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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von Goethes Weimar nach Japan: Adolf Muschg reist mit dem deutschbaltischen Abenteurer Löwenstern in sein Sehnsuchtsland
Literatur aus Literatur - und aus historischen Phantasmagorien. Ein Manuskript, fast zweihundert Jahre alt, das dem Herausgeber durch eine glückliche Fügung im Baltischen in die Hand fällt. Die romantische Maschinerie also noch einmal, heute mag es andere Begriffe dafür geben, aber wir erkennen sie. Nur der Schauplatz ist nicht mehr romantisch, es sei denn, man nähme das noch fast gänzlich verschlossene Japan vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als einen solchen Sehnsuchts- und Imaginationsort wie Georg Forsters Südsee.
Hermann Ludwig Löwenstern hat wirklich gelebt. Er nahm an der ersten russischen Weltumsegelung teil, der Krusenstern-Mission, und hinterließ ein Tagebuch, das erst vor zehn Jahren ediert wurde. Noch gehörte Alaska dem Russischen Reich. In Kalifornien besaß man einzelne Stationen. Im Osten griff man nach der Inselgruppe der Kurilen, die Halbinsel Kamtschatka stößt weit nach Süden hinunter, während sich Japan nach Norden auf die Insel Hokkaido ausdehnte. Und so liegen die Keime des Kommenden schon bereit. "Es sind ungleiche Mächte", heißt es einmal in dem Roman, "die sich an diesen Inseln berühren, aber der Zusammenstoß ist unvermeidlich." Muschgs Buch hat eine geopolitische Pointe, auch wenn sie nicht übermäßig betont wird. "Jetzt ist Argonautenzug, und wir ziehen!", sagt einer der Russen.
Nach Japan will nun der fiktionalisierte Löwenstern des Romans, ein Mann des baltendeutschen Adels, geboren im Mai 1777 (Muschg kam am 13. Mai 1934 zur Welt). In Gulliver findet er sein Vorbild, ermutigt wird er von Goethe, den er in Weimar besucht. Die Gespräche Löwensterns mit dem Dichter sind wohl in ihrem anmutigen, unangestrengten Pastiche das Beste, was es in diesem Genre seit Thomas Manns "Lotte in Weimar" gab. Gleich sind die beiden bei Gulliver, Goethe äußert sich realistisch: "Die Liliputaner und die Blefuscaner sind jedenfalls Engländer und Franzosen, sagte er, das sieht man daran, wie sie einander die Flotte streitig machen, mit der sie die Welt beherrschen wollen ... die Laputen, deren Herrschaft in der Luft hängt, auf einer schwebenden Insel, die ihren Untertanen jederzeit auf den Kopf fallen kann, müssen Deutsche sein, erklärte er, dafür spricht ebenso ihre mathematische Pedanterie wie das Grenzenlose ihrer Spekulation." Und was habe denn verhindert, dass Löwenstern nicht schon nach Japan gesegelt sei? Sein russischer Dienst, antwortet dieser, und die Französische Revolution. Goethes Antwort hat Muschg wirklich hinreißend getroffen: "Fisimatenten, Ausreden! rief Goethe, einen Dienst kann man quittieren, und was die Revolution betrifft: sie ist ein so ungeheures Ereignis, dass Menschen unserer Art es ignorieren müssen!"
Nur dass man irgendwann des name-dropping überdrüssig wird, wenn Löwenstern dann auch mit Christiane Vulpius tanzt, den Herzog Karl August in einer delikaten Situation stört, dazu noch Heinrich von Kleist begegnet und Chamisso. Erheiternd wiederum ist der ständige Bezug auf Kotzebue; wie ein running gag werden dessen Stücke über den grünen Klee gelobt und ihrem menschlichen Gehalt nach weit über die Dramen Goethes gestellt. "Nie wieder Weimar", lautet Löwensterns Fazit nach dem Besuch.
Muschgs Roman ist ein sehr reichhaltiges Gericht. Ins Historische mischen sich surreal-phantasmagorische Episoden. Nicht immer mit Glück. Sex ist ein letzter Probierstein literarischen Könnens. Wahrscheinlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder die härteste, bataillehafte Obszönität oder ein charmantes Umspielen der anatomischen Einzelheiten. Muschg aber will einen mittleren Weg - und scheitert. "Mein Knecht, fast vergessen, immer noch aufrecht, wurde von einem Schauder nach dem andern überlaufen, opferte fast bescheiden ... Nadja ließ jetzt ihren ganzen Leib vor mein Gesicht rücken und schob ihr prangendes Feldzeichen zwischen meine Lippen." Unleidlich fällt auf, wie sehr die Einbildungskraft am Ende von der Prostitution bestimmt wird; Nadja ist eine alternde Hure.
Japan, sagt Löwenstern, "ist wohl fremd genug, unser Urteil erst zu verwirren, dann zu revidieren". Und doch ist das, was man dann über Japan erfährt, oft eben gerade das bekannte Minimum, das Bunraku-Puppentheater, der grüne Tee, die Geschichte vom Prinzen Genji. Und am Ende fehlt es nicht an einer rituellen Selbsttötung, einem Seppuku. Aber es gibt Momente, in denen Löwenstern sich einer japanischen Anschauung der Natur und des Kosmos nähert. Wenn er den Mond betrachtet und das eigentümliche Spiel seines Lichts oder Steine in einem Garten, ist er wirklich in seinem Wunschland angekommen.
LORENZ JÄGER
Adolf Muschg: "Löwenstern". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 331 S., geb., 19,95 [Euro].
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