Martin Doerry über das Leben seiner Mutter zwischen Ausgrenzung und Anpassung Einfühlsam schildert der Journalist und Historiker Martin Doerry das Schicksal seiner Mutter Ilse, der ältesten Tochter der in Auschwitz ermordeten jüdischen Ärztin Lilli Jahn. Als junges Mädchen war sie zur Zeugin der Entrechtung und Verfolgung ihrer Mutter geworden und musste am Ende selbst um ihr Leben bangen. Auch nach dem Krieg wurde Ilse zum Opfer immer wiederkehrender Diskriminierung und Ausgrenzung. Das Schicksal Lillis verschwieg sie, eigene berufliche Pläne opferte sie der Karriere ihres Mannes. Erst mit der Veröffentlichung der Briefe, die sie und ihre Geschwister an die im Lager inhaftierte Lilli geschrieben hatten und die wie durch ein Wunder erhalten geblieben waren, begann die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Martin Doerry erzählt die berührende Geschichte seiner Mutter als Geschichte einer Überlebenden und einer in den Konventionen und Zwängen der Nachkriegszeit gefangenen Frau.
>Mein verwundetes Herz<. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944« ein hoch gelobtes literarisches Denkmal.
>Mein verwundetes Herz<. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944« ein hoch gelobtes literarisches Denkmal.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2024Vom Beschweigen nach dem Krieg
Martin Doerry erzählt in beeindruckender Weise vom Lebensweg seiner Mutter
Wie geht es weiter mit der Erinnerung an die Schoa, zu einem Zeitpunkt, zu dem ihre Sonderstellung von verschiedenen Seiten infrage gestellt wird und die letzten Überlebenden des Naziterrors sterben? Was bleibt, wenn die Zeugen verstummen? Nur die verschriftlichte Erzählung. Martin Doerry, lange Zeit stellvertretender Chefredakteur des "Spiegels", hat bereits 2002 ein eindrucksvolles Buch über seine in Auschwitz ermordete Großmutter Lilli Jahn geschrieben. Jetzt ist eine Fortsetzung über "Lillis Tochter", also seine eigene Mutter, erschienen.
Dem Buch ist ein Zitat von Richard Ford vorangestellt: "der Mensch ist so viel mehr, als irgendwer je erzählen könnte". Und auch in der Einleitung wird der amerikanische Schriftsteller als Referenz aufgerufen, um das Schreiben über die eigene Mutter zu deuten: Man habe zur ihr nicht das, was man sonst als Beziehung bezeichne, so Ford, diese Verbindung sei für beide Seiten etwas absolut Selbstverständliches, nicht Definierbares. Für Doerry selbst war die Bindung zu seiner Mutter Ilsa wohl nie völlig selbstverständlich. Zu gefährdet, zu riskant waren die Ausgangsbedingungen ihres Lebens.
Entsprungen aus einer sogenannten "privilegierten Mischehe" zwischen einem deutschen Vater und einer jüdischen Mutter, war Ilsa schon als Vierzehnjährige von einem Tag auf den anderen zur wichtigsten Verantwortungsträgerin der Familie geworden. Ihr Vater hatte eine Affäre mit einer Aushilfsärztin begonnen und dadurch zumindest in Kauf genommen, dass seine jüdische Frau in Gefahr geriet. Im August 1943 wird Lilli von der Gestapo verhaftet - weil sie bei einem provisorischen Namensschild an der Klingel den Zwangsvornamen Sara vergessen hatte. Bald darauf wird sie nach Auschwitz verschleppt, wenig später kommt die Todesnachricht.
Ilsa, die bis dahin ein schüchternes Kind gewesen war, wandelt sich "plötzlich zu einem tatkräftigen Mädchen". Im Angesicht des Verbrechens wird sie erwachsen. Der Vater wird an die Ostfront geschickt, Ilsa muss sich allein um die Geschwister kümmern. Nur durch Glück überleben sie die Bombennächte in Kassel, trotzen Hunger, Kälte und Verzweiflung.
Nach dem Krieg geht Ilsa nach England. Kurz steht eine Emigration nach Israel im Raum, dann lernt sie im Overseas Club einen jungen Hamburger Jurastudenten kennen. Eindrucksvoll schildert Doerry die erschreckende Abneigung, die ihr in der Familie ihres baldigen Verlobten entgegenschlägt. Die Angst ihres Schwiegervaters davor, dass sein Sohn "lauter kleine schwarzhaarige jüdisch aussehende Kinder" bekommen würde, zeugt vom fortdauernden Antisemitismus im frühen Nachkriegsdeutschland.
Auch andernorts schlägt Ilsa der alte Judenhass noch entgegen - in Lüneburg, wo das junge Paar vorübergehend wohnt, übernehmen alte NS-Größen wieder Ämter im Rathaus, und Ilsa hat das Gefühl, "wieder umringt von Nazis zu sein". Doerry sieht bei seiner Mutter bald "alle Hoffnungen auf eine vollständige Integration in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft" schwinden. Von einem "Überlebenden-Syndrom" gequält, leidet sie zeit ihres Lebens unter Depressionen. Und doch kennt sie auch Versöhnung. Eine Freundin, die ihr aus Scham die Parteimitgliedschaft ihres Vaters vorenthalten hatte, beruhigt sie mit den Worten: "Wir können doch eigentlich beide nichts dafür."
