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Einbruch in eine Männerdomäne: Tanja Traxler und David Rennert folgen dem Lebensweg der Wiener Physikerin Lise Meitner.
Von Sybille Anderl
Als Donna Strickland vor einigen Wochen als dritte Frau nach Marie Curie und Maria Goeppert-Mayer mit dem Physik-Nobelpreis geehrt wurde, mag dies für nicht wenige Anlass für Verwunderung gewesen sein: Verwunderung nicht allein aufgrund der Tatsache, dass überhaupt erst drei Frauen diese Auszeichnung zuteil wurde, sondern auch angesichts jener brillanten und bedeutenden Physikerinnen, die in diesem Trio fehlen.
Die Österreicherin Lise Meitner, die ihre produktivsten Jahre am 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Chemie in Berlin Dahlem verbrachte und zusammen mit Otto Hahn um die Jahreswende 1938/39 das Prinzip der Kernspaltung entdeckte, steht dabei sicher weit oben auf der imaginären Liste der fehlenden Laureatinnen. Die beiden Wissenschaftsredakteure Tanja Traxler und David Rennert haben ihr eine Biographie gewidmet.
Tatsächlich kann Meitners Lebensgeschichte als Fallstudie dafür genommen werden, wie es einer Frau Anfang des vergangenen Jahrhunderts gelingen konnte, ihr Leben trotz vieler zu überwindender Widerstände ganz an ihrem Ehrgeiz und ihrer Freude an der Wissenschaft auszurichten. So zählt Meitner in Wien bei Studienbeginn 1901 zu den ersten Physikstudentinnen. Als sie 1907 ins preußische Berlin zieht, ist dort das Recht zu studieren für Frauen nicht einmal eingeführt. Dass Frauen forschen wollen, ist zu dieser Zeit noch fast undenkbar. Max Planck soll bei seinem ersten Zusammentreffen mit Meitner gesagt haben: "Aber Sie sind doch schon Doktor! Was wollen Sie denn noch?"
Trotz ihrer großen Schüchternheit und tiefer innerer Unsicherheit gelingt es Meitner aber schnell, ihr Umfeld von ihren Leistungen zu überzeugen. Auf der Grundlage ihrer langen und intensiven Zusammenarbeit mit dem Chemiker Otto Hahn zu Fragen der Kernphysik baut sie sich eine erfolgreiche Karriere auf. Nach dem Ersten Weltkrieg leitet sie am KWI für Chemie eine eigene Forschungsabteilung, 1919 erhält sie den Professorentitel. Ihre Antrittsvorlesung 1922 zur Bedeutung der Radioaktivität für kosmische Prozesse wird von einem Journalisten zwar noch auf "kosmetische Prozesse" umgedeutet - doch Meitners Stellung als erfolgreiche Physikerin wird in den zwanziger Jahren auch international nicht mehr in Frage gestellt. Erst ihre Flucht 1938, die für sie als gebürtige Jüdin nach dem "Anschluss" Österreichs unvermeidlich wird, versetzt ihrer Forscherkarriere einen herben Rückschlag und zwingt sie mit sechzig Jahren zum völligen Neubeginn.
Die Schilderung von Meitners Karriere würde das Buch allein lesenswert machen. Gleiches gilt für die Beschreibung der Entwicklung der modernen Physik auf der Ebene der Quanten- und Kernphysik, in deren Zentrum Meitner steht - und die zusammen mit Einsteins Revolutionierung der Vorstellungen von Raum und Zeit wohl eine der dichtesten und reichhaltigsten Episoden der Wissenschaftsgeschichte darstellt.
Meitners Lebensgeschichte ist aber deshalb so außergewöhnlich packend, weil diese beiden Ebenen eingebettet sind in die dramatischen politischen Ereignisse der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, die es unmöglich werden ließen, Wissenschaft unpolitisch zu betreiben. Im Ersten Weltkrieg tut sich Meitner noch als begeisterte Kriegsanhängerin hervor, die von der Überlegenheit der germanischen Rasse schwärmt, während ihr Kollege Fritz Haber am KWI die Grundlagen für den Gaskrieg entwickelt. Erst ihre Erlebnisse als Röntgenschwester an der Front dämpfen ihre Kriegseuphorie.
In der Zeit zwischen den Kriegen gelingt es Meitner bis 1938 weitgehend, sich in ihrer Forschung von den politischen Wirren abzukapseln, auch wenn sie vom akademischen Leben in Deutschland durch die antisemitischen Gesetze der Nationalsozialisten zunehmend ausgeschlossen wird. Erst im letzten noch möglichen Moment kann sie sich am 13. Juli 1938 zur Flucht über die Niederlande nach Schweden durchringen. In Schweden isoliert und nur per Briefwechsel in Kontakt mit den Kollegen Otto Hahn und Fritz Straßmann, trägt sie mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch maßgeblich zur theoretischen Deutung der Kernspaltung bei - Einsichten, die infolge des amerikanischen Manhattan-Projekts den Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima 1945 möglich macht und ein weiteres Mal die Frage nach der moralischen Verantwortung von Wissenschaftlern aufwirft, die sich wie ein roter Faden durch die Biographie zieht.
Am Ende des Buches erfährt man schließlich, dass Meitner mindestens 48-mal für den Chemie- oder Physik-Nobelpreis nominiert war. Die Gründe dafür, dass ihr diese Anerkennung dennoch verwehrt blieb, sind seit den neunziger Jahren bekannt: Offenbar spielten politische Intrigen innerhalb des Nobel-Komitees eine entscheidende Rolle. Die Nobelpreis-Frage ist zwar im Rückblick auf Meitners Leben kaum zu umgehen. Aber die Bedeutung der vorliegenden Biographie hängt nicht an ihr, sondern viel eher noch an der Einsicht, wie wenig selbstverständlich die Freiheiten und Rechte letztlich sind, die wir genießen, und wie gefährlich es sein kann, sich der eigenen Verantwortung nicht oder erst zu spät zu stellen, wenn diese Freiheiten auf dem Spiel stehen.
David Rennert und Tanja Traxler: "Lise Meitner".
Pionierin des Atomzeitalters.
Residenz Verlag, Salzurg / Wien 2018.
224 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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