Die zehnjährige Lucie empfindet ihren Vater als eine Zumutung. Gegen die schöne Mutter, eine Kriminalpolizistin, ist der gärtnernde Vater ein lästiger »Ausfall oder Ausrutscher«. Lucie kann nur hoffen, daß »sie nicht mit dem da dort« gesehen wird, wenn er mit schmutzigen Händen und ausgebeulten Taschen, aus denen es heraustropft, vor der Schule steht, um sie abzuholen. Was da tropft, sind diese »Dingsbums« oder »Herrlichkeiten«, derentwegen der Vater immer wieder in den Wald geht, die die Mutter hingegen abschätzig »Mulms« nennt und schon lange nicht mehr essen mag. Lucie aber kommt ab und zu – wenn auch ohne große Begeisterung – mit in den Wald, und dann findet sie sogar viele der »Wäldersattsamkeiten«, weiß die Namen der verschiedenen Arten, kennt ihre Geheimnisse. Als der Vater wegen einer angeblichen Verschwörung gegen den König verhaftet wird, macht sie sich auf, um mit Hilfe der gefundenen »Dings« in die Hauptstadt zu kommen, von den Gefängniswärtern durch- und schließlich beim König vorgelassen zu werden, den Vater zu befreien, die Familie zusammenzubringen ... Peter Handke hat eine poetische und selbstironische Geschichte geschrieben über die Fremdheit und die Liebe, über die Annäherung an die wirklichen Dinge und das Geschichtenerzählen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.1999Erlösungsdrohung
Peter Handke sucht den Frieden im Märchen · Von Thomas Wirtz
Handkes Buch ist "eine Geschichte", eine soziale Utopie, ein poetologisches Märchen, ein politisches Manifest - ist einfach alles und deshalb auch die befürchtete Enttäuschung. Denn Handke scheint das Vertrauen in die Literatur verloren zu haben und ist jetzt in das unaufmerksame Zungengemisch ausgewichen. Polemische Irrlaute schieben sich in das naive Erzählen hinein, das Märchen wird mit Absicht beschwert und versinkt unter solcher Bürde. Nichts ist leichter zu verderben als die Leichtigkeit dieser Form, nichts ihr schwerer erträglich als das beschwerte Gutmeinen.
Märchen sind kleine Heilsgeschichten der Familie. Bevor an ihrem Ende der Tod die Liebenden vergisst, sterben die Väter, keifen die Schwiegermütter und hungern die Waisen. Auch Lucies Kleinfamilie bedarf der Erlösung. Das Mädchen bewundert ihre "Kriminalchefinmutter", die mit ihrer burschikosen Bestimmtheit alle Eigenschaften verkörpert, die Handke verachtet. Vertrieben von ihr wird der waldeinsame Vater, ein "Zitterer", der sich an die Natur verliert. Als Flüchtlingskind ist er aus einer Sprache verstoßen worden, die seine zivilisierte Tochter nicht hören mag: "Dem Kind aus der deutschen Großstadt waren die slawischen Urlaute ein Greuel in den Ohren." Diesen Satz über die Sprachabneigung hätte Lucie sagen können, stünde er nicht schon in Handkes Serbien-Text "Abschied des Träumers". Lucies Furcht vor der Vatersprache ist die biographische Deckerinnerung ihres Autors. So bekommt der einfache Skizzenstrich von Vater, Mutter, Kind mit den ersten Worten eine kulturkritisch pastose Untermalung. Lucie ist die Wiedergängerin des sprachverlorenen Peter, eine nur heimlich Wissende, die das Verdrängte einer viel tieferen Sprache von sich fern halten will. Ihr Widerstand gegen den Vater ist das Eingeständnis seiner Überlegenheit, seine Einsamkeit nimmt die Schuld der anderen auf sich.
Märchen erzählen eine Umkehrungsgeschichte, denn stark zeigen sich am Ende die vermeintlich Schwachen. Auch die ordnungshütende Mutter kann sich diesem Gattungsgesetz nicht entziehen. Ihr Polizeiglanz verliert sich bei der Berührung mit dem Wald, das uralte Gebirge zieht die Jugend aus ihrem Gesicht, und nur der Vater bleibt sich in seiner Schwäche gleich. Als die Tochter seine Worte zu verstehen beginnt, erfüllt sich das Märchenversprechen. Lucies Regression zum Kind, das sie ist, schenkt ihr eine Heil bringende Allmacht. Die Rückkehr zur Naivität gelingt mit einem Sprachzauber. Lucie vergisst die mütterlichen "Machtwörter", deren neonhelles Licht die Welt entzauberte. Das Verdrängte bricht aus den "Dingsda" hervor, den ungeliebten Pilzen, die Lucie wie einen Thesaurus - zugleich Schatzkammer und Lexikon - in die böse Stadt hineinträgt. Das Wort ist zum Ding wieder geboren, eine Weihnachtsgeschichte.
