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Die schönsten Liebesgedichte einer der größten Dichterinnen der Weltliteratur. Marina Zwetajewa (1892-1941), die bedeutendste russische Dichterin neben Anna Achmatowa, ist eine der großen Liebesdichterinnen der Weltliteratur, eine Liebende voller "Maßlosigkeit in einer auf Maß bedachten Welt". Dass sie dem uralten Gegenstand völlig neue, unerhörte Klänge - und Klagen - abgewinnt, macht sie zu einem poetischen Phänomen. Ihre Gedichte sind an Frauen wie an Männer gerichtet, das Thema Liebe und Leidenschaft ist bei ihr universal. Wer aber in Marina Zwetajewas Liebesgedichten Idyllen sucht, muss…mehr

Produktbeschreibung
Die schönsten Liebesgedichte einer der größten Dichterinnen der Weltliteratur. Marina Zwetajewa (1892-1941), die bedeutendste russische Dichterin neben Anna Achmatowa, ist eine der großen Liebesdichterinnen der Weltliteratur, eine Liebende voller "Maßlosigkeit in einer auf Maß bedachten Welt". Dass sie dem uralten Gegenstand völlig neue, unerhörte Klänge - und Klagen - abgewinnt, macht sie zu einem poetischen Phänomen. Ihre Gedichte sind an Frauen wie an Männer gerichtet, das Thema Liebe und Leidenschaft ist bei ihr universal. Wer aber in Marina Zwetajewas Liebesgedichten Idyllen sucht, muss fehlgehen. Sie sind oft eine Abrechnung mit der Liebe und mit sich selbst - schonungslos, unerschrocken. In einem Brief nennt sie die Liebe "das grausamste Spiel zum Krallenschärfen gegen sich selbst". Der Band umfasst über hundertfünfzig Gedichte Marina Zwetajewas - viele davon erstmals in deutscher Übersetzung. In seinem Essay wagt Ralph Dutli einen neuen Blick auf die poetische, existentielle und erotische Radikalität dieser Dichterin.
Autorenporträt
Marina Zwetajewa (1892-1941) gehört zu den bedeutendsten russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Lyrik steht u. a. in der Tradition von Alexander Blok und Rainer Maria Rilke und hat große Ausstrahlung auf die russische Gegenwartslyrik. Ralph Dutli ist bekannt als Herausgeber und Übersetzer der zehnbändigen Gesamtausgabe der Werke Ossip Mandelstams und mehrerer Bücher von Marina Zwetajewa und Joseph Brodsky. Für seine Vermittlung moderner russischer Dichtung erhielt er u. a. den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Im Wallstein Verlag erschienen außerdem seine Romane "Soutines letzte Fahrt" und "Die Liebenden von Mantua", eine Trilogie französischer mittelalterlicher Poesie des 13. Jahrhunderts und seine "Kleinen Kulturgeschichten" zu Olivenbaum, Honigbiene und Gold.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021

Die Schicksalserklärung dieser Dichterin

Erstmals liegt der komplette Briefwechsel zwischen Marina Zwetajewa und Boris Pasternak auf Deutsch vor. Und es gibt auch einen neuen Lyrikband.

Von Hannah Bethke

Es klingt wie ausgedacht. Ein Mann, eine Frau. Eine Lyrikerin, ein Schriftsteller. Nur flüchtig sind sie sich einige Male begegnet. Sie kennen sich vor allem aus ihren Texten. Beide sind verheiratet und Anfang dreißig, als ein Gedichtband der Frau den Mann so ergreift, dass er ihr einen Brief schreibt - der Beginn eines jahrelangen Briefwechsels, der sich zur intensiven, schutzlosen und schmerzhaften Liebe entwickelt. Aber einer, die nur im Kopf existiert.

