From 1933 onward, Nazi Germany undertook massive and unprecedented industrial integration, submitting an entire economic sector to direct state oversight. This innovative study explores how German professionals navigated this complex landscape through the divergent careers of business managers in two of the era's most important trade organizations. While Jakob Reichert of the iron and steel industry unexpectedly resisted state control and was eventually driven to suicide, Karl Lange of the machine builders' association achieved security for himself and his industry by submitting to the Nazi regime. Both men's stories illuminate the options available to industrialists under the Third Reich, as well as the real priorities set by the industries they served.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2016Auf Erfolg getrimmt
Ökonomische Interessen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem
Welchen Stellenwert nahmen ökonomische Interessen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem ein? Auf diese Frage hat die Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten differenzierte Antworten parat, weil simplifizierende marxistische Erklärungsversuche, die in den Konzernherren die wahren politischen Machthaber erblickten, der Bewährung an den Quellen in keiner Weise standhalten konnten und ideologische Rückendeckung für wissenschaftlich nicht haltbare Thesen immer schwächer ausfiel. Nicht zuletzt in Nordamerika tätige Historiker - an der Spitze Henry Ashby Turner - haben Pflöcke eingeschlagen, so dass es im Wesentlichen nur noch darum gehen kann, Akzente zu verschieben.
In dieser Tradition steht auch die verdienstvolle Studie des kanadischen Historikers Matt Bera, der zwei Typen industrieller Interessenvertreter heranzieht, um deren Handlungsspielräume auszuleuchten. Jakob Reichert und Karl Lange repräsentieren unterschiedliche Stile industrieller Lobbyarbeit: Beide waren als Hauptgeschäftsführer in zentralen Branchen der deutschen Industrie tätig - Reichert für den "Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller" (VDESI), Lange für den "Verein deutscher Maschinenbau-Anstalten" (VDMA). Auf den ersten Blick scheint es so, als müsse Reichert besser abgeschnitten haben, da die großindustrielle Eisen- und Stahlindustrie nicht nur eine Schlüsselbranche war, sondern sich besonders energisch um die erfolgreiche Durchsetzung ihrer Partikularinteressen einen fast schon legendären Ruf erworben hatte. Lange hingegen vertrat eine mittelständisch strukturierte Branche, die im politisch-ökonomischen Feld eher zurückhaltend agiert hatte.
Doch Beras Studie schärft noch einmal mehr den Befund, wie sehr im NS-Staat die Karten neu gemischt wurden. Reichert und sein VDESI gerieten immer stärker ins Hintertreffen, weil er hartnäckig am traditionellen Grundsatz seines Verbandes - Selbstregulierung der Wirtschaft - festhielt, als die Interventionen des NS-Staates in hoheitliche Bereiche der Privatwirtschaft immer offenkundiger wurden. Bera arbeitet heraus, dass es gerade der Konservatismus Reicherts war, der ihn zwar in der Weimarer Republik zu einem Gegner des demokratischen Sozialstaats werden ließ; aber seine ausgeprägte Skepsis gegenüber staatlichem Interventionismus führte eben auch dazu, dass er im "Dritten Reich" den Anschluss an die um sich greifende Regulierungswut verpasste und sich und seinen Verband damit isolierte.
Lange hingegen, der ein wesentlich positiveres Verhältnis zur Weimarer Republik gepflegt hatte, ergriff anpassungsfreudig und initiativ die sich bietenden Chancen, die sich aus der Etablierung neuer regulatorischer Einrichtungen der Wirtschaft im Nationalsozialismus ergaben, und machte als Multifunktionär im "Dritten Reich" eine Karriere, die ihn bis an die Spitze des "Hauptausschusses Maschinen" brachte. Der smarte Managertyp Lange ähnelte in vielem dem ähnlich strukturierten Rüstungsminister Albert Speer. Daher steuerte Lange den Maschinenbau unter kriegswirtschaftlichen Bedingungen in Richtung einer stärker standardisierten Massenproduktion und erzielte auf diese Weise erhebliche Rationalisierungsgewinne.
