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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Für Mutter: Der Soziologe Dirk Kaesler erzählt eine Familiengeschichte
Der Soziologe Dirk Kaesler, emeritierter Professor der Universität Marburg, ist vor allem als Max Weber-Experte bekannt. Als er 2014 eine voluminöse Weber-Biographie vorlegte, trug diese im Untertitel neben den Attributen "Preuße" und "Denker" auch die Bezeichnung "Muttersohn". Denn Weber hatte zu Lebzeiten mit seinem autoritären Vater gebrochen. Zu einer Versöhnung war es nie gekommen. Dass Kaesler das innige Verhältnis Webers zu seiner Mutter zu einem Schwerpunkt seiner biographischen Darstellung machte, erklärt sich offenbar auch aus der eigenen Lebenserfahrung. Denn ein ähnliches Familienschicksal erzählt Kaesler nun in seiner Autobiographie mit dem sprechenden Titel "Lügen und Scham".
Auch darin fällt das Wort "Muttersohn", diesmal allerdings als Selbstbezeichnung. Kaesler wuchs ohne Vater auf, und seine Mutter hat ihn jahrelang über dessen wahre Identität belogen. Nicht nur aus Scham darüber, dass Kaesler unehelich zur Welt kam, sondern auch darüber, dass sein Vater im NS-Staat als SS-Untersturmführer im "Lebensborn" Karriere gemacht hatte. Die SS-Organisation "Lebensborn", formaljuristisch ein "eingetragener Verein", hatte Heinrich Himmler 1935 gegründet, um in vereinseigenen Heimen für Nachwuchs zu sorgen, der den nationalsozialistischen Rassevorstellungen entsprach. Der "Lebensborn" war während des Zweiten Weltkrieges aber auch für die europaweite Verschleppung von Kindern aus den von Deutschen besetzten Ländern verantwortlich, die in seinen Heimen zu "guten" Deutschen erzogen werden sollten. In den Geburtshäusern des "Lebensborns" wurden zudem werdende deutsche Mütter versorgt, vor allem solche, deren Männer selbst bei der SS waren, oder deren Kinder unehelich zur Welt kamen, um sie von einer Abtreibung abzuhalten.
Dirk Kaesler kam im Oktober 1944 im "Lebensborn"-Heim "Taunus" in Wiesbaden zur Welt. Seine Mutter war als Schreibkraft in der Münchener Zentrale des "Lebensborns" beschäftigt. Dort lernte sie den Vater Kaeslers kennen, der bereits verheiratet war und eigene Kinder hatte. Die Mutter, Jahrgang 1910, war eine der jungen "Kriegerwitwen". Ihren Ehemann Fritz Käsler hatte sie 1940 nach nur wenigen Wochen Ehe verloren. Dennoch erzählte sie ihrem Sohn Dirk, dass er sein Vater gewesen sei. Erst bei der Konfirmation im Alter von vierzehn Jahren erfährt er von ihr von seinem wirklichen Vater, der den Kontakt zu den beiden jedoch Mitte der Fünfzigerjahre abgebrochen hatte.
Mit seiner Darstellung bestätigt Kaesler den Befund einer im letzten Jahr von Dorothee Schmitz-Köster vorgelegten Untersuchung, wonach kaum einer der "Lebensborn"-Väter nach Kriegsende noch Beziehungen zu seinen Kindern pflegte (F.A.Z. vom 7. Februar). Viele dieser Kinder haben ihren Vater nie kennengelernt. Im Fall von Dirk Kaesler war das anders. Er bezeichnet es rückblickend sogar als "Glück", nicht mit seinem Vater, für den er das Pseudonym "Hubert Rolf" verwendet, aufgewachsen zu sein. Doch Kaesler beginnt sein Buch, das er ausdrücklich als "Rache" an ihm und als eine Art Wiedergutmachung für seine Mutter verstanden wissen will, mit der Schilderung einer von ihm initiierten, ja erzwungenen Begegnung mit seinem "Erzeuger" in einem Münchener Restaurant im November 1977. Es sollte das einzige Zusammentreffen von Vater und Sohn bleiben. Damals hatte sich Kaesler, inzwischen ein an der LMU München beschäftigter Soziologe und selbst Vater eines Kindes, vorgenommen, seinen Familienspuren nachzugehen. Zu seinem Vater, der zu dieser Zeit genau wie er selbst in München lebte, hatte er ein halbes Jahr zuvor brieflich Kontakt aufgenommen.
Im Frühjahr 1980 zeichnete Kaesler mehrere längere Gespräche zur Familiengeschichte mit seiner Mutter Emmi Elisabeth auf, deren Transkription zu einem großen Teil im Buch abgedruckt ist. Äußerer Impuls für diese Interviews war laut Kaesler die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie "Holocaust" im westdeutschen Fernsehen Anfang 1979. Neben der Mutter ist Kaeslers Großvater eine der dominanten Figuren in seiner autobiographischen Darstellung. Immer wieder kommt der Soziologe darauf zurück, wie sehr ihn, den "vaterlosen Jungen", der 1876 im Saalestädtchen Calbe geborene Hans Otto Paul Mahrenholz geprägt und wie schmerzlich ihn sein Tod 1962 getroffen hat. Dem "Andenken an meinen geliebten Großvater" hatte Kaesler seinerzeit auch seine große Weber-Biographie gewidmet. Wie es zu dieser Dedikation kam, klärt sich nun mit seiner Autobiographie. RENÉ SCHLOTT
Dirk Kaesler: "Lügen und Scham". Deutsche Leben.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2023. 324 S., br., 18,- Euro.
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