Marina Zwetajewa (1892 bis 1941) und Boris Pasternak (1890 bis 1960), beide in Moskau geboren, sind die Protagonisten dieser eindrucksvollen Korrespondenz, die sich so liest, als wäre sie selbst eine Erfindung der Lyrik. Erstmals liegt der vollständige Briefwechsel auch auf Deutsch vor. Mit einem akribischen Anmerkungsapparat ausgestattet, bezieht die von Marie-Luise Bott herausgegebene und übersetzte Edition auch die Arbeitshefte Zwetajewas ein.

Pasternak, der aus einem jüdischen Elternhaus stammt, war Anhänger der Oktoberrevolution, rang aber mit dem Kommunismus und bekam die Repressalien der sowjetischen Diktatur zu spüren. Bücher und Briefe wurden zensiert, unter Stalin konnte er kaum noch publizieren. Als er für den Roman "Doktor Schiwago" 1958 den Nobelpreis bekommen sollte, musste Pasternak ihn auf Druck des Moskauer Regimes ablehnen.

Zwetajewa war bis 1922 in Moskau geblieben, 1920 ihre jüngste Tochter Irina an Unterernährung gestorben. Sie emigrierte mit der zweiten Tochter Ariadna nach Berlin, nach der Geburt ihres Sohnes Georgij wanderte sie 1925 von dort nach Paris aus, wo sie in Vororten unter ärmlichsten Verhältnissen lebte. 1939 kehrte sie in die Sowjetunion zurück. Im selben Jahr wurde ihre Schwester wegen angeblich konterrevolutionärer Aktivitäten zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Auch ihre Tochter und ihr Mann Sergej Efron wurden verhaftet. Ariadna kehrte erst 1955 nach sechzehn Jahren Lagerhaft und Verbannung zurück. Zwetajewas Sohn fiel 1944 an der Front in Lettland. Ihr Mann wurde im Oktober 1941 in der Lubjanka, dem Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes, erschossen. Zwei Monate zuvor - die deutschen Truppen waren gerade in die Sowjetunion einmarschiert - war Zwetajewa mit ihrem Sohn nach Jelabuga evakuiert worden, wo sie sich kurze Zeit später das Leben nahm.

Im Juli 1922 schreibt Pasternak ihr seinen ersten Brief und spricht sie in männlicher Form an: "mein lieber, teurer, unvergleichlicher Poet". Gerade war ihr Gedichtband "Werstpfähle" erschienen. Eine "Welle von Schluchzern" habe ihn beim Lesen überfallen. Zwetajewa antwortet selbstbewusst, mitunter fordernd - ihr Interesse ist sofort geweckt. Sie kenne Pasternaks Gedichte kaum, erwarte sein Buch - und ihn. Denn damals planten beide, sich zu sehen.

Aus dem ersehnten Auslandsaufenthalt Pasternaks aber wurde nichts. Ein ums andere Mal verfehlten sie sich, die Jahre vergingen, sie hofften auf ein Treffen, schoben es auf, vermissten sich, drängten auf eine Begegnung, fürchteten sie im nächsten Moment. Und so blieb es eine Liebe in Briefen - vielleicht die einzige, die Zwetajewa wirklich ausleben konnte: "Liebe lebt von Worten und stirbt an Taten", schreibt sie in einem Brief an Rainer Maria Rilke von 1926.

Zwetajewa hatte zahlreiche Affären mit Männern und Frauen, blieb trotzdem verheiratet und sah in Pasternak einen seelischen Rettungsanker. "Außer Ihnen habe ich in Russland kein Zuhause", schreibt sie im Juni 1925. Pasternak ist für sie "wie ein Traum, in den man zurück-kehrt". Nach zwei Jahren des Träumens kann sie mit Gewissheit sagen: "Du bist mir durch und durch nah, so unheimlich und schrecklich nah wie ich mir selbst, ohne jede Geborgenheit, wie die Berge. (Das ist keine Liebeserklärung, sondern eine Schicksalserklärung.)"