Lange steht für einen professionellen Managertyp, der in hohem Maße zur Effizienz der Kriegswirtschaft beitrug und deutlich macht, dass Hitlers Staat gar keine gravierende Umgestaltung des Systems ökonomischer Interessenwahrung benötigte, um eine ihm zuarbeitende Wirtschaft zu erhalten. Wenn einer der wenigen treuen nationalsozialistischen Parteigänger in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft, der Automobilexperte Jakob Werlin, sich noch 1936 bitter darüber beklagte, dass sich der organisatorische Aufbau der gewerblichen Wirtschaft gegenüber der Zeit vor 1933 nicht wirklich gewandelt und ein tiefgreifendes personelles Revirement ausgeblieben sei, übersah er, wie gut das NS-System mit behänden Managern vom Schlage eines Karl Lange funktionierte. Daher lädt die Studie Beras ein, in vergleichbaren Branchen danach Ausschau zu halten, inwieweit der Lange-Typus dort prädominant war.
Hier ist noch viel Forschungsbedarf vorhanden - etwa zu Ernst Hagemeier, dem Leiter der Wirtschaftsgruppe Fahrzeugindustrie, den Werlin bei seinen Attacken aufs Korn genommen hatte. Dann wird sich auch zeigen, wie stark die von Bera konstatierte "business culture" ausgeprägt war, welche als wichtigste Währung den Erfolg kannte, selbst wenn er unter Einsatz fragwürdiger Mittel erzielt worden war. Und man wird die Frage aufwerfen müssen, inwieweit angestellte Geschäftsführer die Kultur des Wirtschaftens bestimmten - und es nicht doch klassische Unternehmer waren, welche wirtschaftlichem Gebaren ihren Stempel auch in kultureller Hinsicht aufdrückten. Eine noch in Statu nascendi befindliche Kulturgeschichte wirtschaftlichen Handelns würde hierin einen bedeutsamen Untersuchungsgegenstand vorfinden.
WOLFRAM PYTA.
Matt Bera: Lobbying Hitler. Industrial Associations between Democracy and Dictatorship. Berghahn Publishers, New York/Oxford 2016. 262 S., 113,40 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ökonomische Interessen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem
Welchen Stellenwert nahmen ökonomische Interessen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem ein? Auf diese Frage hat die Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten differenzierte Antworten parat, weil simplifizierende marxistische Erklärungsversuche, die in den Konzernherren die wahren politischen Machthaber erblickten, der Bewährung an den Quellen in keiner Weise standhalten konnten und ideologische Rückendeckung für wissenschaftlich nicht haltbare Thesen immer schwächer ausfiel. Nicht zuletzt in Nordamerika tätige Historiker - an der Spitze Henry Ashby Turner - haben Pflöcke eingeschlagen, so dass es im Wesentlichen nur noch darum gehen kann, Akzente zu verschieben.
In dieser Tradition steht auch die verdienstvolle Studie des kanadischen Historikers Matt Bera, der zwei Typen industrieller Interessenvertreter heranzieht, um deren Handlungsspielräume auszuleuchten. Jakob Reichert und Karl Lange repräsentieren unterschiedliche Stile industrieller Lobbyarbeit: Beide waren als Hauptgeschäftsführer in zentralen Branchen der deutschen Industrie tätig - Reichert für den "Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller" (VDESI), Lange für den "Verein deutscher Maschinenbau-Anstalten" (VDMA). Auf den ersten Blick scheint es so, als müsse Reichert besser abgeschnitten haben, da die großindustrielle Eisen- und Stahlindustrie nicht nur eine Schlüsselbranche war, sondern sich besonders energisch um die erfolgreiche Durchsetzung ihrer Partikularinteressen einen fast schon legendären Ruf erworben hatte. Lange hingegen vertrat eine mittelständisch strukturierte Branche, die im politisch-ökonomischen Feld eher zurückhaltend agiert hatte.
