Eine Landschaft in Büchern. W. G. Sebald folgt in seinen alemannischen Dichterporträts Rousseau auf seiner Flucht bis auf die Petersinsel und er begleitet Robert Walser bei seinen einsamen Spaziergängen durch den Schnee. Ob Keller, Mörike oder Hebel, immer gelingt es W. G. Sebald, die Dichtergestalten, von denen er erzählt, so greifbar vor dem Leser erscheinen zu lassen, als wären sie nur ein wenig entrückte Zeitgenossen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998Tribute an die Tiefe
W. G. Sebald erwandert Dichterleben / Von Ernst Osterkamp
Als W. G. Sebald "im Frühherbst" 1966 im Alter von 22 Jahren als Lektor an die University of Manchester ging, packte er Gottfried Kellers "Grünen Heinrich", Johann Peter Hebels "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" und Robert Walsers "Jakob von Gunten" in seinen Reisekoffer, und diesen Autoren und Werken hat er bis heute seine Wertschätzung bewahrt. W. G. Sebald hat einen vorzüglichen literarischen Geschmack. Nun ist wieder ein Frühherbst ins Land gezogen und mit ihm die Buchmesse. W. G. Sebald nützt die Gelegenheit, Hebel, Keller und Walser, "eh es vielleicht zu spät wird, Habe die Ehre zu sagen". Da aus dieser dreifachen Reverenz kein Buch geworden wäre, hat er ihr drei Stücke über Rousseau, Mörike und den Maler Jan Peter Tripp beigegeben, mit dem er einst "eine ziemliche Zeitlang" zur Schule gegangen ist.
Mit schöner Bescheidenheit nennt Sebald den so entstandenen literarischen "Tribut an die vorangegangenen Kollegen" "einige ausgedehnte und sonst keinen besonderen Anspruch erhebende Marginalien", und er hat völlig recht damit. Es sind mit Zuneigung verfaßte Randbemerkungen über Autoren, denen das Schreiben zum Lebensschicksal geworden ist und denen sich Sebald wahlverwandt fühlt. Diese Dichter besitzen für Sebald die Gegenwärtigkeit von Brüdern im Geiste, und so unterrichtet er den Leser über sie im Ton frommer Einverständigkeit und sympathisierender Beschaulichkeit.
Wie verwandt er sich ihnen weiß, zeigt nichts so deutlich wie die Tatsache, daß er zweimal die Gestalt seines Großvaters als die eines in seine Kindheit getretenen Wiedergängers der großen Dichter auftreten läßt: Dessen Sprachgebrauch habe an den des Rheinischen Hausfreunds erinnert, und er habe die Gewohnheit besessen, "auf jeden Jahreswechsel einen Kempter Calender zu kaufen" und alle wichtigen Daten und Ereignisse in ihn einzutragen. Die Bilder des Spaziergängers Robert Walser aus dessen Herisauer Zeit, so heißt es an späterer Stelle, erinnerten ihn unwillkürlich immer an seinen Großvater, "mit dem ich als Kind während derselben Jahre stundenlang oft durch eine dem Appenzell in vielem verwandte Gegend gewandert bin".
Beiläufig gesteht Sebald ein, er habe den Tod des Großvaters nicht verwunden. Und so sucht Sebald in den Dichtern, in die er das Bild des Großvaters spiegelt, die Geborgenheitsträume der Kindheit. Es ist die Geborgenheit in einer agrarischen Vormoderne, in die er sich aus Ekel vor dem "unweigerlich an den Rand des Abgrunds führenden Fortschritt" zurücksehnt. Der Kalender des Großvaters, wie derjenige des Rheinischen Hausfreunds, konstituiert für Sebald "bis heute ein System, von dem ich mir manchmal, wie seinerzeit in der Kindheit, noch ausmalen möchte, daß alles zum Besten geordnet sei in ihm".
Walter Benjamin betont zu Beginn seines Essays "Der Erzähler", Nikolai Leskov als Erzähler darzustellen heiße "nicht, ihn uns näherbringen, heißt vielmehr den Abstand zu ihm vergrößern". Sebald aber sucht die Nähe der Dichter, über die er schreibt, wie diejenige seines Großvaters. Der Zugang, den er zu ihnen zu gewinnen erhofft, führt deshalb primär über die Biographie; in Benjamins berühmten Essays über Hebel, Keller und Walser, auf die sich Sebald gerne bezieht, führte er allein über das Werk.