Auch Pasternak beteuert, seine Ehefrau zu lieben und reinen Gewissens zu sein, obwohl er gleichzeitig erklärt, Zwetajewa derart stark zu lieben, "so ganz und gar, dass ich in diesem Gefühl zu einem Ding werde wie ein im Sturm Badender". Sie sei zu ihm vom Himmel gefallen: "Du bist mein und warst immer mein und mein ganzes Leben ist in Dir." Nicht nur dass er sie atme, sie ist für ihn noch viel mehr: "Du bist von Kopf bis Fuß glühendes verkörpertes Vorhaben, wie auch ich, Du bist die unglaubliche Belohnung für meine Geburt, mein Umherirren, den Glauben an Gott und die Kränkungen."

Es ist eine Liebe, die mit jedem Brief wächst. Erst nach einer Weile legen beide das "Sie" ab. Von Anfang an aber besteht ein tiefes Vertrauen, eine ungewöhnliche Nähe im schriftlichen Gespräch. Seitenlang schreiben hier zwei empfindsame Seelen über ihre Gedichte und das Schreiben, über Selbstzweifel und die Schwere des Lebens, über bittere Armut, Krankheit und Tod, über das, was sie tagtäglich erleben und ineinander sehen. "Schreiben ist Eintreten, ohne anzuklopfen", bemerkt Zwetajewa in einem Brief vom Februar 1923. Und knapp vier Jahre später: "Ich lebe nicht, um Gedichte zu schreiben, sondern ich schreibe Gedichte, um zu leben."

Besonders Pasternak verliert sich oft, setzt kaum Absätze, vermischt tiefe Selbstreflexion mit literarischen Beobachtungen und stark assoziativen Gedankensprüngen. Das erkennt er auch selbst: "Wenn ich meine Briefe noch einmal durchlese, verstehe ich nichts. Und Du? Irgend so eine seminaristische, deprimierende Gebetsmühle!"

Zwetajewa urteilte sehr hart über Pasternaks Prosa. Vielleicht lag sie damit auch nicht so falsch, wenn man an die vernichtende Kritik Vladimir Nabokovs an "Doktor Schiwago" denkt. Er bezeichnete das Buch als "jämmerliche Angelegenheit, unbeholfen, trivial und melodramatisch". Ein wenig von diesem heute so befremdlichen Pathos findet sich in Pasternaks Briefen wieder: "Marina, Du meine Freundin mit der bodenlos tiefen Seele, benachbarter Feuerraum im Kesselhaus des Alltags . . ." Kein Zweifel: Hier sind zwei Besessene am Werk. Auch Zwetajewa verleiht ihren tiefen Gefühlen auf eine mitreißende Art Ausdruck, wie sie uns heute nicht mehr vertraut ist.

Gleichzeitig geht Pasternak mit sich selbst hart ins Gericht. Ständig wertet er sich und sein Schreiben ab, fühlt sich minderwertig, klagt über seine ausgeprägte "Graphophobie" und verfällt auf fast aggressive Weise in Selbstverachtung. In einem Brief vom April 1926 legt er ein Foto von sich bei und schreibt dazu: "Ich bin furchtbar hässlich. Ich sehe genauso aus wie auf dieser Photographie, sie ist gelungen." Zwetajewa antwortete ihm: "Du siehst wunderbar aus auf dem Bild, Boris . . . Das Gesicht der Seele."

In manchen Momenten wird Zwetajewa die Unwirklichkeit dieser Liebe bewusst. Im November 1922 notiert sie in ihr Arbeitsheft: "Nie werde ich glauben, dass es Sie gibt." Und trotzdem sei ihr gemeinsamer Weg, wie sie schreibt, "unumgänglich".

