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Bericht aus einer schmerzlichen und närrischen Stadt: Das letzte Buch von Joris-Karl Huysmans über Lourdes zu Zeiten der großen Wallfahrten.
Als Joris-Karl Huysmans im Jahr 1906 "Les foules de Lourdes" veröffentlichte, war das kleine Städtchen in den französischen Pyrenäen bereits einer der weltweit bekanntesten katholischen Wallfahrtsorte. Fünfzig Jahre nach den auslösenden Ereignissen von 1858, als ein vierzehnjähriges Mädchen von Erscheinungen der "Unbefleckten Empfängnis" berichtete - nicht lange zuvor hatte Pius IX. das entsprechende Dogma verkündet -, zählte man dort mehr als eine Million Pilger. Seit 1863 war das Städtchen ans französische Eisenbahnnetz angeschlossen, seit den siebziger Jahren rollten immer besser organisierte Wallfahrtszüge dorthin, zuerst aus Frankreich, bald auch aus Europa.
Lourdes war, so hat es ein Kenner seiner Geschichte formuliert, die erste Destination "eines internationalen religiösen Massentourismus moderner Prägung" (A.J. Kotulla); und natürlich war es in der französischen Dritten Republik Gegenstand des Streits zwischen Parteigängern des Katholizismus und antiklerikalen Republikanern. Diese Kontroversen steuerten unfehlbar auf die Frage zu, was von den Wundern zu halten sei, welche die Jungfrau dort mit dem Quellwasser wirken sollte. Die Aussicht auf wundersame Heilung war es schließlich, die vor allem für die Anziehungskraft von Lourdes sorgte. In dieser Frage war Huysmans entschieden: Die Erscheinung der Jungfrau sei keine Sache psychologischer Erklärungen, und sie wirke seitdem tatsächlich Wunder an diesem Ort.
Bloß gibt er gleich zu erkennen, dass Wunder für seinen eigenen Glauben nicht von Bedeutung sind, weshalb ihn Lourdes auch gar nicht angezogen habe, erst recht nicht zur Saison der großen internationalen Wallfahrten (die er sich dann doch ansah). Hinzufügen lässt sich, dass der innige Wunsch nach Heilung, der so viele Kranke nach Lourdes brachte, im genauen Gegensatz zum Verständnis des Leidens als Imitatio Christi stand, in die Huysmans seine eigene schwere Krankheit einschrieb, an der er im Jahr nach der Publikation seines Buchs über Lourdes sterben sollte.
Man meint auch zuerst, dass Huysmans die Auseinandersetzungen über die Wunder an den Rand schieben kann. Nicht auf sie komme es ja an, sondern auf Lourdes als Ort der geübten Barmherzigkeit und eines Miteinander, in dem die sozialen Unterschiede vorübergehend aufgehoben werden. Gleich im zweiten Kapitel - das der Übersetzer zum ersten gemacht hat, indem er die Übersicht über ältere französische Marienwallfahrtsorte, mit der Huysmans sein Buch begann, in einen Anhang verschob - wird das in einer eindringlichen Beschreibung der Grotte von Massabielle deutlich: Wenn Huysmans das "feurige Blühen" der dort brennenden Kerzen beschwört, der ärmlichen und der stattlichen, deren herabgebrannten Reste ein mit der Pflege der Lichter betrauter alter Mann zusammenwirft, so dass die Bitten der Reichen unterstützt würden von jenen der Armen, dann sind es "die Bedürftigen, die den Reichen Almosen geben" - Bild einer "umgekehrten Gesellschaft", für die auch die Wohlhabenden stehen, die im Krankenhaus und den Unterkünften gemeinsam mit Ordensschwestern die Pilger betreuen.
Nirgendwo werde "die Lehre des Evangeliums besser in die Tat umgesetzt als hier". In dieser Stadt der Jungfrau, so heißt es einmal sogar, lebe in der gegenseitigen Zuwendung das Urchristentum wieder auf. Es ist entscheidend für die Wirkung des Texts, dass dies ein Autor schreibt, der zu keiner Form frommer Weichzeichnung neigt. Es entgeht ihm nicht die Geschäftstüchtigkeit der Hoteliers und Devotionalienverkäufer, nicht die abgeschmackten Frömmigkeiten in der "zugleich schmerzlichen, närrischen und flegelhaften" Stadt. Und wenn es an die Beschreibung der Basiliken, des monumentalen Kreuzwegs und der Statuenausstattung von Lourdes geht, ist er von literarisch eleganter Gnadenlosigkeit.
