Sein Vater liegt im Sterben. Eilig hastet der Ich-Erzähler aus Illinois zurück nach Israel, um ihn noch einmal zu sehen, vielleicht sogar endlich die Dinge auszusprechen, über die sie seit vierzehn Jahren geschwiegen haben. Die Mutter gibt ihm den Schlüssel zum elterlichen Haus, damit er in seinem
alten Zimmer übernachten kann, doch er kann nicht zurück in das Dorf, aus dem man ihn verstoßen hat.…mehrSein Vater liegt im Sterben. Eilig hastet der Ich-Erzähler aus Illinois zurück nach Israel, um ihn noch einmal zu sehen, vielleicht sogar endlich die Dinge auszusprechen, über die sie seit vierzehn Jahren geschwiegen haben. Die Mutter gibt ihm den Schlüssel zum elterlichen Haus, damit er in seinem alten Zimmer übernachten kann, doch er kann nicht zurück in das Dorf, aus dem man ihn verstoßen hat. Erst musste er mit seiner Frau Falestin nach Jerusalem fliehen, dann sind sie nach Amerika ausgewandert, wo man ihr eine Dozentenstelle angeboten hat. Mit der Rückkehr kommen auch die Erinnerungen wieder auf, an seine Zeit als arabischer Journalist für eine hebräische Zeitung, als Ghostwriter für Autobiografien und als Schriftsteller, der eine Kurzgeschichte in einer Studentenzeitung veröffentlichte. Und das Unheil, das es damit nahm.
Sayed Kashua lebt heute in den USA, nachdem er als Kolumnist für die „Haaretz“ gearbeitete hatte und sich einen Namen als Drehbuchautor und Filmkritiker gemacht hatte. „Lügenleben“ ist das fünfte Buch des arabischstämmigen Israelis und zugleich das letzte Übersetzungswerk von Mirjam Pressler, das sie kurz vor ihrem Tod im Januar 2019 noch beendete.
Wie auch andere seiner Romane trägt auch der aktuelle Roman autobiografische Züge und thematisiert nicht nur das schwierige Verhältnis von jüdischen und arabischen Israelis miteinander, sondern auch die Familienzwänge und Traditionen, aus denen es vor allem in ländlichen Gebieten kein Entkommen zu geben scheint. Die Kinder haben sich dem Diktat der Eltern, Dorfältesten und Scheichs zu fügen – egal, ob die Urteile gerecht und richtig sind oder nicht.
Die Erinnerungen des Erzählers folgen keiner chronologischen Struktur und so bleibt lange offen, was es genau war, das zu seiner Vertreibung geführt hat. Auch das seltsame Verhältnis zu seiner Frau Falestin ist eher mysteriös denn nachvollziehbar. Sie leben in zwei Wohnungen, ein echtes Familienleben scheint es nicht zu geben. Auch die drei Kinder erhalten keine Antworten auf ihre Fragen – alles, was die Familie und die Zeit vor der Flucht aus dem Dorf betrifft, bleibt nebulös. Dabei liebt er, bewundert Falestin, aber diese weist ihn ab, akzeptiert ihn jedoch als ihren Mann. Erst nach und nach fügt sich das Bild zusammen und offenbart ein trauriges Schicksal, das man so in der Gegenwart kaum mehr glauben mag.
Ein vielschichtiger Roman, der persönliches Leid, Familie und Tradition, die politische Lage in Israel und auch Emigration und Flucht thematisiert und vor allem die innere Zerrissenheit einer ganzen Generation offenbart, die doch nur glücklich und in Sicherheit leben möchte und auf der Suche hiernach getrieben ist und weder eine klare Vergangenheit noch eine Zukunft zu haben scheint. Und es ist vor allem die Frage danach, was Wahrheit ist und was sie ausmacht und inwieweit wir uns unsere eigene Wahrheit gestalten, um uns in unserem Leben zurechtzufinden. Ein großartiger Roman, ganz sicherlich auch wegen der hervorragenden Übersetzerin.