Das spiegelt sich auch in der Lyrik Zwetajewas, deren Liebesgedichte jetzt in einer neuen Sammlung und Übersetzung von Ralph Dutli erschienen sind: "Lob der Aphrodite". Chronologisch geordnet und von einem langen Essay begleitet, sind 150 Gedichte zu finden, etliche davon erstmals auf Deutsch. Der Gedichtzyklus "Zwei" ist Pasternak gewidmet: "Meinem Bruder in der fünften Jahreszeit, im sechsten Sinn und in der vierten Dimension". Schon früh verdunkelte sich Zwetajewas Sicht auf das Leben - und auf die Liebe. Im Alter von 22 Jahren dichtet sie: "Alles Liebesgeflüster kenn ich seit Jahren / Auswendig für allezeit! Meine zweiundzwanzigjährige Erfahrung - / Nichts als Traurigkeit." Solche tiefe Traurigkeit bleibt. Ein knappes Jahrzehnt später schreibt sie: "Ich erkenne die Liebe, wenn alles Nahe / In fernste Ferne stürzt." Sie ertrage die Idylle nicht, auf die alles hinauslaufe, schreibt sie in einem Brief.

Diese große Liebe auf Abstand währt einige Jahre, bis der Briefwechsel plötzlich abbricht. Im März 1931 gesteht Pasternak, eine neue Liebe gefunden zu haben. Er lässt sich scheiden und heiratet drei Jahre später eine andere Frau. Aus Angst vor dem sowjetischen Regime tilgt er eine Widmung für Zwetajewa aus einem seiner Gedichte - was sie zutiefst kränkt. Im Mai 1933, nach langem Schweigen, wirft Zwetajewa ihm vor, für ein Gedicht bei ihr abgeschrieben zu haben. Im Juni 1935 begegnen sie sich noch einmal kurz in Paris. Im Frühjahr 1936 schreibt Zwetajewa den letzten Brief an Pasternak. Sie ist enttäuscht und voller Verbitterung über ihn. Als hätten ihre traurigen Gedichte ihr eigenes Leben vorweggenommen, bleibt von dieser intensiven romantischen Beziehung im Geiste nichts als Zerstörung und Desillusionierung. Fünf Jahre nach diesem letzten Brief wählte Marina Zwetajewa den Tod.

So ungewöhnlich der Briefwechsel ist, so mitreißend seine Geschichte. Er ist Poesie und historisches Zeugnis zugleich. Eine Wohltat in dieser digitalen Zeit, die das Briefeschreiben bald wohl vollständig verlernt haben wird.

Boris Pasternak, Marina Zwetajewa: "Briefwechsel 1922-1936".

Hrsg. und aus dem Russischen von Marie-Luise Bott. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 800 S., geb., 39,90 [Euro]. Erscheint am 29. März.

Marina Zwetajewa: "Lob der Aphrodite". Gedichte von Liebe und Leidenschaft.

Aus dem Russischen und mit einem Essay von Ralph Dutli. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 232 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Marina Zwetajewas Gedichte vom Thema der Liebe her zu begreifen, scheint dem hier rezensierenden Lyriker Nico Bleutge sinnig. Denn jedem Liebhaber und jeder Liebhaberin, so Bleutge, scheint in diesem Band mit Gedichten von 1914 bis 1940 ein Zyklus gewidmet worden zu sein, in denen die in Moskau geborene, lang im Exil lebende Dichterin die Liebe als einen zu zähmenden Panther fasst, staunt Bleutge. Aber auch von einem tiefen Schmerz, der die Dichterin in den Selbstmord trieb, erfährt der Kritiker. Besonders beeindruckt scheint er von den "Kabelgedichten" zu sein, in denen Zwetajewa mit Bindestrichen und Brüchen formal die Telegrammstruktur nachahme und "Binnenspannungen" kreiere. Die ständigen mythologischen Einlassungen und der konstante "hohe Ton" seien gewöhnungsbedürftig, räumt der Rezensent ein, wirkt insgesamt aber sehr angetan von den äußerst "beweglichen", von Ralph Dutli gut übertragenen Gedichten Zwetajewas.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2021

Durch das Herz
fährt eine Säge
In den Liebesgedichten von Marina Zwetajewa
scheint noch einmal das bürgerliche Moskau auf
VON NICO BLEUTGE
Die Liebe, heißt es bei Alexander Kluge einmal, ähnelt einem feinen Netzwerk, ausgespannt zwischen den Liebenden. Ein solches Gewebe reicht immer über die kleinen Pläne und Wünsche des Einzelnen hinaus. Wie ein Tier richtet sich das Lebewesen Liebe zwischen den Menschen ein – und die Welt der Liebenden verwandelt sich in ein großes symbiotisches Geflecht.
Für die russische Dichterin Marina Zwetajewa indes war die Liebe ein Kriegsgeschehen, ein „Zweikampf zweier Willen“. Diese Formulierung erinnert entfernt an Rilkes „Panther“. Und tatsächlich schreibt Zwetajewa in einem Brief zur Geburt ihres Sohnes, es gehe nun nicht mehr um die Ausschweifung, sondern darum, „das wilde Tier Liebe zu zähmen, den Panther unschädlich zu machen“.
Der Panther aber wollte sich nicht zähmen lassen. Ein ganzes Gedicht-Leben lang streifte er um die ständig wechselnden Schreibtische, war für Zwetajewa Fluchtpunkt der Erfahrung und Bild für das Schreiben zugleich. Lebendigkeit lautet das Zauberwort, mit dem sie beide Bereiche vereinte. Lebendigkeit und „Leichtheit“ aller Dinge. Nicht von ungefähr charakterisierte sie sich gerne als Meerschaum, wild, hell, flüchtig: „Ich rase / Hinauf in die Luft – und zerstiebe!“
Doch die Liebe umfasste nicht nur die Euphorien des Erlebens und Schreibens, sie war von den ersten Gedichten an auch die Quelle von Trauer und Einsamkeit. Eben noch zarte Empfindungen, schon fährt „durch das Herz hin eine Säge“, wie es in einem Vers von 1916 heißt. Wobei sich die Unterscheidungen erst im Nachhinein treffen lassen. In gleichem Maße, wie ihre hoch beweglichen Gedichte mit Widersprüchen und Fragen arbeiten, sind in der Schreibenden „alle Zwangslager-Leidenschaften / Zur einen geballt“. So gesehen ist das Motiv der Liebe durchaus geeignet, um einen Pfad durch Zwetajewas lyrisches Schreiben zu legen. Der Dichter und Übersetzer Ralph Dutli hat die Gedichte entlang der Zeitachse komponiert. Vom ersten großen Zyklus „Die Freundin“, den Zwetajewa 1914/15 mit gerade 22 Jahren schreibt, hin zu späten Gedichten „an den Waisenjungen“, womit der junge, lungenkranke Dichter Anatolij Steiger gemeint ist. Bis ins Jahr 1940 reicht die Auswahl.
„Doch in der Brust steckt mir und frisst / Der Schmerz, der älter als die Liebe ist“, heißt es da. Eineinhalb Jahre später wird sie ihr Leben beenden. In Jelabuga, östlich von Kasan, wohin sie, müde, nahezu mittellos, nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion mit ihrem Sohn evakuiert worden ist. Verglichen mit der formalen Strenge der späten Gedichte wirkt der frühe Zyklus „Die Freundin“ bei allen Rissen geradezu locker komponiert. Über neun Monate hinweg schreibt ihm Zwetajewa die Liaison mit der Dichterin Sofija Parnok ein. 17 Gedichte, die nicht nur den Jahreszeiten folgen, sondern in leichter Variation Stationen wie die erste Begegnung, Ausflüge, Krisen, Abschied, Erinnerung und die bleibende Einsamkeit umkreisen.
