitchell vorlegte, war schon mal - als Reigen informativer Essays und kürzerer Erzählungen, auch schon von Esther Kinsky aus dem Englischen übertragen - ein Vorgeschmack. Jetzt also das Opus magnum.
Die Geschichte entspannt sich von 1911 bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Erzählt wird mit authentischem Charme vom Leben der rauhbauigen Kinraddier, vor allem aber von Chris Guthrie. Mit dieser Frau betritt 1932, als der Roman in London erscheint, eine der eigensinnigsten weiblichen Hauptfiguren die Literaturwelt. Sie widerspricht allen Rollenklischees und scheint herausgemeißelt aus dem vielschichtigen Untergrund dieser Landschaft. Chris wächst auf Blawearie auf, einem der Höfe. Man muss den Berg zu ihr und den Guthries hinauf und wird schnell warm mit diesem Mädchen, das wissbegierig ist und sogar aufs College darf. Ist sie lesemüde, hilft sie der Mutter bei der Wäsche, beim "Kaddern", barfüßig in wassergefüllten Zubern: "Es fühlte sich so angenehm an, wenn das Wasser blau und regenbogenschillernd zwischen den Zehen aufstieg und dichter und dichter wurde." Auf die Wahrnehmung dieses Mädchens, das unter widrigsten Umständen zur selbstbewussten Frau wird, legt Gibbon sein Augenmerk. Und so folgt man gebannt, wie sie sich ihre Sensibilität bewahrt, während ihr zeitgleich der fürs Landleben nötige Panzer wächst.
Der knochenhart arbeitende Vater kommandiert alle herum. Als ihr Bruder Will nach Argentinien auswandert, ist Chris dem Vater allein ausgesetzt, auch dessen Übergriffen, wenn er ihr zuflüstert, sie solle sich zu ihm legen, "wie sie es zu Zeiten des Alten Testaments getan hatten". Eine der bewegendsten Stellen ist die Beschreibung der Beerdigung dieses Vaters und wie Chris am Grabe doch noch die Tränen kommen und sie sich erinnert, wie der Vater, als sie klein war, ihr während des langen Gangs zur Kirche zugelächelt und sie "mein Mäken" genannt hatte, bevor "der Kampf mit der Welt und der Kampf seines eigenen Fleisches allzu bitter wurden und seine Liebe vergifteten". Aus Wut, Not und Trauer erwacht Chris' Stärke.
Gibbon findet dafür Bilder, die fast überbelichtet sind, aber trotzdem alles wie unter einem Schleier halten. Im Rahmen des Möglichen und Unmöglichen richtet Chris sich ein. Die Schule verwirft sie, das Land liebt sie. Obwohl man von ihr erwartet, dass sie den Hof verkauft, widmet sie sich ihm nun ganz und geht in ein neues, selbstbestimmtes Leben; eine kleine Wegstrecke verliebt mit Ehemann, den sie regelmäßig in seine Schranken weist; nach dessen Tod wieder allein.
2016 wurde das Buch in einer BBC-Umfrage zum "Lieblingsbuch der Schotten" gekürt. Der Gibbon-Kenner Ian Galbraith reiht es - die schottische Gegenwartsautorin Ali Smith zitierend - neben Größen wie D. H. Lawrence und William Faulkner ein und schwärmt zu Recht von der "traumähnlichen Sinnlichkeit der szenischen Beschreibung", die vermutlich viel eigenem Erleben abgerungen sei. Gibbon wuchs selbst in dieser Landschaft auf, im Howe zwischen Bergen und Nordsee südlich von Aberdeen. Mit sechzehn ging er weg, um als Journalist zu arbeiten, doch die Dialekte, die "Doric Scots", blieben im Ohr.
Um das Umgangssprachliche ins Deutsche zu bringen, hat sich Esther Kinsky unter anderem beim Plattdeutschen bedient, was einen erstaunlich textmotorisierenden schneidenden Effekt hat. Die Nacht "glust", der Besitz wird "verdröppelt", in grauer Vorzeit der Adel "abgemurkst"; Mädchen sind "Deern", dürre Mädchen "ein magerer Hippen von einer Deern", und manchmal "schlieggert" (schleicht) wer. Und wenn der Großkonflikt zwischen Schotten und Engländern schwelt, heißt es knackig, aber durchaus pejorativ, dass "die Englischen furchtbar gniedsch waren und nicht richtig reden konnten". Auch Gibbon schichtet und spielt - wie Kinsky - im Original mit Ausdrücken, um den Eindruck einer "landschaftlichen Sprache" zu erwecken, schafft also, so Galbraith, ein eigenes Idiom. Genügend verspielt, aber nicht exotisch, berührt es beim Lesen Herz wie Sprachlustzentrum.
Neben Chris' bewegender Geschichte erfasst "Lied vom Abendrot" den dramatischen Wandel durch Klima, Technik, Krieg. Obwohl hier alles zwischen Ernte, Buttern, Garbenbinden seinen ritualisierten Lauf nimmt, ergreift dieser Wandel bald alle. Und so liest man hier keineswegs nur eine statisch-folkloristische Bauernschmonzette (ein Dudelsack tritt erst auf der letzten Seite auf), sondern packend beschrieben vom Überlebensszenario einer kleinen Bauerngemeinschaft, in der sich die Welt spiegelt. Die Höfe werden verkauft und zerschlagen, "Wärme der Arbeit" und Gemeinschaftsgeist haben gegenüber anrückendem Kapitalismus ausgedient. Dass Gibbons Trilogie schon mal in anderer Übersetzung, von Hans Petersen, in der DDR der achtziger Jahre erfolgreich war, wundert da kaum und erklärt sich auch durch Gibbons publizistisches Engagement in der politischen Linken.
Umgangssprachlicher, lebendiger, fließender übersetzt, wirkt die Geschichte nun jedoch wie frisch serviert. Anspielungsreich und selbstironisch webt Gibbon die Tradition mit ein, mit Seitenhieben etwa gegen kitschige englische Romane, von denen er sich abhebt. Er erzählt mit wendiger Stimme und waschechten Ausdrücken von Gewinnern wie Verlierern, als würde man neben ihrem Pflug mitwandern. Vor allem aber erzählt er quasi ebenerdig aus dieser wunderbaren schottischen Landschaft heraus von menschlichen Beziehungen. Die innere Landkarte im Zwiegespräch mit der äußeren ist sein eigentliches Thema und der geheime Grund, warum man dran bleibt.
ANJA HIRSCH
Lewis Grassic Gibbon: "Lied vom Abendrot".
Aus dem schottischen Englisch von Esther Kinsky. Mit Nachworten von Esther Kinsky und Iain Galbraith. Guggolz Verlag, Berlin 2018. 397 S., geb., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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