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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wunschträume und Wunschräume einer gescheiterten Existenz: Christine Tauber besichtigt das künstlerische Universum des bayerischen Königs Ludwig II.
"Das Ideal wird und muss in das Leben treten", bestimmt 1865 ein Utopist. Sein Name: Ludwig II., seit knapp einem Jahr König von Bayern, dem nach Preußen zweitmächtigsten deutschen Staat. "Die Bauten dürfen nicht mehr stocken (...) Mein Lebensglück hängt davon ab", fleht 1886 eine gebrochene Natur. Ihr Name: Ludwig II., seit fünfzehn Jahren Monarch eines Bundesstaates des Deutschen Reiches unter preußischer Führung.
Erst recht in diesem Staat konnte Ludwig nicht der Herrscher sein, der er gerne gewesen wäre: absolut, uneingeschränkt, niemandem außer Gott gegenüber verpflichtet. Sein überdeutliches Auflehnen gegen die politische und gesellschaftliche Realität einer konstitutionellen Monarchie führte von Staats wegen zur ärztlichen Auftragsdiagnose "Paranoia". Als "Beweis" führten die Mediziner die Schlösser Linderhof, Neuschwanstein und Herrenchiemsee an, die ausschließlich ihm allein und nicht Staatshandlungen, Repräsentationsaufgaben oder gar der dynastischen Herrschaftslegitimation dienen sollten. In sie schrieb er sein Verständnis eines Königs von Gottes Gnaden ein. Diese Bauten waren trotz ihrer Rückwärtsgewandtheit zur utopischen Bühne eines absonderlichen Lebenskampfes geworden. Dies ist ein hervorragender Humus für allerlei, auch wissenschaftliche Abhandlungen.
Aktuell versucht Christine Tauber in ihrem Buch "Ludwig II." die "Rekonstruktion einer Lebensidee". Sie ist nicht die erste Kunstwissenschaftlerin, die sich dem Faszinosum des bayerischen Königs und seiner zur Architektur gewordenen Überlebensstrategie widmet. Die Annäherungen begannen bei Wilhelm Lübke und reichen über Hans Gerhard Evers zu Jörg Traeger und Michael Petzet bis hin zu einer ganzen Reihe jüngerer Kunsthistoriker. An ihnen ist auch die gewachsene Akzeptanz der "Königsschlösser" als ernst zu nehmender Forschungsgegenstand abzulesen. Tauber fügt wichtige und spannende Deutungen hinzu, die sie aus dem Utopiebegriff sowie dem Einfluss Richard Wagners und seiner kunsttheoretischen Schriften heraus entwickelt. Zwar hat bereits Verena Naegele 1995 in ihrem Werk "Parsifals Mission" das Zusammenwirken von Kunst und Politik bei Ludwig und Wagner auf Basis der Utopie beeindruckend herausgearbeitet. Christine Tauber weitet das Feld auf nahezu alle errichteten wie geplanten Bauten des Königs aus und greift auf wenig bis bisher gar nicht berücksichtigte Quellen zurück, darunter das Sanktuarium Maximilians II. in der Münchner Residenz, die Gedächtnisrede Ignaz von Döllingers auf dessen Tod und das Königsverständnis Friedrich Wilhelms IV. von Preußen.
Christine Tauber stellt nach eigener Aussage ihr Werk in die Tradition von Jacob Burckhardt. Sie wolle seinem Weg folgen, und ausschließlich über die Interpretation der originalen Quellen die Zeit und das Denken Ludwigs II. rekonstruieren. Der intensive Gebrauch von originalen Zitaten bildet in der Tat ein starkes Fundament des Buches, aus dem in vielen Fällen Folgerungen und Zusammenhänge plausibel erwachsen. Leider jedoch ist die Autorin nicht vor mancher Überinterpretation gefeit, die sich auch bei großzügigstem Auslegen eines Zitates kaum nachvollziehen lässt. Beispielsweise aus der emphatischen Äußerung des einundzwanzigjährigen Ludwig gegenüber Richard Wagner, dass die "Menschen ahnen, (...) dass die gegen Uns und Unser Werk gebrauchten Waffen am Harnische Unsres Willens, Unsrer Kraft zerschellen, dass Gottentstammtes durch Menschen nicht besiegt werden kann". Daraus einen "größenwahnsinnigen Glauben an seine übermenschliche Unverwundbarkeit" zu konstruieren, zielt am überspreizten Grundton dieser eigenartigen Beziehung des Königs zum Komponisten vorbei. Dabei weiß Christine Tauber durchaus, der bis heute in dieser Dimension einzigartigen Konstellation eines Künstlers zu einem Herrscher neue Zusammenhänge und Gedanken zu entnehmen, die lesenswert sind. Tauber schält mit Bezug auf Wagners "Kunstwerk der Zukunft" (1850) heraus, wie intensiv der König den teils kruden Gedanken und utopischen Absichten Wagners folgte und sie für sich nicht nur vereinnahmte, sondern aus der Utopie in die Realität umsetzen wollte. Damit die Kunst zum politischen Zweck werde.
Überhaupt die Politik: Die Schlösser des Königs "politisch" zu nennen ist im Hinblick auf deren bewusstes egozentrisches Ausgeschlossensein wenig glücklich gewählt. Da wäre es hilfreicher, gäbe es mehr Erläuterungen zu den staatspolitischen Gegebenheiten (Macht und Einfluss des Beamtenapparats) und zu den politischen Hauptlinien vor allem nach der Reichsgründung 1871. Dem Leser würden sich weiter die Augen öffnen, wüsste er vom Einfluss von Ludwigs selbstzerstörerischem Kampf gegen seine homophilen Neigungen auf die Schlösser und deren Ausstattung. Auch verliert sich die Autorin leider manchmal in ihrer Argumentation. Schloss Herrenchiemsee ist eben keineswegs eine "architektonisch unerschütterliche Kopie (...) nur größer und historisch authentischer", was ein Vergleich des für die Deutung des gesamten Bauwerks zentralen Paradeschlafzimmers mit dem historischen Versailler Vorbild unumwunden vor Augen führt. Die kompositorische, spielerische Aneignung von Architekturzitaten unterschiedlicher Provenienz und Zeiten durch den König außen vor zu lassen, bedeutet, der eigenen Argumentation zu Ludwigs "autokratischer Verfügungsgewalt über das Vergangene" den Boden zu entziehen.
Tauber bestätigt mit ihrer Arbeit insbesondere eines: Die Schlösser Ludwigs II. sind bei allem unverkennbaren Historismus keinesfalls die gewohnten Bauwerke des neunzehnten Jahrhunderts. Auch "Märchenschlösser" sind sie nicht. In ihnen und den zahlreichen Kleinarchitekturen begegnen uns utopische Wunsch(t)räume einer gescheiterten Existenz, die uns damit ihr intimes und zugleich erschütterndes Tagebuch hinterlassen hat.
MARCUS SPANGENBERG
Christine Tauber: "Ludwig II". Das phantastische Leben des Königs von Bayern.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 368 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
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