Nie mehr wieder wird Zwetajewa Glück und Verlorenheit der Liebenden so ausgeglichen gestalten, erst auf den Schluss zu wird das Ich auch formal von der Liebe und seinem eigenen Sprechen getrennt: „Vor dem Ende / Dieser Liebe sag / Ich dir“. Und nie mehr wieder wird sie so viele Alltagsdetails in die Verse holen, von Interieurs und Kleidungsstücken bis hin zu den Waffeln auf dem Weihnachtsmarkt.
In der Beschwörung all der „Plüschplaids“ und Pelze, im Schimpfen über „dumme Bauernweiber“, während sich die Liebende an Teeduft und „Sèvres-Porzellan“ erinnert, scheint noch einmal jene bürgerliche Welt Moskaus auf, aus der Zwetajewa kommt und die nur kurze Zeit später in der Revolution untergehen wird. 1912 hat sie den Offizierskadetten Sergej Efron geheiratet, der sich 1917 der antibolschewistischen „Weißen Armee“ anschließt und bis über das Ende des Bürgerkriegs hinaus verschollen bleibt. Die Moskauer Hungersnot setzt Zwetajewa und der Familie sehr zu, ihre Tochter Irina muss sie in ein Kinderheim geben, wo die Kleine 1920 an Unterernährung stirbt. 1922 beginnt die Zeit des Exils: Berlin, Prag („in Mokropsy, in einer Dorfhütte“, wie sie in einem Brief schreibt), dann für 14 Jahre Paris.
Beim Lesen der vielen Gedichte hat man bisweilen den Eindruck, jede Geliebte und jeder Liebhaber, jede angebetete Künstlerfreundin und jeder Künstlerfreund bekam einen Zyklus, egal ob es sich um Ossip Mandelstam handelte oder um die Schauspielerin Sonja Holliday. Als habe Zwetajewa, mit Thomas Mann gesprochen, Material gelebt – um die harte Realität mit der Imagination zu verbinden und um weiter Verse schreiben zu können, das Gedichtmaschinchen am Laufen zu halten für das „Himmelgeschenk Lied“. Besonders zeigt sich das an ihren Gedichten für Boris Pasternak. In dem großen Zyklus „Kabel“ etwa verknüpft sie die nüchterne Metaphorik der Fernsprecher und Telegrafendrähte mit traditionellen poetischen Topoi und Anspielungen auf die griechische Mythologie. Und mehr noch senkt sie die Technik und den Stil der Telegramme auch der Form ihrer Verse ein, in Fügungen wie „Le – eb – wohl! Ver – zeih!“ oder „Ke – ehr – um!“ Pasternak, für den Zwetajewa wahlweise „Herzensluft“ und ein „Wasserfall von Existenz“ ist, antwortet auf den zugesandten Zyklus in einem Brief, in dem er die Kabel-Metaphorik aufnimmt: „Durch den Alltag wird Strom hindurchgelassen, wie durch Wasser. Und alles polarisiert sich.“ Doch seine Idee von „Elektrizität als dem grundlegenden Stil des Universums“ scheint weit mehr auf Versöhnung und Nähe ausgerichtet als Zwetajewas Vorstellung im Gedicht. Bei ihr ist in beinahe jedem Vers von „Pfählen“ und „Seufzern“ die Rede.
Es ist eine Kunst für sich, wie sie dieses Gleichgewichtsspiel formal umsetzt. Nicht nur versieht sie die Verse mit Auslassungspunkten, Ausrufezeichen, Doppelpunkten und Gedankenstrichen, um so Pausen, Betonungen und rhythmische Brüche zu markieren (von jeher eines ihrer liebsten Verfahren), sie thematisiert den Riss im Metrum auch und verwandelt die technischen Kabel in „hochgespannte / Lyrische Leitungen“. Dazu baut sie manchmal ganze Klangkaskaden auf und verwendet bewusst unsaubere Reime. So gelingt es ihr, Intensität auszuspielen und zugleich zu bändigen, Trennungen und Gegensätze stark zu machen und doch momenthaft zusammenzubinden, der Logik von Träumen vergleichbar, über die sie einmal schreibt: „Alle Vereinzelung – vom Schlaf vereint.