Der Vergleich zwischen Großbritannien und Deutschland legt die Tiefenstrukturen beider Ordnungen offen und wendet dafür die Herrschaftstypologie von Max Weber an. Untersucht werden vor allem Organisation, Ideologie und Propaganda. Dabei fließen auch die Ergebnisse der modernen Meinungsforschung mit ein.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Luftschutz in Deutschland und Großbritannien bis 1939
Bernd Lemke: Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923 bis 1939. Zivile Kriegsvorbereitungen als Ausdruck der staats- und gesellschaftspolitischen Grundlagen von Demokratie und Diktatur. R. Oldenbourg Verlag, München 2005. 524 Seiten, 44,80 [Euro].
Mit seinen menschenmähenden Maschinengewehren und wälzenden "Tanks" markierte der Erste Weltkrieg eine neue Dimension internationaler Konflikte. Neben der komplexen Einspannung der Volkswirtschaften öffnete auch die Eroberung der Lüfte einen neuen Horizont der Kriegführung. Wer sich klarmachte, was Flugzeuge als Waffen künftig würden bewirken können, der mußte über die Bedrohung der Heimatbevölkerung nachdenken: "Es gibt für den Luftkrieg keinen Unterschied mehr zwischen Kampffeld und friedlichem Gebiet", faßte Rudolf Krohne 1928 eine Erkenntnis zusammen, die seit Anfang der zwanziger Jahre in vielen Ländern diskutiert wurde.
Die Haltung zum Luftschutz und zu zivilen Kriegsvorbereitungen lassen sich als ein Signum des Selbstverständnisses einer Gesellschaft lesen. Bernd Lemke vergleicht die vielfältigen Diskussionen und Initiativen in Deutschland und Großbritannien für die Zwischenkriegszeit und geht zugleich der Frage nach, inwieweit sich aus zivilen Kriegsvorbereitungen auch Erkenntnisse über die staats- und gesellschaftspolitischen Grundlagen von Demokratie und Diktatur ablesen lassen. Namentlich die Herrschaftstypologie Max Webers möchte Lemke für das Luftschutzthema "nutzbar" machen, wozu er die drei "Grundsatzkategorien" Organisation, Propaganda und Ideologie betrachtet. Das Ergebnis ist ambivalent: Einerseits bietet das Buch eine beeindruckende Fülle an zeitgenössischen Meinungen, Diskussionen und Details über Pläne und Aktionen zu Luftschutz und ziviler Kriegsvorbereitung auf beiden Seiten. Lemke präsentiert kenntnisreich Personen, Institutionen und Entwicklungen. Das zusammengetragene Material ist insofern hilfreich, weil es ein bislang vernachlässigtes und kaum aufsehen- erregendes Forschungsgebiet im Zwei-Länder-Vergleich abschreitet und in manchen Bereichen erst konstituiert.
Andererseits ist beim Blick auf den historischen Kontext unübersehbar, daß eine erweiterte Reflexion auf die verfügbaren Publikationen in beiden Ländern dem Werk förderlich gewesen wäre. Das gilt beispielsweise für die Herleitung des Themas in Großbritannien. Lemkes Porträt der britischen Gesellschaft vor 1918 und seine Erörterungen zu Themen wie Militär, Militarismus und Wehrhaftigkeit sind unscharf. Das gilt auch für die deutschen "Quellen". Angebliche Hitler-Äußerungen aus Hermann Rauschnings dubiosen "Gesprächen" sollte heute niemand mehr als authentisch zitieren. Für Hitlers Äußerungen vor 1933 sollten ebenso die neuesten Editionen verwendet werden wie für Zitate aus Goebbels' Tagebüchern. Diese Einwände werden verstärkt durch eine wiederholt störende Unschärfe bei Begriffen und Formulierungen. So sind militärische Tradition und Militarismus im deutsch-britischen Kontext differenziert konnotierte Termini, die entsprechend präzise erörtert werden sollten, ebenso Formulierungen wie "Systemzeit" oder "nationalsozialistisches System".
Schließlich bleibt die Frage, was der "Blickwinkel der Weberschen Typologie" für das von Lemke untersuchte Gebiet an Erkenntnisgewinn liefert. Wer das Buch liest, fragt sich regelmäßig, wie Webers Kategorien mit dem Diskurs über Luftschutz und zivile Kriegsvorbereitung sinnfällig kombinierbar sind, oder ob man zu denselben Schlüssen nicht auch ohne sie gelangt wäre. So kommt Lemke etwa zu dem wenig überraschenden Befund, daß die "organisatorische Aufbauarbeit in Großbritannien bis zum Beginn systematischer Anstrengungen in der Öffentlichkeit 1935/36 die rational-legale Herrschaftspraxis in fast reiner Form" widerspiegelte. Wenn er folgert, daß die "dauerhafte Etablierung eines Diktators und von Machtstrukturen, die Webers Definition des charismatischen Typus entsprochen hätten", in Großbritannien "in der Perspektive der zivilen Verteidigungsplanung vollkommen ausgeschlossen" gewesen sei, dann fragt sich der Leser, welche neue Erkenntnis er daraus gewinnen soll. Überrascht es, daß Menschen in parlamentarischen Demokratien vergleichsweise rational-pragmatischer handeln, weil der Meinungswettbewerb freier Individuen dies befördert?
Das Bemühen der theoretischen Überhöhung wirkt überambitioniert. Seinen Wert erhält Lemkes Buch durch die umfängliche Materialsammlung zum Zwei-Länder-Vergleich des Luftschutz-Diskurses und die Präsentation vielfältiger Positionen zur zivilen Konfliktvorbereitung, die die Zwischenkriegszeit durchzogen.
MAGNUS BRECHTKEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH