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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Anne Becker erzählt von ungleicher Freundschaft
Matea ist eine ausgesprochen schlagfertige Person. Sie hat Witz und Biss. Wenn ihr großer Bruder behauptet: "Ich bleibe, wie ich bin", kontert sie: "Ungeduscht?" Sie kann geradezu blumig und ebenso differenziert erzählen, sie hat Phantasie. Bloß kriegt das keiner mit. Fast keiner. Nur ihre Eltern, ihr Bruder Aaron und die Leserinnen und Leser von "Luftmaschentage".
Eine Person kriegt es auch mit, sie ist sogar der Auslöser all dessen, was erzählt wird: Riccarda, kurz Ricci, die "Neue" in Mateas Klasse. Es ist ein doppelter, wenn nicht gar dreifacher erzählerischer Kniff, den die Autorin Anne Becker anwendet. Die Ich-Erzählerin dieses Romans für Leserinnen und Leser von ungefähr elf Jahren an ist nun einmal eindeutig Matea selbst. Es ist buchstäblich ihre innere Stimme.
Denn es gibt Leute, Schulkameraden, Lehrerinnen, die sie noch nie sprechen hörten. Matea kann sprechen, sie tut es dort, wo sie sich geborgen fühlt. Das ist außerhalb des Hauses selten der Fall. Nur wenige außer ihrer Familie haben ihr Schweigen durchbrochen, die alte Frau Loose zum Beispiel. Nun ist Frau Loose tot und hat Matea drei Dinge hinterlassen: Sie hat ihr Häkeln beigebracht, ihr eine ganze Kiste Wolle vererbt - und sie hat dem gar nicht so unsympathischen Monster einen Namen gegeben, das in Mateas Innerem lebt. Seither heißt "die schwabbelige Riesenkrake", die sich in Mateas Bauch auf einem Sofa räkelt, so, wie Loose es formuliert hatte, als Matea ihr gegenüber ausnahmsweise sprechen konnte: "Madame Schüchtern hast du heute wohl zu Hause gelassen."
Weil Madame Schüchtern irgendwie witzig ist, aber leider auch sehr mächtig, spricht Matea schon lange nicht mehr. Seit sie sieben ist, um genau zu sein - was mit dem Beruf als Pfarrerin ihrer Mutter sehr viel zu tun hat. Anne Becker, ausgebildete Sonderpädagogin und im Hauptberuf Förderschullehrerin, wiederholt damit in gewisser Weise ein Erfolgsmodell: Schon in ihrem 2020 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominierten ersten Roman "Die beste Bahn meines Lebens" hat sie dem 13 Jahre alten Jan ein inneres Monster gegeben, das er zähmen muss. Das Schwimmtalent Jan hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche und wird abgestempelt, Matea, wiewohl blitzgescheit, bekommt mangels mündlicher Noten nicht die gebührende Anerkennung und ist eine Außenseiterin. Bis eine noch krassere Außenseiterin in die Klasse kommt.
Becker verflicht erzählerisch zwei extrem herausfordernde Lebenslagen, die zusammen ein Gewebe bilden wie die Häkel-Kunstwerke, mit denen Matea als Guerilla-Künstlerin die Umwelt dekoriert. Ihre zarte Freundschaft unter so unterschiedlichen Voraussetzungen wird für beide etwa 13 Jahre alten Mädchen auch ein Heilungsprozess. Riccarda ist eine Herumtreiberin und klaut, nach und nach stellt sich heraus, dass sie und ihre Mutter Opfer von Männergewalt sind. Die Aura des Prekären stößt die neue Klassengemeinschaft ab, nur Matea, genannt Mats, fasst Vertrauen.
Nicht alles wird bis zum Ende aufgelöst, Becker lässt vieles offen, und der dritte Kunstgriff, kursiv gedruckte Sprachnachrichten Mateas an Riccarda, machen noch eine weitere Zeit- und Bedeutungsebene auf, die durchaus auch Verwirrung bei der Lektüre stiftet. Noch verwirrender oder nachgerade ärgerlich ist, dass auch "Luftmaschentage" nicht frei von einem Phänomen ist, das man neuerdings in vielen Kinder- und Jugendbüchern beobachten kann: Lektorierung und Korrektur scheinen keine hohe Wertschätzung mehr zu erfahren, es häufen sich orthographische und grammatikalische Fehler. In diesem Fall sind es nur wenige - aber ein "Besenstil" im Kinderbuch ist eben kein Pappenstiel. EVA-MARIA MAGEL
Anne Becker: "Luftmaschentage".
Beltz & Gelberg, Weinheim 2023. 173 S., geb., 13,- Euro. Ab 11 J.
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