Lucies menschenerlösende Reise folgt den Spuren Peter Handkes durch Serbien, der auch den Ding-Gral suchte. Überdeutlich wirken die Pilze als glücklichere allegorische Stellvertreter, leicht verderbliche Abgesandte einer alten Zeit. Aus ihren Waldfarben soll die Sprache leuchten, das Einsame in die "Wäldersattsamkeit" eintauchen. Lucie und die Pilze sind in der Straßenbahn der "Gesprächsstoff. Endlich ein gemeinsames Thema." Handke paraphrasiert mit diesem Satz seine Definition des Poetischen als dem "Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als die einzige Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit". Die Christkindlichkeit Lucies ist das Versprechen einer atavistischen Gemeinschaftserinnerung. Die Vielstimmigkeit der Stadt, das Geschwätz der Themendissonanzen verlöscht zum einen Grundton. "Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie hatten einmal, vor sehr langer Zeit, mit diesen Sachen oder Wesen zu tun gehabt, es nur vergessen." Die grammatischen Personen, geschieden voneinander zu sozialen Monaden, sind die Leidtragenden, schemenhafte Symptome in sprachlicher Form. Ihrer Dingvergessenheit will das Märchen den einen Welttext soufflieren, der aus der Feder Handkes stammt.
So viel Absichtlichkeit verstimmt. Handkes Bericht einer Serbien-Reise war ein manchmal ungerechtes Pamphlet, dem aber für Augenblicke die Poesie gelang. Dagegen gehört es zu den Paradoxien des Märchens, dass es seine Fabulierfreiheit mit einem strengen Möglichkeitssinn verbinden muss. Figuren dürfen sich in Esel verwandeln, nicht aber über die weltverbesserische Absicht dieser Metamorphosen nachdenken. Das Pamphlet darf aussprechen, was das Märchen nicht erzählen darf. Deshalb ist seine vermeintliche Leichtigkeit der Grund seines seltenen Gelingens. Handkes Kulturkritik ist das Ende des Märchens und wird darüber selbst eines. Die Poesie ist nachtragend: Sie straft den Verächter ihrer Gesetze mit verirrten Worten.
Peter Handke: "Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 90 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Handke sucht den Frieden im Märchen · Von Thomas Wirtz
Handkes Buch ist "eine Geschichte", eine soziale Utopie, ein poetologisches Märchen, ein politisches Manifest - ist einfach alles und deshalb auch die befürchtete Enttäuschung. Denn Handke scheint das Vertrauen in die Literatur verloren zu haben und ist jetzt in das unaufmerksame Zungengemisch ausgewichen. Polemische Irrlaute schieben sich in das naive Erzählen hinein, das Märchen wird mit Absicht beschwert und versinkt unter solcher Bürde. Nichts ist leichter zu verderben als die Leichtigkeit dieser Form, nichts ihr schwerer erträglich als das beschwerte Gutmeinen.
Märchen sind kleine Heilsgeschichten der Familie. Bevor an ihrem Ende der Tod die Liebenden vergisst, sterben die Väter, keifen die Schwiegermütter und hungern die Waisen. Auch Lucies Kleinfamilie bedarf der Erlösung. Das Mädchen bewundert ihre "Kriminalchefinmutter", die mit ihrer burschikosen Bestimmtheit alle Eigenschaften verkörpert, die Handke verachtet. Vertrieben von ihr wird der waldeinsame Vater, ein "Zitterer", der sich an die Natur verliert. Als Flüchtlingskind ist er aus einer Sprache verstoßen worden, die seine zivilisierte Tochter nicht hören mag: "Dem Kind aus der deutschen Großstadt waren die slawischen Urlaute ein Greuel in den Ohren." Diesen Satz über die Sprachabneigung hätte Lucie sagen können, stünde er nicht schon in Handkes Serbien-Text "Abschied des Träumers". Lucies Furcht vor der Vatersprache ist die biographische Deckerinnerung ihres Autors. So bekommt der einfache Skizzenstrich von Vater, Mutter, Kind mit den ersten Worten eine kulturkritisch pastose Untermalung. Lucie ist die Wiedergängerin des sprachverlorenen Peter, eine nur heimlich Wissende, die das Verdrängte einer viel tieferen Sprache von sich fern halten will. Ihr Widerstand gegen den Vater ist das Eingeständnis seiner Überlegenheit, seine Einsamkeit nimmt die Schuld der anderen auf sich.