“ Ralph Dutli hat die Binnenspannung der Verse gut im Deutschen nachgebildet. Man muss die vielen Selbstverwandlungen in Figuren aus dem Mythos mögen, bald ist die Sprecherin Ariadne, bald Psyche oder Eurydike. Auch der auf Dauer gestellte hohe Ton ist gewöhnungsbedürftig. Zum Glück versuchte Zwetajewa nicht nur in den Kabel-Gedichten, Störmomente in die Verse einzubauen, indem sie Fachbegriffe verwendete oder einfach Wörter erfand.
Der Vers war ihr zugleich Waffe und Medium der Selbstgestaltung, ein Überlebensmittel auch. „Als man mir in der Revolution das Geld auf der Bank wegnahm, widersprach ich nicht, denn ich empfand es nicht als das meine“, schreibt sie 1931 in einem Prosatext. Solange ihr nur die Gedichte blieben. 1939 kehrte sie in die Sowjetunion zurück. Ihr Mann wurde verhaftet, die Tochter kam ins Arbeitslager. Der Mangel an Freiheit, die Armut und die Gefahr, die Möglichkeit des Schreibens zu verlieren, setzten ihr immer stärker zu. „Es ist Zeit, dem Schöpfer die Eintrittskarte zurückzugeben“, notiert sie zwei Jahre vor ihrem selbst gewählten Tod. Doch trotz aller Schwere ahnte sie, dass etwas ganz Entscheidendes von ihr bleiben würde: „Und wenn ich dennoch – Schulter, Knie, Flügel / Gepresst – dem Friedhof mich einst anvertrau, / So nur, um lachend jeden Moder zu betrügen / Und aufzustehn – als Vers, als Rosenstrauch!“
1922 beginnt die Zeit
des Exils: Berlin, Prag,
dann für 14 Jahre Paris
Mit den bewusst unsauberen
Reimen spielt sie die Intensität
aus und bändigt sie zugleich
Marina Zwetajewa: Lob der Aphrodite
– Gedichte von Liebe und Leidenschaft. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Essay von Ralph Dutli. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 232 Seiten, 24 Euro.
Klangkaskaden und bewusst unsaubere Reime: die Dichterin Marina Zwetajewa.
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»Dass Ralph Dutli die Liebesgedichte von Marina Zwetajewa ins Deutsche übertragen hat, ist für die interessierte Leserschaft reiner Gewinn.« (Andreas Puff-Trojan, SWR 2 Buchkritik, 19.05.2021) »Für die russische Dichterin Marina Zwetajewa (...) war die Liebe ein Kriegsgeschehen, ein 'Zweikampf zweier Willen'.« (Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 23.04.2021) »Liebesgedichte, die von Marina Zwetajewas Fähigkeit zur Leidenschaft wie auch von ihrer literarischen Kraft zeugen« (Ulrich Rüdenauer, Badische Zeitung, 03.04.2021) »Sich dieser Lektüre zu öffnen, bedeutet, in die Woge einzutauchen, von ihr mitgerissen und überrollt zu werden, nach Luft ringend wieder aufzutauchen.« (Carmen Sippl, kulturschaukasten.at, 08.03.2021) »(Ralph Dutli) gelingt es, die Texte in einer Weise, die etwas erahnen lässt von ihrer poetischen Dichte und Kraft in der Originalsprache, in das Deutsche zu übertragen.« (Herbert Fuchs, literaturkritik.de, 20.05.2021) »Ralph Dutli hat die Gedichte äußerst einfühlsam aus dem Russischen übertragen und dem Band ein herrlich zu nennendes Essay beigegeben.« (Elke Engelhardt, lyrikatelierfischerhaus.com, 28.03.2021) »(von) Ralph Dutli einfühlsam und virtuos ins Deutsche übertragen« (Ulrich M. Schmid, NZZ, 23.11.2021)