Der Leser dieser Texte wird deshalb enttäuschend wenig über die Werke der von Sebald verehrten Autoren lernen. Selten stößt er auf schöne Beobachtungen wie diejenige, daß in den Kadenzen und Inflexionen am Ende der Hebelschen Sätze "die Sprache sich nach innen" kehre und "der Erzähler uns beinahe spürbar seine Hand auf den Arm" lege, oder auf Einsichten wie die, daß Hebels parataktischer Satzbau eine gegen jede Über- und Unterordnung gerichtete Welt entwerfe, in der "alles nebeneinander bestehen soll mit gleichem Recht".
Nicht eine Wendung findet sich in dem Text über Mörike, in der etwas aufschiene vom Zauber der Poesie Mörikes, und ein Satz wie der folgende über eines der in all seiner Problematik beeindruckendsten deutschen Prosawerke des neunzehnten Jahrhunderts ist dazu geeignet, das Vertrauen des Lesers in die künstlerische Sensibilität seines Verfassers nachhaltig zu trüben: "Der Maler Nolten ist ein Versuch in großem Format, in dem über mehrere hundert Seiten hinweg eine ungemein komplizierte Handlung entfaltet wird." In diesem Buch fällt kein neues Licht auf die großen Texte, die Sebald zitiert; seine wesentlichsten Einsichten über sie stammen, wie er offen eingesteht, aus zweiter Hand. Herkunftsverweise wie "Die Wunschthese Walter Benjamins", "wie Hannelore Schlaffer . . . gezeigt hat", "Auch Robert Minder . . . konstatierte" (dies alles in nur zehn Zeilen) rhythmisieren den Text.
Denn Sebald begibt sich nicht in die Texte der Dichter, er begibt sich in deren Rollen. Er sucht in ihnen die exzentrische Position und stellt, indem er über sie schreibt, den Gestus des Autors nach, der fern ab steht, sich aus den gesellschaftlichen Ordnungen zurückzieht, den Schrecknissen der Moderne ausweicht: Am Rande des zerbrechenden Reiches richtet sich Hebel im bewahrten Naturraum ein, Rousseau flieht vor den staatlichen Instanzen, Mörike weicht vor dem Chaos der Zeit in die Stickluft der familiären Geborgenheit zurück, Keller verzichtet auf die Erfüllung aller privaten Glücksträume, Walser flüchtet in die Krankheit. Kein Wunder, daß Sebald unter Walsers Werken am meisten der Räuber-Roman fasziniert, in dem Glanz und Elend einer romantisierenden Außenseiterpose des Künstlers ihre dichteste Darstellung gefanden.
In seiner Rousseau-Studie erzählt Sebald, wie er sich einst in ein lebendes Bild des toten Autors verwandelte, und charakterisiert damit implizit sein literarisches Verfahren in diesem Buch. Vor Jahren quartierte er sich für mehrere Tage auf der St.-Peters-Insel ein, wohin sich im Herbst 1765 Rousseau geflüchtet hatte. Stunde um Stunde saß Sebald am Fenster des Rousseau-Zimmers, um sich zurückzuversetzen "in die vergangene Zeit". Er nahm damit den Habitus des Künstlers als Außenseiter an, und die melancholische Klage darüber, wie selten Besucher sich in das Zimmer verirrten, wie wenig sie dort in Augenschein nahmen und wie rasch sie wieder gingen, ist doch wohl nur ein anderer Ausdruck für die tiefe Befriedigung, die ihm diese Bestätigung einer im Rollenspiel simulierten exklusiven Nähe zu Rousseau bereitete: Jean-Jacques Sebald.
Und der Ertrag des Ganzen? Er ist enttäuschend gering. Da sich Sebald mehr für die Biographien als für die Werke interessiert, fällt für die Bestimmung seines eigenen Poesieverständnisses nur wenig ab. An den Bildern Jan Peter Tripps habe er gelernt, so heißt es in der Vorbemerkung, "daß man weit in die Tiefe hineinschauen muß, daß die Kunst ohne das Handwerk nicht auskommt und daß man mit vielen Schwierigkeiten zu rechnen hat beim Aufzählen der Dinge".
Was nun die Kunst des Schreibens im besonderen betrifft, so kulminieren seine "diesbezüglichen Betrachtungen" in der Einsicht, daß sie einerseits "jene sonderbare Verhaltensstörung" sei, "die jedes Gefühl in Buchstaben verwandeln muß und mit erstaunlicher Präzision vorbeizielt am Leben"; und daß sie andererseits der Versuch sei, "das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit". Man wird sagen können, daß hier einer sehr weit in die Tiefe geschaut hat. Der Verlag stattete Sebalds Marginalien liebevoll mit Abbildungen und schönen Klapptafeln aus.