Märchen erzählen eine Umkehrungsgeschichte, denn stark zeigen sich am Ende die vermeintlich Schwachen. Auch die ordnungshütende Mutter kann sich diesem Gattungsgesetz nicht entziehen. Ihr Polizeiglanz verliert sich bei der Berührung mit dem Wald, das uralte Gebirge zieht die Jugend aus ihrem Gesicht, und nur der Vater bleibt sich in seiner Schwäche gleich. Als die Tochter seine Worte zu verstehen beginnt, erfüllt sich das Märchenversprechen. Lucies Regression zum Kind, das sie ist, schenkt ihr eine Heil bringende Allmacht. Die Rückkehr zur Naivität gelingt mit einem Sprachzauber. Lucie vergisst die mütterlichen "Machtwörter", deren neonhelles Licht die Welt entzauberte. Das Verdrängte bricht aus den "Dingsda" hervor, den ungeliebten Pilzen, die Lucie wie einen Thesaurus - zugleich Schatzkammer und Lexikon - in die böse Stadt hineinträgt. Das Wort ist zum Ding wieder geboren, eine Weihnachtsgeschichte.
Lucies menschenerlösende Reise folgt den Spuren Peter Handkes durch Serbien, der auch den Ding-Gral suchte. Überdeutlich wirken die Pilze als glücklichere allegorische Stellvertreter, leicht verderbliche Abgesandte einer alten Zeit. Aus ihren Waldfarben soll die Sprache leuchten, das Einsame in die "Wäldersattsamkeit" eintauchen. Lucie und die Pilze sind in der Straßenbahn der "Gesprächsstoff. Endlich ein gemeinsames Thema." Handke paraphrasiert mit diesem Satz seine Definition des Poetischen als dem "Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als die einzige Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit". Die Christkindlichkeit Lucies ist das Versprechen einer atavistischen Gemeinschaftserinnerung. Die Vielstimmigkeit der Stadt, das Geschwätz der Themendissonanzen verlöscht zum einen Grundton. "Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie hatten einmal, vor sehr langer Zeit, mit diesen Sachen oder Wesen zu tun gehabt, es nur vergessen." Die grammatischen Personen, geschieden voneinander zu sozialen Monaden, sind die Leidtragenden, schemenhafte Symptome in sprachlicher Form. Ihrer Dingvergessenheit will das Märchen den einen Welttext soufflieren, der aus der Feder Handkes stammt.
So viel Absichtlichkeit verstimmt. Handkes Bericht einer Serbien-Reise war ein manchmal ungerechtes Pamphlet, dem aber für Augenblicke die Poesie gelang. Dagegen gehört es zu den Paradoxien des Märchens, dass es seine Fabulierfreiheit mit einem strengen Möglichkeitssinn verbinden muss. Figuren dürfen sich in Esel verwandeln, nicht aber über die weltverbesserische Absicht dieser Metamorphosen nachdenken. Das Pamphlet darf aussprechen, was das Märchen nicht erzählen darf. Deshalb ist seine vermeintliche Leichtigkeit der Grund seines seltenen Gelingens. Handkes Kulturkritik ist das Ende des Märchens und wird darüber selbst eines. Die Poesie ist nachtragend: Sie straft den Verächter ihrer Gesetze mit verirrten Worten.
Peter Handke: "Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 90 S., geb., 28,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Der Humor Peter Handkes, der "im Gedruckten so oft überdeckt wird", ist für Rezensent Konrad Heidkamp das Verblüffendste an der Lesung des Autors. Handkes Geschichte von Lucy, die sieben Jahre alt ist und lieber zehn wäre, ist bereits 1999 erschienen und unter anderem als "weltverbesserisches Märchen" kritisiert worden. Jetzt hat der Autor die Erlebnisse Lucys selbst gelesen und als CD veröffentlicht. Die "weiche Stimme", der "beruhigende", singende Tonfall Handkes lassen alles "zugleich real und unwirklich" werden, Ort und Zeit verschwimmen und so ein Werk entstehen, das mit einem Märchen "reichlich wenig zu tun" habe, sondern eher an "Alice im Wunderland" erinnere. Und mit dem Handke sich selbst einen Wunsch erfüllt hat. Der "Eindeutigkeit entkommen" ohne vage zu werden soll der Autor sich für einen Text gewünscht haben. Der Rezensent weiß: "Hier ist dieser Text zu hören."
© Perlentaucher Medien GmbH
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