Doch Beras Studie schärft noch einmal mehr den Befund, wie sehr im NS-Staat die Karten neu gemischt wurden. Reichert und sein VDESI gerieten immer stärker ins Hintertreffen, weil er hartnäckig am traditionellen Grundsatz seines Verbandes - Selbstregulierung der Wirtschaft - festhielt, als die Interventionen des NS-Staates in hoheitliche Bereiche der Privatwirtschaft immer offenkundiger wurden. Bera arbeitet heraus, dass es gerade der Konservatismus Reicherts war, der ihn zwar in der Weimarer Republik zu einem Gegner des demokratischen Sozialstaats werden ließ; aber seine ausgeprägte Skepsis gegenüber staatlichem Interventionismus führte eben auch dazu, dass er im "Dritten Reich" den Anschluss an die um sich greifende Regulierungswut verpasste und sich und seinen Verband damit isolierte.
Lange hingegen, der ein wesentlich positiveres Verhältnis zur Weimarer Republik gepflegt hatte, ergriff anpassungsfreudig und initiativ die sich bietenden Chancen, die sich aus der Etablierung neuer regulatorischer Einrichtungen der Wirtschaft im Nationalsozialismus ergaben, und machte als Multifunktionär im "Dritten Reich" eine Karriere, die ihn bis an die Spitze des "Hauptausschusses Maschinen" brachte. Der smarte Managertyp Lange ähnelte in vielem dem ähnlich strukturierten Rüstungsminister Albert Speer. Daher steuerte Lange den Maschinenbau unter kriegswirtschaftlichen Bedingungen in Richtung einer stärker standardisierten Massenproduktion und erzielte auf diese Weise erhebliche Rationalisierungsgewinne.
Lange steht für einen professionellen Managertyp, der in hohem Maße zur Effizienz der Kriegswirtschaft beitrug und deutlich macht, dass Hitlers Staat gar keine gravierende Umgestaltung des Systems ökonomischer Interessenwahrung benötigte, um eine ihm zuarbeitende Wirtschaft zu erhalten. Wenn einer der wenigen treuen nationalsozialistischen Parteigänger in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft, der Automobilexperte Jakob Werlin, sich noch 1936 bitter darüber beklagte, dass sich der organisatorische Aufbau der gewerblichen Wirtschaft gegenüber der Zeit vor 1933 nicht wirklich gewandelt und ein tiefgreifendes personelles Revirement ausgeblieben sei, übersah er, wie gut das NS-System mit behänden Managern vom Schlage eines Karl Lange funktionierte. Daher lädt die Studie Beras ein, in vergleichbaren Branchen danach Ausschau zu halten, inwieweit der Lange-Typus dort prädominant war.
Hier ist noch viel Forschungsbedarf vorhanden - etwa zu Ernst Hagemeier, dem Leiter der Wirtschaftsgruppe Fahrzeugindustrie, den Werlin bei seinen Attacken aufs Korn genommen hatte. Dann wird sich auch zeigen, wie stark die von Bera konstatierte "business culture" ausgeprägt war, welche als wichtigste Währung den Erfolg kannte, selbst wenn er unter Einsatz fragwürdiger Mittel erzielt worden war. Und man wird die Frage aufwerfen müssen, inwieweit angestellte Geschäftsführer die Kultur des Wirtschaftens bestimmten - und es nicht doch klassische Unternehmer waren, welche wirtschaftlichem Gebaren ihren Stempel auch in kultureller Hinsicht aufdrückten. Eine noch in Statu nascendi befindliche Kulturgeschichte wirtschaftlichen Handelns würde hierin einen bedeutsamen Untersuchungsgegenstand vorfinden.
WOLFRAM PYTA.
Matt Bera: Lobbying Hitler. Industrial Associations between Democracy and Dictatorship. Berghahn Publishers, New York/Oxford 2016. 262 S., 113,40 [Euro].
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