Als Ilse Doerry am 11. Dezember 2015 stirbt, liegt ein bewegendes Leben hinter ihr. Ihrem Sohn ist es zu verdanken, dass sie in ihren letzten Lebensjahren den Wert ihrer Erinnerung begreift. Bei einem Besuch in der Feuilleton-Redaktion dieser Zeitung im Oktober 2002 berichtete sie von der "Zeit des absoluten Schweigens" kurz nach dem Krieg. Heute, achtzig Jahre später, ist das Schweigen lange schon gebrochen. Was nun droht, ist ein Übertönen. Dagegen ist dieses Buch geschrieben - in einem ruhigen, gefassten Ton, der uns doch aus der Fassung bringt. Bringen sollte. SIMON STRAUSS
Martin Doerry: "Lillis Tochter". Das Leben meiner Mutter im Schatten der Vergangenheit - eine deutsch-jüdische Familiengeschichte.
DVA, München 2023. 320 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Doerry erzählt in beeindruckender Weise vom Lebensweg seiner Mutter
Wie geht es weiter mit der Erinnerung an die Schoa, zu einem Zeitpunkt, zu dem ihre Sonderstellung von verschiedenen Seiten infrage gestellt wird und die letzten Überlebenden des Naziterrors sterben? Was bleibt, wenn die Zeugen verstummen? Nur die verschriftlichte Erzählung. Martin Doerry, lange Zeit stellvertretender Chefredakteur des "Spiegels", hat bereits 2002 ein eindrucksvolles Buch über seine in Auschwitz ermordete Großmutter Lilli Jahn geschrieben. Jetzt ist eine Fortsetzung über "Lillis Tochter", also seine eigene Mutter, erschienen.
Dem Buch ist ein Zitat von Richard Ford vorangestellt: "der Mensch ist so viel mehr, als irgendwer je erzählen könnte". Und auch in der Einleitung wird der amerikanische Schriftsteller als Referenz aufgerufen, um das Schreiben über die eigene Mutter zu deuten: Man habe zur ihr nicht das, was man sonst als Beziehung bezeichne, so Ford, diese Verbindung sei für beide Seiten etwas absolut Selbstverständliches, nicht Definierbares. Für Doerry selbst war die Bindung zu seiner Mutter Ilsa wohl nie völlig selbstverständlich. Zu gefährdet, zu riskant waren die Ausgangsbedingungen ihres Lebens.
Entsprungen aus einer sogenannten "privilegierten Mischehe" zwischen einem deutschen Vater und einer jüdischen Mutter, war Ilsa schon als Vierzehnjährige von einem Tag auf den anderen zur wichtigsten Verantwortungsträgerin der Familie geworden. Ihr Vater hatte eine Affäre mit einer Aushilfsärztin begonnen und dadurch zumindest in Kauf genommen, dass seine jüdische Frau in Gefahr geriet. Im August 1943 wird Lilli von der Gestapo verhaftet - weil sie bei einem provisorischen Namensschild an der Klingel den Zwangsvornamen Sara vergessen hatte. Bald darauf wird sie nach Auschwitz verschleppt, wenig später kommt die Todesnachricht.
Ilsa, die bis dahin ein schüchternes Kind gewesen war, wandelt sich "plötzlich zu einem tatkräftigen Mädchen". Im Angesicht des Verbrechens wird sie erwachsen. Der Vater wird an die Ostfront geschickt, Ilsa muss sich allein um die Geschwister kümmern. Nur durch Glück überleben sie die Bombennächte in Kassel, trotzen Hunger, Kälte und Verzweiflung.
Nach dem Krieg geht Ilsa nach England. Kurz steht eine Emigration nach Israel im Raum, dann lernt sie im Overseas Club einen jungen Hamburger Jurastudenten kennen. Eindrucksvoll schildert Doerry die erschreckende Abneigung, die ihr in der Familie ihres baldigen Verlobten entgegenschlägt. Die Angst ihres Schwiegervaters davor, dass sein Sohn "lauter kleine schwarzhaarige jüdisch aussehende Kinder" bekommen würde, zeugt vom fortdauernden Antisemitismus im frühen Nachkriegsdeutschland.
Auch andernorts schlägt Ilsa der alte Judenhass noch entgegen - in Lüneburg, wo das junge Paar vorübergehend wohnt, übernehmen alte NS-Größen wieder Ämter im Rathaus, und Ilsa hat das Gefühl, "wieder umringt von Nazis zu sein". Doerry sieht bei seiner Mutter bald "alle Hoffnungen auf eine vollständige Integration in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft" schwinden. Von einem "Überlebenden-Syndrom" gequält, leidet sie zeit ihres Lebens unter Depressionen. Und doch kennt sie auch Versöhnung. Eine Freundin, die ihr aus Scham die Parteimitgliedschaft ihres Vaters vorenthalten hatte, beruhigt sie mit den Worten: "Wir können doch eigentlich beide nichts dafür."
Als Ilse Doerry am 11. Dezember 2015 stirbt, liegt ein bewegendes Leben hinter ihr. Ihrem Sohn ist es zu verdanken, dass sie in ihren letzten Lebensjahren den Wert ihrer Erinnerung begreift. Bei einem Besuch in der Feuilleton-Redaktion dieser Zeitung im Oktober 2002 berichtete sie von der "Zeit des absoluten Schweigens" kurz nach dem Krieg. Heute, achtzig Jahre später, ist das Schweigen lange schon gebrochen. Was nun droht, ist ein Übertönen. Dagegen ist dieses Buch geschrieben - in einem ruhigen, gefassten Ton, der uns doch aus der Fassung bringt. Bringen sollte. SIMON STRAUSS
Martin Doerry: "Lillis Tochter". Das Leben meiner Mutter im Schatten der Vergangenheit - eine deutsch-jüdische Familiengeschichte.
DVA, München 2023. 320 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Martin Doerry erzählt in beeindruckender Weise vom Lebensweg seiner Mutter. [...]. [I]n einem ruhigen, gefassten Ton, der uns doch aus der Fassung bringt. Bringen sollte.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, Simon Strauss