W. G. Sebald: "Logis in einem Landhaus". Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1998. 191 S., Abb., geb., 34,- DM.
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W. G. Sebald erwandert Dichterleben / Von Ernst Osterkamp
Als W. G. Sebald "im Frühherbst" 1966 im Alter von 22 Jahren als Lektor an die University of Manchester ging, packte er Gottfried Kellers "Grünen Heinrich", Johann Peter Hebels "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" und Robert Walsers "Jakob von Gunten" in seinen Reisekoffer, und diesen Autoren und Werken hat er bis heute seine Wertschätzung bewahrt. W. G. Sebald hat einen vorzüglichen literarischen Geschmack. Nun ist wieder ein Frühherbst ins Land gezogen und mit ihm die Buchmesse. W. G. Sebald nützt die Gelegenheit, Hebel, Keller und Walser, "eh es vielleicht zu spät wird, Habe die Ehre zu sagen". Da aus dieser dreifachen Reverenz kein Buch geworden wäre, hat er ihr drei Stücke über Rousseau, Mörike und den Maler Jan Peter Tripp beigegeben, mit dem er einst "eine ziemliche Zeitlang" zur Schule gegangen ist.
Mit schöner Bescheidenheit nennt Sebald den so entstandenen literarischen "Tribut an die vorangegangenen Kollegen" "einige ausgedehnte und sonst keinen besonderen Anspruch erhebende Marginalien", und er hat völlig recht damit. Es sind mit Zuneigung verfaßte Randbemerkungen über Autoren, denen das Schreiben zum Lebensschicksal geworden ist und denen sich Sebald wahlverwandt fühlt. Diese Dichter besitzen für Sebald die Gegenwärtigkeit von Brüdern im Geiste, und so unterrichtet er den Leser über sie im Ton frommer Einverständigkeit und sympathisierender Beschaulichkeit.
Wie verwandt er sich ihnen weiß, zeigt nichts so deutlich wie die Tatsache, daß er zweimal die Gestalt seines Großvaters als die eines in seine Kindheit getretenen Wiedergängers der großen Dichter auftreten läßt: Dessen Sprachgebrauch habe an den des Rheinischen Hausfreunds erinnert, und er habe die Gewohnheit besessen, "auf jeden Jahreswechsel einen Kempter Calender zu kaufen" und alle wichtigen Daten und Ereignisse in ihn einzutragen. Die Bilder des Spaziergängers Robert Walser aus dessen Herisauer Zeit, so heißt es an späterer Stelle, erinnerten ihn unwillkürlich immer an seinen Großvater, "mit dem ich als Kind während derselben Jahre stundenlang oft durch eine dem Appenzell in vielem verwandte Gegend gewandert bin".
Beiläufig gesteht Sebald ein, er habe den Tod des Großvaters nicht verwunden. Und so sucht Sebald in den Dichtern, in die er das Bild des Großvaters spiegelt, die Geborgenheitsträume der Kindheit. Es ist die Geborgenheit in einer agrarischen Vormoderne, in die er sich aus Ekel vor dem "unweigerlich an den Rand des Abgrunds führenden Fortschritt" zurücksehnt. Der Kalender des Großvaters, wie derjenige des Rheinischen Hausfreunds, konstituiert für Sebald "bis heute ein System, von dem ich mir manchmal, wie seinerzeit in der Kindheit, noch ausmalen möchte, daß alles zum Besten geordnet sei in ihm".
Walter Benjamin betont zu Beginn seines Essays "Der Erzähler", Nikolai Leskov als Erzähler darzustellen heiße "nicht, ihn uns näherbringen, heißt vielmehr den Abstand zu ihm vergrößern". Sebald aber sucht die Nähe der Dichter, über die er schreibt, wie diejenige seines Großvaters. Der Zugang, den er zu ihnen zu gewinnen erhofft, führt deshalb primär über die Biographie; in Benjamins berühmten Essays über Hebel, Keller und Walser, auf die sich Sebald gerne bezieht, führte er allein über das Werk.
Der Leser dieser Texte wird deshalb enttäuschend wenig über die Werke der von Sebald verehrten Autoren lernen. Selten stößt er auf schöne Beobachtungen wie diejenige, daß in den Kadenzen und Inflexionen am Ende der Hebelschen Sätze "die Sprache sich nach innen" kehre und "der Erzähler uns beinahe spürbar seine Hand auf den Arm" lege, oder auf Einsichten wie die, daß Hebels parataktischer Satzbau eine gegen jede Über- und Unterordnung gerichtete Welt entwerfe, in der "alles nebeneinander bestehen soll mit gleichem Recht".
Nicht eine Wendung findet sich in dem Text über Mörike, in der etwas aufschiene vom Zauber der Poesie Mörikes, und ein Satz wie der folgende über eines der in all seiner Problematik beeindruckendsten deutschen Prosawerke des neunzehnten Jahrhunderts ist dazu geeignet, das Vertrauen des Lesers in die künstlerische Sensibilität seines Verfassers nachhaltig zu trüben: "Der Maler Nolten ist ein Versuch in großem Format, in dem über mehrere hundert Seiten hinweg eine ungemein komplizierte Handlung entfaltet wird." In diesem Buch fällt kein neues Licht auf die großen Texte, die Sebald zitiert; seine wesentlichsten Einsichten über sie stammen, wie er offen eingesteht, aus zweiter Hand. Herkunftsverweise wie "Die Wunschthese Walter Benjamins", "wie Hannelore Schlaffer . . . gezeigt hat", "Auch Robert Minder . . . konstatierte" (dies alles in nur zehn Zeilen) rhythmisieren den Text.
Denn Sebald begibt sich nicht in die Texte der Dichter, er begibt sich in deren Rollen. Er sucht in ihnen die exzentrische Position und stellt, indem er über sie schreibt, den Gestus des Autors nach, der fern ab steht, sich aus den gesellschaftlichen Ordnungen zurückzieht, den Schrecknissen der Moderne ausweicht: Am Rande des zerbrechenden Reiches richtet sich Hebel im bewahrten Naturraum ein, Rousseau flieht vor den staatlichen Instanzen, Mörike weicht vor dem Chaos der Zeit in die Stickluft der familiären Geborgenheit zurück, Keller verzichtet auf die Erfüllung aller privaten Glücksträume, Walser flüchtet in die Krankheit. Kein Wunder, daß Sebald unter Walsers Werken am meisten der Räuber-Roman fasziniert, in dem Glanz und Elend einer romantisierenden Außenseiterpose des Künstlers ihre dichteste Darstellung gefanden.
In seiner Rousseau-Studie erzählt Sebald, wie er sich einst in ein lebendes Bild des toten Autors verwandelte, und charakterisiert damit implizit sein literarisches Verfahren in diesem Buch. Vor Jahren quartierte er sich für mehrere Tage auf der St.-Peters-Insel ein, wohin sich im Herbst 1765 Rousseau geflüchtet hatte. Stunde um Stunde saß Sebald am Fenster des Rousseau-Zimmers, um sich zurückzuversetzen "in die vergangene Zeit". Er nahm damit den Habitus des Künstlers als Außenseiter an, und die melancholische Klage darüber, wie selten Besucher sich in das Zimmer verirrten, wie wenig sie dort in Augenschein nahmen und wie rasch sie wieder gingen, ist doch wohl nur ein anderer Ausdruck für die tiefe Befriedigung, die ihm diese Bestätigung einer im Rollenspiel simulierten exklusiven Nähe zu Rousseau bereitete: Jean-Jacques Sebald.
Und der Ertrag des Ganzen? Er ist enttäuschend gering. Da sich Sebald mehr für die Biographien als für die Werke interessiert, fällt für die Bestimmung seines eigenen Poesieverständnisses nur wenig ab. An den Bildern Jan Peter Tripps habe er gelernt, so heißt es in der Vorbemerkung, "daß man weit in die Tiefe hineinschauen muß, daß die Kunst ohne das Handwerk nicht auskommt und daß man mit vielen Schwierigkeiten zu rechnen hat beim Aufzählen der Dinge".
Was nun die Kunst des Schreibens im besonderen betrifft, so kulminieren seine "diesbezüglichen Betrachtungen" in der Einsicht, daß sie einerseits "jene sonderbare Verhaltensstörung" sei, "die jedes Gefühl in Buchstaben verwandeln muß und mit erstaunlicher Präzision vorbeizielt am Leben"; und daß sie andererseits der Versuch sei, "das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit". Man wird sagen können, daß hier einer sehr weit in die Tiefe geschaut hat. Der Verlag stattete Sebalds Marginalien liebevoll mit Abbildungen und schönen Klapptafeln aus.
W. G. Sebald: "Logis in einem Landhaus". Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1998. 191 S., Abb., geb., 34,- DM.
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