Kein gutes Haar lässt sein Spott an den architektonischen und künstlerischen, oder vielmehr kunsthandwerklichen Verschönerungen, die Lourdes zum "Gipfel kirchlicher Geschmacklosigkeit" machten; eine Einschätzung, mit der er nicht allein stand. Sie sind ihm ein Beleg dafür, dass gerade am heiligen Ort der Dämon sein Wesen treibt. (Wer Letzteres für Köhlerglauben hält, unterschätzt die Prägnanz theologischer Rede vom Teufel.)
Von gnadenloser Nüchternheit und um Genauigkeit der Wahrnehmungen bemüht sind auch Huysmans' Beschreibungen des Leidens der Kranken. Der einst "naturalistische" oder "dekadente" Autor hat durch die inzwischen eingetretene spirituelle Wendung nichts von seinem Elan verloren. Es ist reizvoll, Passagen bei Huysmans mit solchen in Émile Zolas 1894 erschienenem, gut recherchiertem Roman "Lourdes" zu vergleichen. Etwa dann, wenn es um die "grauenhafte Suppe" (Zola) geht, in welche die Kranken in den kleinen Badekabinen getaucht werden, deren Wasser nur selten erneuert wird. Huysmans "graues, blubberndes Abwaschwasser", in dem "mit Eiter und Blut getränkte Watteklumpen" schwimmen, steht da nicht zurück; mit der "purpurroten Brühe", die menstruierende Frauen hinterlassen, geht er sogar noch einen Schritt weiter. Oder auch die Beschreibungen der Sakramentsprozession mit ihrer inbrünstigen Anrufung Gottes um die Heilung der beidseits auf der Promenade aufgereihten Kranken. Bei Huysmans ist die Frustration ob des vergeblichen "Schreis [des vorbetenden Priesters], wiederholt von zahllosen Stimmen", genauso deutlich wie in Zolas Beschreibung eines verzweifelten Rituals, um "dem Himmel Gewalt anzutun". Aber im Unterschied zu Zola, der die psychischen Mechanismen aufschlüsseln möchte, die sich religiösen Ausdruck suchen (und dafür auf dem kirchlichen Index landete), steht für Huysmans die göttliche Präsenz fest - und das ist ein Unterschied ums Ganze.
So greifen Zola wie Huysmans, wenn es um die Bäder geht, das in den Debatten kurrente Argument auf, dass zwar kaum Heilungen vorkommen mögen, aber schon der Umstand, dass unter solch hygienisch katastrophalen Bedingungen sich keine Infektionen verbreiteten, für ein höheres Eingreifen spreche.
Zola sucht es zu zerpflücken, Huysmans unterschreibt es - und ihn, der die Jungfrau präsent weiß, bringt das in viel heiklere Nachfragen nach der im Wunder ausgedrückten göttlichen Gnade als deren einfache Negierung. Bei der Sakramentsprozession spürt er die Versuchung, mit diesem Gott zu rechten, der sich nicht bewegen lässt angesichts so viel Elends und gläubigen Vertrauens; und selbst wenn er sich dabei ins Wort fällt, weil ja doch die göttliche Gnade sich nicht durchschauen lasse - und der Wunsch nach eigener körperlicher Heilung in seinen Augen eigentlich ohnehin kein frommer ist -, so bleibt darin ein immer wieder hervorbrechendes Moment der Unruhe lebendig. Bis in seine manchmal aufscheinende Leidensmystik hinein, die den gekreuzigten Gottessohn daran erinnert, dass doch um seinetwillen im Kindermord zu Bethlehem zuvor schon Unschuldige gelitten hatten - als ob es zuletzt um Aufrechnungen ginge und darum, wieder ein Gleichgewicht herzustellen.
So beschäftigen die Wunder Huysmans denn doch. Aber ganz unabhängig davon, wie man über seine Haltung zu ihnen urteilt, und ob man mit den mystischen Aufflügen etwas anfängt: Zutrauen zu diesem Autor und seine Möglichkeiten zu gewinnen, bietet dieses letzte seiner Bücher sicher nicht weniger gute Gelegenheit als manche der Romane.
HELMUT MAYER
Joris-Karl Huysmans: "Lourdes". Mystik und Massen.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2020. 320 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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